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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schaffen und Genießen

erfassen, bedarf es zunächst der Vorbereitung. Abgesehen von den neuerdings
anscheinend zunehmenden Studienreisen, bei denen für diese ein besonderer
Unterricht sorgt, ist hierfür wiederum eine Reform der einschlägigen Reise¬
literatur erforderlich. Die gewöhnlichen Reisehandbücher stehen auf dem Niveau
der bloßen Kuriositätensammlung, und die großen geographischen Handbücher
sind dem Reisezweck nicht genügend angepaßt. Vereinzelte Anfänge der neuen
Literaturgattung sind bereits vorhanden; es handelt sich dabei, könnte man
sagen, um eine Art von wissenschaftlichem Bädeker -- um Bücher, die uns
darüber aufklären, was der gebildete und interessierte Laie auf dem Gebiete der
Landschaft, der Bevölkerung und ihrer Kultur, der Geschichte und der Kunst zu
beobachten und zu verarbeiten vermag. Der Beobachtung während der Eisen-
bahnfahrt selbst können die bekannten Hefte "Rechts und links von der Eisen¬
bahn" dienen. Sie scheinen wenig Zuspruch zu finden, vielleicht zum Teil,
weil ihr Ton etwas trocken ist. Jedenfalls gestatten sie, auch die Hin- und
Herreise zu einem Erlebnis zu gestalten. Natürlich wird man sich an der Hand
solcher Einführungen dann einen festen Plan machen, der sich den Stoff noch
persönlichen Gesichtspunkten auswählt und dabei der Forderung nach innerer
Einheit genügende Rechnung trügt. Ebenso wesentlich ist für eine wirkliche
Verarbeitung das Tempo. Das heutige Automobiltempo liebt die Eindrücke in
solcher Weise zu häufen, daß sie sich gegenseitig auslöschen und die Aufsassungs-
tätigkeit bald lähmen. Auch hier gilt der Satz, daß der äußere Reichtum oft
der Gegensatz des inneren ist. Eine kleine Auswahl in einem Museum, sagten
wir schon oben, bildet viel mehr als ein Abstreifen aller Säle. Aber nicht nur
der einzelne Eindruck verlangt nach einer gewissen Ruhe und Langsamkeit, um
wirklich innerlich erfaßt zu werden; auch größere Ruhepausen sind nötig, damit
die gewonnenen Eindrücke nun weiter bewußt oder unbewußt verarbeitet werden
und sich miteinander und mit dem ganzen Bewußtsein verbinden.


IV.

Auch unser Gefühlsverhältnis zur Natur auf Reisen bedarf der Ver¬
edlung. Zunächst handelt es sich darum, zu der Natur wirklich in ein
inneres Verhältnis zu treten, ihre Stimmungen zu erleben, in ihre Seele sich
einzufühlen. Vorbedingung ist auch hierfür wieder die Einhaltung eines gewissen
Tempos. Wer sich drei Tage im Engadin, drei Tage an den oberitalienischen
Seen und drei Tage am Bodensee aufhält, der zerstört jedesmal die eben auf¬
genommenen Eindrücke durch die folgenden. Wer beim Besuch Brügges nur
einen Schnellzug überschlägt, dem wird sich die träumerische Melancholie dieser
Stadt, der Reiz ihrer versunkenen Größe nicht offenbaren. Ferner spricht die
Natur zu uns nur im Zustand der Ruhe: vor den Klängen der Kurkapelle
entweichen Tritonen und Nereiden; und wer im dunkeln Tann das Automobil
schnaufen hört, der wird das Einhorn nicht schauen. Ebenso wesentlich ist
aber auch die innere Ruhe, die innere Einstellung auf die neue Welt, in der


Schaffen und Genießen

erfassen, bedarf es zunächst der Vorbereitung. Abgesehen von den neuerdings
anscheinend zunehmenden Studienreisen, bei denen für diese ein besonderer
Unterricht sorgt, ist hierfür wiederum eine Reform der einschlägigen Reise¬
literatur erforderlich. Die gewöhnlichen Reisehandbücher stehen auf dem Niveau
der bloßen Kuriositätensammlung, und die großen geographischen Handbücher
sind dem Reisezweck nicht genügend angepaßt. Vereinzelte Anfänge der neuen
Literaturgattung sind bereits vorhanden; es handelt sich dabei, könnte man
sagen, um eine Art von wissenschaftlichem Bädeker — um Bücher, die uns
darüber aufklären, was der gebildete und interessierte Laie auf dem Gebiete der
Landschaft, der Bevölkerung und ihrer Kultur, der Geschichte und der Kunst zu
beobachten und zu verarbeiten vermag. Der Beobachtung während der Eisen-
bahnfahrt selbst können die bekannten Hefte „Rechts und links von der Eisen¬
bahn" dienen. Sie scheinen wenig Zuspruch zu finden, vielleicht zum Teil,
weil ihr Ton etwas trocken ist. Jedenfalls gestatten sie, auch die Hin- und
Herreise zu einem Erlebnis zu gestalten. Natürlich wird man sich an der Hand
solcher Einführungen dann einen festen Plan machen, der sich den Stoff noch
persönlichen Gesichtspunkten auswählt und dabei der Forderung nach innerer
Einheit genügende Rechnung trügt. Ebenso wesentlich ist für eine wirkliche
Verarbeitung das Tempo. Das heutige Automobiltempo liebt die Eindrücke in
solcher Weise zu häufen, daß sie sich gegenseitig auslöschen und die Aufsassungs-
tätigkeit bald lähmen. Auch hier gilt der Satz, daß der äußere Reichtum oft
der Gegensatz des inneren ist. Eine kleine Auswahl in einem Museum, sagten
wir schon oben, bildet viel mehr als ein Abstreifen aller Säle. Aber nicht nur
der einzelne Eindruck verlangt nach einer gewissen Ruhe und Langsamkeit, um
wirklich innerlich erfaßt zu werden; auch größere Ruhepausen sind nötig, damit
die gewonnenen Eindrücke nun weiter bewußt oder unbewußt verarbeitet werden
und sich miteinander und mit dem ganzen Bewußtsein verbinden.


