Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Schaffen und Genießen

und christliche Zucht und göttlicher Wille schwebten als absolute Mächte, denen
man gemeinsam diente, über jedem Hause. Heute ist diese Anschauung für
weite Kreise zerstört. An ihrer Stelle muß aus den Kräften der Zeit Neues
geschaffen werden. Wenn aber die alte Familie auf dem Kollektivismus
beruhte, so muß sich die neue umgekehrt auf den Individualismus gründen. Zwei
selbständige und eigenartige Persönlichkeiten kommen in ihr zusammen. Ihnen
erwächst die schwere Aufgabe, aus ihren verschiedenen Individualitäten eine neue
Einheit, ein überpersönliches Ganzes zu schaffen. Das Beste aus beider Wesen
soll zusammengeschmolzen werden und daraus eine neue Lebensführung und ein
neues Lebensideal erwachsen, das nun beide als ein objektiv gegebenes, als ein
überpersönliches Gebilde empfinden, dem sie sich zu beugen haben. Denn es
wird nun zum tiefsten Sinne der Gemeinschaft: ein Leben diesem Ideal gemäß
zu führen und dieses Ideal selbst dadurch weiter auszugestalten -- eine große und
unbegrenzte Aufgabe, durch die der Lebensführung ein hinreichendes Maß von
Aktivität und Produktivität gesichert wird.

Man wird hiergegen einwenden, daß unsere Zeit kein solches Lebensideal
kennt. Tatsächlich beginnen jedoch die Anfänge eines solchen sich heute zu ent¬
wickeln, ebenso wie auf dem ganzen Gebiete der Lebensführung die Anfänge
eines neuen Stiles sich bemerkbar machen. Und beide Güter können sich
naturgemäß nur in enger Wechselwirkung miteinander weiter ausgestalten.
Gerade das moderne Lebensideal ist aber eines sehr weiten und tiefen Inhalts
fähig. Neben der Vertiefung des Bildungsideals kommt die Umbildung unserer
gesamten Moral in Betracht, insbesondere die Ausbildung des Bewußtseins
unserer öffentlichen Pflichten. Staat und Gesellschaft haben heute eine Reihe
der schwersten Aufgaben zu lösen, an denen jeder mitzuwirken berufen ist. Man
denke an die Fülle von Reformbewegungen in unserer Zeit, an die Aufgaben
sozialer Fürsorge, die dem Staat und der Gesellschaft überall obliegen, an den
Wandel unserer Anschauungen über die Aufgaben des Staates und des Be¬
amtentums. Überall ist es die Pflicht des einzelnen, nach Möglichkeit ein Ver¬
ständnis für diese Dinge zu entwickeln und an ihrer Allsgestaltung sich zu
beteiligen. Eben daraus erwächst nun auch der Gemeinsamkeit der Familie ein
ganz neuer Inhalt und Reichtum: auch ihre überpersönliche Lebensordnung
und Lebensauffassung muß sich mit allen diesen Bewegungen und Problemen
auseinandersetzen und zu ihnen Stellung nehmen. Der Mann wird natur¬
gemäß dabei zunächst der führende Teil sein, aber die Eigenart der Fran wird
ihm manches in neue Beleuchtung rücken. Und so wird auch hier aus der
Wechselwirkung der einzelnen ein neues, ein überindividuelles Ganzes erwachsen.
Voraussetzung dafür ist freilich, daß die Frau ernsthafter und tiefer, mit besserem
Verständnis für die Aufgaben der Zeit erzogen wird, als es bei unserem früheren
Mädchenschulwesen möglich war.

