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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der Berliner Roman

Die großen kulturell-ästhetischen Gesichtspunkte, die den Viebigschen Roman
adeln und ihm wirklich die Kraft einer dichterischen Vision geben, wird man in
der übrigen Romanprodvktion der letzten Jahre leider vergeblich suchen. Die
Halbheit und neumsthenische Ratlosigkeit, an der, mehr oder weniger, unsere
ganze heutige Literatur leidet, ist dem Romantypus, an den wir hier denken,
naturgemäß nicht eben günstig gewesen. Unsere Schriftsteller gehen allem, was
auch nur entfernt an -U i^resLo-Wirkungen erinnern könnte, mit fast patho¬
logischer Angst aus dem Wege. Sie sind in der Regel viel zu sehr mit sich
selber beschäftigt, um die Dinge dieser Welt in künstlerischer Objektivität,
aus einer gewissen Distanz zu sehen. Aber aus der anderen Seite weist ihre
mehr nach innen gedrängte und mehr auf subtilere Wirkungen gestellte Kunst
hin und wieder doch eigene Klänge von großer Schönheit auf, Klänge, die das
in Rede stehende Problem, wenn auch nicht erschöpfen, so doch in seinen Um¬
rissen aufdämmern lassen. In allererster Linie muß da aus Kurt Münzers
Buch von den "Kindern der Stadt" (Berlin, Vita, Deutsches Verlagshaus)
verwiesen werden. Diese stille, feine Geschichte, in die der verworrene Lärm
der modernen Weltstadt wie fernes Orgelbrausen hineinrauscht, macht allerlei
Töne lebendig, die im Ohre hängen bleiben und den Genießenden nachdenklich
stimmen. Auch hier ist -- freilich in ganz anderer Art als bei Clara Viebig ---
der Versuch gemacht, das, was wir den Rhythmus der Großstadt nannten, im
Bilde und im dichterischen Symbol festzuhalten. Von allen Büchern, an die
wir hier denken, verdienen die "Kinder der Stadt" wohl am ersten den Titel
eines im tiefsten Sinne modernen Berliner Romans. Denn sie sehen das
Problem wirklich in seinem innersten Wesen, und sie holen mit jenem leisen ästhe¬
tischen Takte, den nur verfeinerte Nerven aufbringen, allerlei ungeahnte und
nie gehörte Melodien aus fernen Welten herauf.

Einen mit großem artistischen Können und mit viel zeichnerischer Begabung
erfaßten Ausschnitt aus der Berliner Vorstadt von heute gibt Georg Hermanns
"Kubinke" (bei Egon Fleischel u. Co.). Das Bild, das hier von einer klein¬
bürgerlichen Gegenwartswelt gemalt wird, erscheint bis in seine letzten Einzel¬
heiten gewissenhaft ausgetuscht. Die äußerlich imponierender, und doch unsagbar
nüchternen Straßenzüge und Plätze und Maurermeister-Architekturen, die die
nach Vororten wie Schöneberg und Wilmersdorf hinüberleitenden Grenzgebiete
charakterisieren; die Gegend, in der über Nacht aus öden Feldern riesige Roh¬
bauten hervorschießen; das wunderliche Zwittergeschöpf, das nicht mehr Berlin,
aber noch nicht einen selbständigen Organismus darstellt; mit einem Worte das,
was man heute die westliche Berliner Vorstadt nennen könnte -- das hat in
Georg Hermann einen gescheiten und zweifellos begabten Schilderer gefunden.
Allerlei amüsante und plastisch herausgehobene Bilderchen erstehen in diesem
Buche. Die Atmosphäre von Kleinbürgerlichkeit und billigem Protzentum. auf
die dabei alles ankommt, ist äußerst glücklich begriffen. Und das einzige, was
man gegen diesen tragikomischen Lebensroman eines Berliner Friseurgehilfen


Der Berliner Roman

Die großen kulturell-ästhetischen Gesichtspunkte, die den Viebigschen Roman
adeln und ihm wirklich die Kraft einer dichterischen Vision geben, wird man in
der übrigen Romanprodvktion der letzten Jahre leider vergeblich suchen. Die
Halbheit und neumsthenische Ratlosigkeit, an der, mehr oder weniger, unsere
ganze heutige Literatur leidet, ist dem Romantypus, an den wir hier denken,
naturgemäß nicht eben günstig gewesen. Unsere Schriftsteller gehen allem, was
auch nur entfernt an -U i^resLo-Wirkungen erinnern könnte, mit fast patho¬
logischer Angst aus dem Wege. Sie sind in der Regel viel zu sehr mit sich
selber beschäftigt, um die Dinge dieser Welt in künstlerischer Objektivität,
aus einer gewissen Distanz zu sehen. Aber aus der anderen Seite weist ihre
mehr nach innen gedrängte und mehr auf subtilere Wirkungen gestellte Kunst
hin und wieder doch eigene Klänge von großer Schönheit auf, Klänge, die das
in Rede stehende Problem, wenn auch nicht erschöpfen, so doch in seinen Um¬
rissen aufdämmern lassen. In allererster Linie muß da aus Kurt Münzers
Buch von den „Kindern der Stadt" (Berlin, Vita, Deutsches Verlagshaus)
verwiesen werden. Diese stille, feine Geschichte, in die der verworrene Lärm
der modernen Weltstadt wie fernes Orgelbrausen hineinrauscht, macht allerlei
Töne lebendig, die im Ohre hängen bleiben und den Genießenden nachdenklich
stimmen. Auch hier ist — freilich in ganz anderer Art als bei Clara Viebig —-
der Versuch gemacht, das, was wir den Rhythmus der Großstadt nannten, im
Bilde und im dichterischen Symbol festzuhalten. Von allen Büchern, an die
wir hier denken, verdienen die „Kinder der Stadt" wohl am ersten den Titel
eines im tiefsten Sinne modernen Berliner Romans. Denn sie sehen das
Problem wirklich in seinem innersten Wesen, und sie holen mit jenem leisen ästhe¬
tischen Takte, den nur verfeinerte Nerven aufbringen, allerlei ungeahnte und
nie gehörte Melodien aus fernen Welten herauf.