IV.

Auch unser Gefühlsverhältnis zur Natur auf Reisen bedarf der Ver¬
edlung. Zunächst handelt es sich darum, zu der Natur wirklich in ein
inneres Verhältnis zu treten, ihre Stimmungen zu erleben, in ihre Seele sich
einzufühlen. Vorbedingung ist auch hierfür wieder die Einhaltung eines gewissen
Tempos. Wer sich drei Tage im Engadin, drei Tage an den oberitalienischen
Seen und drei Tage am Bodensee aufhält, der zerstört jedesmal die eben auf¬
genommenen Eindrücke durch die folgenden. Wer beim Besuch Brügges nur
einen Schnellzug überschlägt, dem wird sich die träumerische Melancholie dieser
Stadt, der Reiz ihrer versunkenen Größe nicht offenbaren. Ferner spricht die
Natur zu uns nur im Zustand der Ruhe: vor den Klängen der Kurkapelle
entweichen Tritonen und Nereiden; und wer im dunkeln Tann das Automobil
schnaufen hört, der wird das Einhorn nicht schauen. Ebenso wesentlich ist
aber auch die innere Ruhe, die innere Einstellung auf die neue Welt, in der


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[0507] Schaffen und Genießen erfassen, bedarf es zunächst der Vorbereitung. Abgesehen von den neuerdings anscheinend zunehmenden Studienreisen, bei denen für diese ein besonderer Unterricht sorgt, ist hierfür wiederum eine Reform der einschlägigen Reise¬ literatur erforderlich. Die gewöhnlichen Reisehandbücher stehen auf dem Niveau der bloßen Kuriositätensammlung, und die großen geographischen Handbücher sind dem Reisezweck nicht genügend angepaßt. Vereinzelte Anfänge der neuen Literaturgattung sind bereits vorhanden; es handelt sich dabei, könnte man sagen, um eine Art von wissenschaftlichem Bädeker — um Bücher, die uns darüber aufklären, was der gebildete und interessierte Laie auf dem Gebiete der Landschaft, der Bevölkerung und ihrer Kultur, der Geschichte und der Kunst zu beobachten und zu verarbeiten vermag. Der Beobachtung während der Eisen- bahnfahrt selbst können die bekannten Hefte „Rechts und links von der Eisen¬ bahn" dienen. Sie scheinen wenig Zuspruch zu finden, vielleicht zum Teil, weil ihr Ton etwas trocken ist. Jedenfalls gestatten sie, auch die Hin- und Herreise zu einem Erlebnis zu gestalten. Natürlich wird man sich an der Hand solcher Einführungen dann einen festen Plan machen, der sich den Stoff noch persönlichen Gesichtspunkten auswählt und dabei der Forderung nach innerer Einheit genügende Rechnung trügt. Ebenso wesentlich ist für eine wirkliche Verarbeitung das Tempo. Das heutige Automobiltempo liebt die Eindrücke in solcher Weise zu häufen, daß sie sich gegenseitig auslöschen und die Aufsassungs- tätigkeit bald lähmen. Auch hier gilt der Satz, daß der äußere Reichtum oft der Gegensatz des inneren ist. Eine kleine Auswahl in einem Museum, sagten wir schon oben, bildet viel mehr als ein Abstreifen aller Säle. Aber nicht nur der einzelne Eindruck verlangt nach einer gewissen Ruhe und Langsamkeit, um wirklich innerlich erfaßt zu werden; auch größere Ruhepausen sind nötig, damit die gewonnenen Eindrücke nun weiter bewußt oder unbewußt verarbeitet werden und sich miteinander und mit dem ganzen Bewußtsein verbinden. IV. Auch unser Gefühlsverhältnis zur Natur auf Reisen bedarf der Ver¬ edlung. Zunächst handelt es sich darum, zu der Natur wirklich in ein inneres Verhältnis zu treten, ihre Stimmungen zu erleben, in ihre Seele sich einzufühlen. Vorbedingung ist auch hierfür wieder die Einhaltung eines gewissen Tempos. Wer sich drei Tage im Engadin, drei Tage an den oberitalienischen Seen und drei Tage am Bodensee aufhält, der zerstört jedesmal die eben auf¬ genommenen Eindrücke durch die folgenden. Wer beim Besuch Brügges nur einen Schnellzug überschlägt, dem wird sich die träumerische Melancholie dieser Stadt, der Reiz ihrer versunkenen Größe nicht offenbaren. Ferner spricht die Natur zu uns nur im Zustand der Ruhe: vor den Klängen der Kurkapelle entweichen Tritonen und Nereiden; und wer im dunkeln Tann das Automobil schnaufen hört, der wird das Einhorn nicht schauen. Ebenso wesentlich ist aber auch die innere Ruhe, die innere Einstellung auf die neue Welt, in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/507>, abgerufen am 24.08.2024.