Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.Schaffen und Genießen Am stärksten aber klafft die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit bei unserem Die Forderung des Zusammenhanges läßt sich, wie eben schon angedeutet, Schaffen und Genießen Am stärksten aber klafft die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit bei unserem Die Forderung des Zusammenhanges läßt sich, wie eben schon angedeutet, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0504" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322251"/> <fw type="header" place="top"> Schaffen und Genießen</fw><lb/> <p xml:id="ID_2179" prev="#ID_2178"> Am stärksten aber klafft die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit bei unserem<lb/> sogenannten Kunstgenuß, bei dem das Durcheinander der verschiedenen Völker,<lb/> Zeitalter und Stile ohne jede einschlägige Vorbildung eine wirkliche Verarbeitung<lb/> in der Regel völlig unmöglich macht. Für die meisten Menschen ist die Be¬<lb/> schränkung auf einen Teil des riesenhaften Stoffes unerläßliche Vorbedingung.<lb/> Wer reist, wird im allgemeinen gut tun sich auf eine geringere Anzahl von<lb/> Meistern und Schulen zu beschränken. Wer auf das Museum seines Ortes<lb/> augewiesen ist, wird ebenfalls besser tun, an der Hand einer guten gedruckten<lb/> oder mündlichen Einführung sich auf wenige Bilder eines oder einiger Meister<lb/> zu beschränken und diese wiederholt durchzuarbeiten, als wahllos alles zu er¬<lb/> ledigen. Vor allem aber soll er im Kupferstichkabinett ein häufiger Gast sein<lb/> und sich wiederum an der Hand von Führern in wenige oder einen einzelnen<lb/> Meister vertiefen. Erwerb und Benutzung theoretischer Kenntnisse ist unent¬<lb/> behrlich; mit ihrer Hilfe wird er nach drei Richtungen hin den erforderlichen<lb/> Zusammenhang herstellen können. Erstens handelt es sich darum sich die<lb/> historische Stellung der einzelnen Künstler klarzumachen. Eine Würdigung ihrer<lb/> Werke ist ohnedies vom heutigen Standpunkte oft ausgeschlossen. Insbesondere<lb/> ist das Einleben und Einfühlen in den ganzen Geist der Kunstrichtung erforderlich,<lb/> wenn es sich um entferntere Zeiten oder fremde Völker handelt: ein wirkliches<lb/> Verständnis, ein ästhetisches Nacherleben ist hier ohne theoretische Stütze aus¬<lb/> geschlossen. Wesentlich ist zweitens eine elementare Kenntnis der einschlägigen<lb/> Technik. Denn das Verständnis für sie schärft den Blick, gibt uns Anregungen<lb/> für eine bestimmte Auffassung und eröffnet uns Einsichten in das Ziel, das<lb/> der Künstler verfolgt hat und die Mittel, die er dazu gewählt hat. Die dritte<lb/> Aufgabe besteht dann in dem Erfassen der Persönlichkeit des Künstlers. Hier¬<lb/> durch erschließt sich eine Fülle von neuen Beziehungen zwischen den einzelnen<lb/> Kunstwerken und eröffnen sich eine Reihe neuer Gesichtspunkte sür ihre Auf¬<lb/> fassung. Erst wo diese Arbeiten geleistet sind, ist ein tieferes Eindringen in<lb/> die Kunstschöpfungen möglich; erst jetzt kann man ihren Inhalt wirklich erleben,<lb/> erst so wird die Betrachtung des einzelnen Kunstwerkes zu einem Gewinn, zu<lb/> einer Bereicherung für das ganze Seelenleben.</p><lb/> <p xml:id="ID_2180" next="#ID_2181"> Die Forderung des Zusammenhanges läßt sich, wie eben schon angedeutet,<lb/> voll verwirklichen nur in Verbindung mit einer dritten Forderung, nämlich der¬<lb/> jenigen, einer individuellen Auswahl aus der Fülle des Stoffes. Gerade<lb/> hier haben wir am meisten gegen ein eingewurzeltes Vorurteil anzukämpfen. Die<lb/> populäre Meinung geht immer noch dahin, der Gehalt der allgemeinen Bildung<lb/> sei wenigstens innerhalb derselben Bildungsschichten für alle Menschen derselbe<lb/> und dulde keine Ausnahmen und Auslassungen. Und doch liegen die Dinge hier<lb/> ganz anders als bei der Wissenschaft und dem beruflichen Können: dort ist<lb/> innerhalb des einmal gewählten Feldes relative Vollständigkeit unentbehrlich,<lb/> hier, wo der Schwerpunkt nicht auf der Sache, sondern auf der Person liegt,<lb/> ist sie nicht nur zwecklos, sondern schädlich. Denn jeder Reiz, dem sich unser</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0504]
Schaffen und Genießen
Am stärksten aber klafft die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit bei unserem
sogenannten Kunstgenuß, bei dem das Durcheinander der verschiedenen Völker,
Zeitalter und Stile ohne jede einschlägige Vorbildung eine wirkliche Verarbeitung
in der Regel völlig unmöglich macht. Für die meisten Menschen ist die Be¬
schränkung auf einen Teil des riesenhaften Stoffes unerläßliche Vorbedingung.