Diese Gestaltung des Familienlebens wird auch auf die Kinder segensreich
wirken. Sie werden dadurch der großen Gefahr entgehen, mit der heute ihre


Schaffen und Genießen

und christliche Zucht und göttlicher Wille schwebten als absolute Mächte, denen
man gemeinsam diente, über jedem Hause. Heute ist diese Anschauung für
weite Kreise zerstört. An ihrer Stelle muß aus den Kräften der Zeit Neues
geschaffen werden. Wenn aber die alte Familie auf dem Kollektivismus
beruhte, so muß sich die neue umgekehrt auf den Individualismus gründen. Zwei
selbständige und eigenartige Persönlichkeiten kommen in ihr zusammen. Ihnen
erwächst die schwere Aufgabe, aus ihren verschiedenen Individualitäten eine neue
Einheit, ein überpersönliches Ganzes zu schaffen. Das Beste aus beider Wesen
soll zusammengeschmolzen werden und daraus eine neue Lebensführung und ein
neues Lebensideal erwachsen, das nun beide als ein objektiv gegebenes, als ein
überpersönliches Gebilde empfinden, dem sie sich zu beugen haben. Denn es
wird nun zum tiefsten Sinne der Gemeinschaft: ein Leben diesem Ideal gemäß
zu führen und dieses Ideal selbst dadurch weiter auszugestalten — eine große und
unbegrenzte Aufgabe, durch die der Lebensführung ein hinreichendes Maß von
Aktivität und Produktivität gesichert wird.

Man wird hiergegen einwenden, daß unsere Zeit kein solches Lebensideal
kennt. Tatsächlich beginnen jedoch die Anfänge eines solchen sich heute zu ent¬
wickeln, ebenso wie auf dem ganzen Gebiete der Lebensführung die Anfänge
eines neuen Stiles sich bemerkbar machen. Und beide Güter können sich
naturgemäß nur in enger Wechselwirkung miteinander weiter ausgestalten.
Gerade das moderne Lebensideal ist aber eines sehr weiten und tiefen Inhalts
fähig. Neben der Vertiefung des Bildungsideals kommt die Umbildung unserer
gesamten Moral in Betracht, insbesondere die Ausbildung des Bewußtseins
unserer öffentlichen Pflichten. Staat und Gesellschaft haben heute eine Reihe
der schwersten Aufgaben zu lösen, an denen jeder mitzuwirken berufen ist. Man
denke an die Fülle von Reformbewegungen in unserer Zeit, an die Aufgaben
sozialer Fürsorge, die dem Staat und der Gesellschaft überall obliegen, an den
Wandel unserer Anschauungen über die Aufgaben des Staates und des Be¬
amtentums. Überall ist es die Pflicht des einzelnen, nach Möglichkeit ein Ver¬
ständnis für diese Dinge zu entwickeln und an ihrer Allsgestaltung sich zu
beteiligen. Eben daraus erwächst nun auch der Gemeinsamkeit der Familie ein
ganz neuer Inhalt und Reichtum: auch ihre überpersönliche Lebensordnung
und Lebensauffassung muß sich mit allen diesen Bewegungen und Problemen
auseinandersetzen und zu ihnen Stellung nehmen. Der Mann wird natur¬
gemäß dabei zunächst der führende Teil sein, aber die Eigenart der Fran wird
ihm manches in neue Beleuchtung rücken. Und so wird auch hier aus der
Wechselwirkung der einzelnen ein neues, ein überindividuelles Ganzes erwachsen.
Voraussetzung dafür ist freilich, daß die Frau ernsthafter und tiefer, mit besserem
Verständnis für die Aufgaben der Zeit erzogen wird, als es bei unserem früheren
Mädchenschulwesen möglich war.

