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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der Berliner Roman

charakteristisch, daß der pseudoliterarische Typus, an den wir dabei denken, mit
jedem neuen Büchermarkte wiederkehrt und auf solche Weise den reinen Begriff
des Berliner Romans zu verwirren und zu verdunkeln droht.

Das sind ganz und gar nicht die Erscheinungen, die uns in diesem Zu¬
sammenhange beschäftigen. Vielmehr haben wir es, wie oben angedeutet, hier
nur mit jener Klasse von Romanen zu tun, die das Berlin von heutzutage im
Bilde oder im Bruchteil eines Bildes wirklich zu erfassen trachten. Freilich
muß vorausgeschickt werden, daß auch für diese Bücher das Großstadtproblem
nicht immer das Entscheidende und Primäre bedeutet, wie es beispielsweise in
Max Kretzers vor fünfundzwanzig Jahren geschriebenen "Verkommenen" der
Fall war. (Übrigens mag, wer Lust hat, an diesem Buche die merkwürdig
rasche Wandlung des literarischen Zeitgeschmacks kontrollieren.) Auch sie stellen,
mehr oder weniger, allerlei menschliche Dinge, Begebenheiten und Zusammen¬
hänge manchmal recht willkürlich in eine Berliner Umgebung. Auch sie geben
fast niemals das Problem in seinen verwickelten Zusammenhängen, sondern nur in
mehr oder weniger glücklichen Einzelausschnitten. Aber sie machen dann doch den
einen oder den anderen Ton aus dem unübersehbaren Weltstadtgetriebe lebendig.
Sie haben das, was vor allen Dingen nötig ist: den Kontakt mit der Gegenwart,
mit der Realität der Erscheinungen. Und man wird ihnen, als Illustrationen
zur Zeitgeschichte, als künstlerische Deutungsversuche des riesenhaften Berlin von
heutzutage, eine tiefere ästhetische Daseinsberechtigung nicht gut abstreiten können.
Ein Blick auf einige in den letzten Jahren erschienene Bücher dieser Art mag
das erweisen. (Wobei freilich eingeschaltet werden muß, daß bei der Fülle des
Materials die nachstehende Übersicht über literarische Neuerscheinungen ganz
und gar keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen kann.)

Das zum unheimlichen Niesenorganismus anschwellende Berlin, gesehen
aus der täglich mehr bedrohten Peripherie, malt Clara Viebig in ihrem gro߬
zügig angelegten Romanwerk: "Die vor den Toren" (bei Egon Fleischel u. Co.,
Berlin). Die immer wieder erstaunliche Kraft dieser Schriftstellerin, die schon
seit ihrem Buche vom "Täglichen Brot" in der allerersten Reihe der zeit¬
genössischen Berliner Romanciers steht, hat hier ein lebensprühendes Kolossal¬
gemälde aus dem Boden gestampft, das die unruhigen Zeiten der Berliner
Gründerjahre, mit ihren Millionenbauern und Spekulanten, mit ihren unbegrenzten
Möglichkeiten und ihren zertretenen Hoffnungen, mit ihren Fieberzuständen und
mit ihrer ungesunden Rastlosigkeit in prachtvolle Linien bändigt. Das Buch
ist, wenn ich mich recht erinnere, bei seinem Erscheinen auch in den Grenzboten
ausführlich gewürdigt worden, und ich kann mich deshalb mit der Feststellung
begnügen, daß in Clara Viebigs Tempelhofer Roman die fieberhaft rasche
Entwicklung, die Berlin nach dem großen Siebziger Kriege durchgemacht hat,
in wundervoll packenden Akkorden lebendig geworden ist, und daß sich hier
aufs neue ein berufenes episches Talent bewährt hat, das den Vergleich mit
Zolaschen Büchern geradezu herausfordert.


Der Berliner Roman

charakteristisch, daß der pseudoliterarische Typus, an den wir dabei denken, mit
jedem neuen Büchermarkte wiederkehrt und auf solche Weise den reinen Begriff
des Berliner Romans zu verwirren und zu verdunkeln droht.

Das sind ganz und gar nicht die Erscheinungen, die uns in diesem Zu¬
sammenhange beschäftigen. Vielmehr haben wir es, wie oben angedeutet, hier
nur mit jener Klasse von Romanen zu tun, die das Berlin von heutzutage im
Bilde oder im Bruchteil eines Bildes wirklich zu erfassen trachten. Freilich
muß vorausgeschickt werden, daß auch für diese Bücher das Großstadtproblem
nicht immer das Entscheidende und Primäre bedeutet, wie es beispielsweise in
Max Kretzers vor fünfundzwanzig Jahren geschriebenen „Verkommenen" der
Fall war. (Übrigens mag, wer Lust hat, an diesem Buche die merkwürdig
rasche Wandlung des literarischen Zeitgeschmacks kontrollieren.) Auch sie stellen,
mehr oder weniger, allerlei menschliche Dinge, Begebenheiten und Zusammen¬
hänge manchmal recht willkürlich in eine Berliner Umgebung. Auch sie geben
fast niemals das Problem in seinen verwickelten Zusammenhängen, sondern nur in
mehr oder weniger glücklichen Einzelausschnitten. Aber sie machen dann doch den
einen oder den anderen Ton aus dem unübersehbaren Weltstadtgetriebe lebendig.
Sie haben das, was vor allen Dingen nötig ist: den Kontakt mit der Gegenwart,
mit der Realität der Erscheinungen. Und man wird ihnen, als Illustrationen
zur Zeitgeschichte, als künstlerische Deutungsversuche des riesenhaften Berlin von
heutzutage, eine tiefere ästhetische Daseinsberechtigung nicht gut abstreiten können.
Ein Blick auf einige in den letzten Jahren erschienene Bücher dieser Art mag
das erweisen. (Wobei freilich eingeschaltet werden muß, daß bei der Fülle des
Materials die nachstehende Übersicht über literarische Neuerscheinungen ganz
und gar keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen kann.)