Einen mit großem artistischen Können und mit viel zeichnerischer Begabung
erfaßten Ausschnitt aus der Berliner Vorstadt von heute gibt Georg Hermanns
„Kubinke" (bei Egon Fleischel u. Co.). Das Bild, das hier von einer klein¬
bürgerlichen Gegenwartswelt gemalt wird, erscheint bis in seine letzten Einzel¬
heiten gewissenhaft ausgetuscht. Die äußerlich imponierender, und doch unsagbar
nüchternen Straßenzüge und Plätze und Maurermeister-Architekturen, die die
nach Vororten wie Schöneberg und Wilmersdorf hinüberleitenden Grenzgebiete
charakterisieren; die Gegend, in der über Nacht aus öden Feldern riesige Roh¬
bauten hervorschießen; das wunderliche Zwittergeschöpf, das nicht mehr Berlin,
aber noch nicht einen selbständigen Organismus darstellt; mit einem Worte das,
was man heute die westliche Berliner Vorstadt nennen könnte — das hat in
Georg Hermann einen gescheiten und zweifellos begabten Schilderer gefunden.
Allerlei amüsante und plastisch herausgehobene Bilderchen erstehen in diesem
Buche. Die Atmosphäre von Kleinbürgerlichkeit und billigem Protzentum. auf
die dabei alles ankommt, ist äußerst glücklich begriffen. Und das einzige, was
man gegen diesen tragikomischen Lebensroman eines Berliner Friseurgehilfen


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[0533] Der Berliner Roman Die großen kulturell-ästhetischen Gesichtspunkte, die den Viebigschen Roman adeln und ihm wirklich die Kraft einer dichterischen Vision geben, wird man in der übrigen Romanprodvktion der letzten Jahre leider vergeblich suchen. Die Halbheit und neumsthenische Ratlosigkeit, an der, mehr oder weniger, unsere ganze heutige Literatur leidet, ist dem Romantypus, an den wir hier denken, naturgemäß nicht eben günstig gewesen. Unsere Schriftsteller gehen allem, was auch nur entfernt an -U i^resLo-Wirkungen erinnern könnte, mit fast patho¬ logischer Angst aus dem Wege. Sie sind in der Regel viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, um die Dinge dieser Welt in künstlerischer Objektivität, aus einer gewissen Distanz zu sehen. Aber aus der anderen Seite weist ihre mehr nach innen gedrängte und mehr auf subtilere Wirkungen gestellte Kunst hin und wieder doch eigene Klänge von großer Schönheit auf, Klänge, die das in Rede stehende Problem, wenn auch nicht erschöpfen, so doch in seinen Um¬ rissen aufdämmern lassen. In allererster Linie muß da aus Kurt Münzers Buch von den „Kindern der Stadt" (Berlin, Vita, Deutsches Verlagshaus) verwiesen werden. Diese stille, feine Geschichte, in die der verworrene Lärm der modernen Weltstadt wie fernes Orgelbrausen hineinrauscht, macht allerlei Töne lebendig, die im Ohre hängen bleiben und den Genießenden nachdenklich stimmen. Auch hier ist — freilich in ganz anderer Art als bei Clara Viebig —- der Versuch gemacht, das, was wir den Rhythmus der Großstadt nannten, im Bilde und im dichterischen Symbol festzuhalten. Von allen Büchern, an die wir hier denken, verdienen die „Kinder der Stadt" wohl am ersten den Titel eines im tiefsten Sinne modernen Berliner Romans. Denn sie sehen das Problem wirklich in seinem innersten Wesen, und sie holen mit jenem leisen ästhe¬ tischen Takte, den nur verfeinerte Nerven aufbringen, allerlei ungeahnte und nie gehörte Melodien aus fernen Welten herauf. Einen mit großem artistischen Können und mit viel zeichnerischer Begabung erfaßten Ausschnitt aus der Berliner Vorstadt von heute gibt Georg Hermanns „Kubinke" (bei Egon Fleischel u. Co.). Das Bild, das hier von einer klein¬ bürgerlichen Gegenwartswelt gemalt wird, erscheint bis in seine letzten Einzel¬ heiten gewissenhaft ausgetuscht. Die äußerlich imponierender, und doch unsagbar nüchternen Straßenzüge und Plätze und Maurermeister-Architekturen, die die nach Vororten wie Schöneberg und Wilmersdorf hinüberleitenden Grenzgebiete charakterisieren; die Gegend, in der über Nacht aus öden Feldern riesige Roh¬ bauten hervorschießen; das wunderliche Zwittergeschöpf, das nicht mehr Berlin, aber noch nicht einen selbständigen Organismus darstellt; mit einem Worte das, was man heute die westliche Berliner Vorstadt nennen könnte — das hat in Georg Hermann einen gescheiten und zweifellos begabten Schilderer gefunden. Allerlei amüsante und plastisch herausgehobene Bilderchen erstehen in diesem Buche. Die Atmosphäre von Kleinbürgerlichkeit und billigem Protzentum. auf die dabei alles ankommt, ist äußerst glücklich begriffen. Und das einzige, was man gegen diesen tragikomischen Lebensroman eines Berliner Friseurgehilfen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/533>, abgerufen am 26.06.2024.