Diese Gestaltung des Familienlebens wird auch auf die Kinder segensreich
wirken. Sie werden dadurch der großen Gefahr entgehen, mit der heute ihre


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0511" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322258"/>
            <fw type="header" place="top"> Schaffen und Genießen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2196" prev="#ID_2195"> und christliche Zucht und göttlicher Wille schwebten als absolute Mächte, denen<lb/>
man gemeinsam diente, über jedem Hause. Heute ist diese Anschauung für<lb/>
weite Kreise zerstört. An ihrer Stelle muß aus den Kräften der Zeit Neues<lb/>
geschaffen werden. Wenn aber die alte Familie auf dem Kollektivismus<lb/>
beruhte, so muß sich die neue umgekehrt auf den Individualismus gründen. Zwei<lb/>
selbständige und eigenartige Persönlichkeiten kommen in ihr zusammen. Ihnen<lb/>
erwächst die schwere Aufgabe, aus ihren verschiedenen Individualitäten eine neue<lb/>
Einheit, ein überpersönliches Ganzes zu schaffen. Das Beste aus beider Wesen<lb/>
soll zusammengeschmolzen werden und daraus eine neue Lebensführung und ein<lb/>
neues Lebensideal erwachsen, das nun beide als ein objektiv gegebenes, als ein<lb/>
überpersönliches Gebilde empfinden, dem sie sich zu beugen haben. Denn es<lb/>
wird nun zum tiefsten Sinne der Gemeinschaft: ein Leben diesem Ideal gemäß<lb/>
zu führen und dieses Ideal selbst dadurch weiter auszugestalten &#x2014; eine große und<lb/>
unbegrenzte Aufgabe, durch die der Lebensführung ein hinreichendes Maß von<lb/>
Aktivität und Produktivität gesichert wird.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2197"> Man wird hiergegen einwenden, daß unsere Zeit kein solches Lebensideal<lb/>
kennt. Tatsächlich beginnen jedoch die Anfänge eines solchen sich heute zu ent¬<lb/>
wickeln, ebenso wie auf dem ganzen Gebiete der Lebensführung die Anfänge<lb/>
eines neuen Stiles sich bemerkbar machen. Und beide Güter können sich<lb/>
naturgemäß nur in enger Wechselwirkung miteinander weiter ausgestalten.<lb/>
Gerade das moderne Lebensideal ist aber eines sehr weiten und tiefen Inhalts<lb/>
fähig. Neben der Vertiefung des Bildungsideals kommt die Umbildung unserer<lb/>
gesamten Moral in Betracht, insbesondere die Ausbildung des Bewußtseins<lb/>
unserer öffentlichen Pflichten. Staat und Gesellschaft haben heute eine Reihe<lb/>
der schwersten Aufgaben zu lösen, an denen jeder mitzuwirken berufen ist. Man<lb/>
denke an die Fülle von Reformbewegungen in unserer Zeit, an die Aufgaben<lb/>
sozialer Fürsorge, die dem Staat und der Gesellschaft überall obliegen, an den<lb/>
Wandel unserer Anschauungen über die Aufgaben des Staates und des Be¬<lb/>
amtentums. Überall ist es die Pflicht des einzelnen, nach Möglichkeit ein Ver¬<lb/>
ständnis für diese Dinge zu entwickeln und an ihrer Allsgestaltung sich zu<lb/>
beteiligen. Eben daraus erwächst nun auch der Gemeinsamkeit der Familie ein<lb/>
ganz neuer Inhalt und Reichtum: auch ihre überpersönliche Lebensordnung<lb/>
und Lebensauffassung muß sich mit allen diesen Bewegungen und Problemen<lb/>
auseinandersetzen und zu ihnen Stellung nehmen. Der Mann wird natur¬<lb/>
gemäß dabei zunächst der führende Teil sein, aber die Eigenart der Fran wird<lb/>
ihm manches in neue Beleuchtung rücken. Und so wird auch hier aus der<lb/>
Wechselwirkung der einzelnen ein neues, ein überindividuelles Ganzes erwachsen.<lb/>
Voraussetzung dafür ist freilich, daß die Frau ernsthafter und tiefer, mit besserem<lb/>
Verständnis für die Aufgaben der Zeit erzogen wird, als es bei unserem früheren<lb/>