Das zum unheimlichen Niesenorganismus anschwellende Berlin, gesehen
aus der täglich mehr bedrohten Peripherie, malt Clara Viebig in ihrem gro߬
zügig angelegten Romanwerk: „Die vor den Toren" (bei Egon Fleischel u. Co.,
Berlin). Die immer wieder erstaunliche Kraft dieser Schriftstellerin, die schon
seit ihrem Buche vom „Täglichen Brot" in der allerersten Reihe der zeit¬
genössischen Berliner Romanciers steht, hat hier ein lebensprühendes Kolossal¬
gemälde aus dem Boden gestampft, das die unruhigen Zeiten der Berliner
Gründerjahre, mit ihren Millionenbauern und Spekulanten, mit ihren unbegrenzten
Möglichkeiten und ihren zertretenen Hoffnungen, mit ihren Fieberzuständen und
mit ihrer ungesunden Rastlosigkeit in prachtvolle Linien bändigt. Das Buch
ist, wenn ich mich recht erinnere, bei seinem Erscheinen auch in den Grenzboten
ausführlich gewürdigt worden, und ich kann mich deshalb mit der Feststellung
begnügen, daß in Clara Viebigs Tempelhofer Roman die fieberhaft rasche
Entwicklung, die Berlin nach dem großen Siebziger Kriege durchgemacht hat,
in wundervoll packenden Akkorden lebendig geworden ist, und daß sich hier
aufs neue ein berufenes episches Talent bewährt hat, das den Vergleich mit
Zolaschen Büchern geradezu herausfordert.


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[0532] Der Berliner Roman charakteristisch, daß der pseudoliterarische Typus, an den wir dabei denken, mit jedem neuen Büchermarkte wiederkehrt und auf solche Weise den reinen Begriff des Berliner Romans zu verwirren und zu verdunkeln droht. Das sind ganz und gar nicht die Erscheinungen, die uns in diesem Zu¬ sammenhange beschäftigen. Vielmehr haben wir es, wie oben angedeutet, hier nur mit jener Klasse von Romanen zu tun, die das Berlin von heutzutage im Bilde oder im Bruchteil eines Bildes wirklich zu erfassen trachten. Freilich muß vorausgeschickt werden, daß auch für diese Bücher das Großstadtproblem nicht immer das Entscheidende und Primäre bedeutet, wie es beispielsweise in Max Kretzers vor fünfundzwanzig Jahren geschriebenen „Verkommenen" der Fall war. (Übrigens mag, wer Lust hat, an diesem Buche die merkwürdig rasche Wandlung des literarischen Zeitgeschmacks kontrollieren.) Auch sie stellen, mehr oder weniger, allerlei menschliche Dinge, Begebenheiten und Zusammen¬ hänge manchmal recht willkürlich in eine Berliner Umgebung. Auch sie geben fast niemals das Problem in seinen verwickelten Zusammenhängen, sondern nur in mehr oder weniger glücklichen Einzelausschnitten. Aber sie machen dann doch den einen oder den anderen Ton aus dem unübersehbaren Weltstadtgetriebe lebendig. Sie haben das, was vor allen Dingen nötig ist: den Kontakt mit der Gegenwart, mit der Realität der Erscheinungen. Und man wird ihnen, als Illustrationen zur Zeitgeschichte, als künstlerische Deutungsversuche des riesenhaften Berlin von heutzutage, eine tiefere ästhetische Daseinsberechtigung nicht gut abstreiten können. Ein Blick auf einige in den letzten Jahren erschienene Bücher dieser Art mag das erweisen. (Wobei freilich eingeschaltet werden muß, daß bei der Fülle des Materials die nachstehende Übersicht über literarische Neuerscheinungen ganz und gar keinen Anspruch auf Vollständigkeit machen kann.) Das zum unheimlichen Niesenorganismus anschwellende Berlin, gesehen aus der täglich mehr bedrohten Peripherie, malt Clara Viebig in ihrem gro߬ zügig angelegten Romanwerk: „Die vor den Toren" (bei Egon Fleischel u. Co., Berlin). Die immer wieder erstaunliche Kraft dieser Schriftstellerin, die schon seit ihrem Buche vom „Täglichen Brot" in der allerersten Reihe der zeit¬ genössischen Berliner Romanciers steht, hat hier ein lebensprühendes Kolossal¬ gemälde aus dem Boden gestampft, das die unruhigen Zeiten der Berliner Gründerjahre, mit ihren Millionenbauern und Spekulanten, mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten und ihren zertretenen Hoffnungen, mit ihren Fieberzuständen und mit ihrer ungesunden Rastlosigkeit in prachtvolle Linien bändigt. Das Buch ist, wenn ich mich recht erinnere, bei seinem Erscheinen auch in den Grenzboten ausführlich gewürdigt worden, und ich kann mich deshalb mit der Feststellung begnügen, daß in Clara Viebigs Tempelhofer Roman die fieberhaft rasche Entwicklung, die Berlin nach dem großen Siebziger Kriege durchgemacht hat, in wundervoll packenden Akkorden lebendig geworden ist, und daß sich hier aufs neue ein berufenes episches Talent bewährt hat, das den Vergleich mit Zolaschen Büchern geradezu herausfordert.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/532>, abgerufen am 28.09.2024.