Wer reist, wird im allgemeinen gut tun sich auf eine geringere Anzahl von
Meistern und Schulen zu beschränken. Wer auf das Museum seines Ortes
augewiesen ist, wird ebenfalls besser tun, an der Hand einer guten gedruckten
oder mündlichen Einführung sich auf wenige Bilder eines oder einiger Meister
zu beschränken und diese wiederholt durchzuarbeiten, als wahllos alles zu er¬
ledigen. Vor allem aber soll er im Kupferstichkabinett ein häufiger Gast sein
und sich wiederum an der Hand von Führern in wenige oder einen einzelnen
Meister vertiefen. Erwerb und Benutzung theoretischer Kenntnisse ist unent¬
behrlich; mit ihrer Hilfe wird er nach drei Richtungen hin den erforderlichen
Zusammenhang herstellen können. Erstens handelt es sich darum sich die
historische Stellung der einzelnen Künstler klarzumachen. Eine Würdigung ihrer
Werke ist ohnedies vom heutigen Standpunkte oft ausgeschlossen. Insbesondere
ist das Einleben und Einfühlen in den ganzen Geist der Kunstrichtung erforderlich,
wenn es sich um entferntere Zeiten oder fremde Völker handelt: ein wirkliches
Verständnis, ein ästhetisches Nacherleben ist hier ohne theoretische Stütze aus¬
geschlossen. Wesentlich ist zweitens eine elementare Kenntnis der einschlägigen
Technik. Denn das Verständnis für sie schärft den Blick, gibt uns Anregungen
für eine bestimmte Auffassung und eröffnet uns Einsichten in das Ziel, das
der Künstler verfolgt hat und die Mittel, die er dazu gewählt hat. Die dritte
Aufgabe besteht dann in dem Erfassen der Persönlichkeit des Künstlers. Hier¬
durch erschließt sich eine Fülle von neuen Beziehungen zwischen den einzelnen
Kunstwerken und eröffnen sich eine Reihe neuer Gesichtspunkte sür ihre Auf¬
fassung. Erst wo diese Arbeiten geleistet sind, ist ein tieferes Eindringen in
die Kunstschöpfungen möglich; erst jetzt kann man ihren Inhalt wirklich erleben,
erst so wird die Betrachtung des einzelnen Kunstwerkes zu einem Gewinn, zu
einer Bereicherung für das ganze Seelenleben.
Die Forderung des Zusammenhanges läßt sich, wie eben schon angedeutet,
voll verwirklichen nur in Verbindung mit einer dritten Forderung, nämlich der¬
jenigen, einer individuellen Auswahl aus der Fülle des Stoffes. Gerade
hier haben wir am meisten gegen ein eingewurzeltes Vorurteil anzukämpfen. Die
populäre Meinung geht immer noch dahin, der Gehalt der allgemeinen Bildung
sei wenigstens innerhalb derselben Bildungsschichten für alle Menschen derselbe
und dulde keine Ausnahmen und Auslassungen. Und doch liegen die Dinge hier
ganz anders als bei der Wissenschaft und dem beruflichen Können: dort ist
innerhalb des einmal gewählten Feldes relative Vollständigkeit unentbehrlich,
hier, wo der Schwerpunkt nicht auf der Sache, sondern auf der Person liegt,
ist sie nicht nur zwecklos, sondern schädlich. Denn jeder Reiz, dem sich unser
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