Mädchenschulwesen möglich war.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2198" next="#ID_2199"> Diese Gestaltung des Familienlebens wird auch auf die Kinder segensreich<lb/>
wirken.  Sie werden dadurch der großen Gefahr entgehen, mit der heute ihre</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0511] Schaffen und Genießen und christliche Zucht und göttlicher Wille schwebten als absolute Mächte, denen man gemeinsam diente, über jedem Hause. Heute ist diese Anschauung für weite Kreise zerstört. An ihrer Stelle muß aus den Kräften der Zeit Neues geschaffen werden. Wenn aber die alte Familie auf dem Kollektivismus beruhte, so muß sich die neue umgekehrt auf den Individualismus gründen. Zwei selbständige und eigenartige Persönlichkeiten kommen in ihr zusammen. Ihnen erwächst die schwere Aufgabe, aus ihren verschiedenen Individualitäten eine neue Einheit, ein überpersönliches Ganzes zu schaffen. Das Beste aus beider Wesen soll zusammengeschmolzen werden und daraus eine neue Lebensführung und ein neues Lebensideal erwachsen, das nun beide als ein objektiv gegebenes, als ein überpersönliches Gebilde empfinden, dem sie sich zu beugen haben. Denn es wird nun zum tiefsten Sinne der Gemeinschaft: ein Leben diesem Ideal gemäß zu führen und dieses Ideal selbst dadurch weiter auszugestalten — eine große und unbegrenzte Aufgabe, durch die der Lebensführung ein hinreichendes Maß von Aktivität und Produktivität gesichert wird. Man wird hiergegen einwenden, daß unsere Zeit kein solches Lebensideal kennt. Tatsächlich beginnen jedoch die Anfänge eines solchen sich heute zu ent¬ wickeln, ebenso wie auf dem ganzen Gebiete der Lebensführung die Anfänge eines neuen Stiles sich bemerkbar machen. Und beide Güter können sich naturgemäß nur in enger Wechselwirkung miteinander weiter ausgestalten. Gerade das moderne Lebensideal ist aber eines sehr weiten und tiefen Inhalts fähig. Neben der Vertiefung des Bildungsideals kommt die Umbildung unserer gesamten Moral in Betracht, insbesondere die Ausbildung des Bewußtseins unserer öffentlichen Pflichten. Staat und Gesellschaft haben heute eine Reihe der schwersten Aufgaben zu lösen, an denen jeder mitzuwirken berufen ist. Man denke an die Fülle von Reformbewegungen in unserer Zeit, an die Aufgaben sozialer Fürsorge, die dem Staat und der Gesellschaft überall obliegen, an den Wandel unserer Anschauungen über die Aufgaben des Staates und des Be¬ amtentums. Überall ist es die Pflicht des einzelnen, nach Möglichkeit ein Ver¬ ständnis für diese Dinge zu entwickeln und an ihrer Allsgestaltung sich zu beteiligen. Eben daraus erwächst nun auch der Gemeinsamkeit der Familie ein ganz neuer Inhalt und Reichtum: auch ihre überpersönliche Lebensordnung und Lebensauffassung muß sich mit allen diesen Bewegungen und Problemen auseinandersetzen und zu ihnen Stellung nehmen. Der Mann wird natur¬ gemäß dabei zunächst der führende Teil sein, aber die Eigenart der Fran wird ihm manches in neue Beleuchtung rücken. Und so wird auch hier aus der Wechselwirkung der einzelnen ein neues, ein überindividuelles Ganzes erwachsen. Voraussetzung dafür ist freilich, daß die Frau ernsthafter und tiefer, mit besserem Verständnis für die Aufgaben der Zeit erzogen wird, als es bei unserem früheren Mädchenschulwesen möglich war. Diese Gestaltung des Familienlebens wird auch auf die Kinder segensreich wirken. Sie werden dadurch der großen Gefahr entgehen, mit der heute ihre

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/511
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/511>, abgerufen am 02.10.2024.