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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schaffen "ut Genießen

In unserem Schulwesen ist die Förderung der Aktivität im Prinzip wohl
von jeher anerkannt worden; zu seiner Verwirklichung kann jedoch noch unendlich
viel geschehen. Die amerikanischen Anstalten sind uns in dieser Beziehung vielfach
überlegen, indem sie z, B. dem Laboratorimnsbetrieb an den Mittelschulen eine
viel größere Rolle einräumen oder beim geometrischen Unterricht etwa ein halbes
Dutzend Schüler gleichzeitig an ebensovielen Tafeln eine Konstruktion durch¬
führen lassen. Daß das Zeichnen die Aktivität im naturkundlichen Unterricht
begünstigt, hat man ebenfalls seit einiger Zeit erkannt. Für die Geographie
spielt die Beschäftigung mit der Landkarte eine ähnliche Rolle. Ebenso wirkt
es natürlich fördernd, wenn man z. B. in der Mathematik möglichst viel Auf¬
gaben und zwar von jedem einzelnen Schüler individuell lösen läßt, wenn man
fortgesetzt fragt und jede andauernde Konzentration auf einen einzelnen Schüler
z. B. beim Übersetzen vermeidet. -- Vorträge für Erwachsene sollten nach Mög¬
lichkeit stets mit Übungen verbunden werden, eine Forderung, die durchaus im
Sinne der Kunstbewegung liegt. Dazu stimmt, daß an unseren Hochschulen die
Übungen gegenüber den Vorlesungen zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Schwieriger ist es, die private Lektüre des einzelnen Erwachsenen aktiv zu
gestalten. Nach Möglichkeit sollte auch hier jeder mit bestimmten Fragestellungen,
mit bestimmten Erwartungen und Gesichtspunkten an seinen Stoff herantreten
und auf diese Weise die Lektüre zu einer Art Dialog zwischen Leser und Autor
gestalten.

Die zweite Forderung bei der Betätigung der Bildungsinteressen lautet für
uns: Wahrung des Zusammenhanges. Damit ist es h ente im allgemeinen
recht mangelhaft bestellt, am schlimmsten bei der allgemein verbreiteten
Zeitungslektüre, bei der Dutzende heterogener Stoffe in einer halben Stunde
den Kopf durchjagen, von denen mindestens die Hälfte unmittelbar in der
Seele verklingt, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ein Zusammenhang sollte
angestrebt werden in doppeltem Sinne: einerseits ein solcher zwischen den ver¬
schiedenen Eindrücken, anderseits ein solcher zwischen ihnen und der ganzen
Persönlichkeit. Für die Tagespresse ist dazu die Entwicklung einer eigenen
neuen Art von Journalistik erforderlich, zu der Ansätze bereits vorhanden sind:
einer solchen, die zwischen Zeitung und Wochen- oder Monatsschrift gewisser¬
maßen die Mitte hält, neben der Politik alle Zweige der Kulturbewegung
verfolgt und dabei den Ereignissen in einem solchen Abstände folgt, daß sie die
Spreu von: Weizen zu sondern und ihre Mitteilungen mit verständnisfördernden
Orientierungen einzuleiten vermag. Unserer Schule muß man nachsagen, daß
sie die Forderung der Konzentration im Prinzip stets vertreten hat. Viel
schlimmer steht es mit unserem Vortragswesen: in welcher chaotischen Weise es
seinen Stoff über die Hörer cinsschüttet, das sahen wir schon oben. Zum
Teil kann man das Übel hier bereits durch das eben angedeutete Verfahren über¬
winden, sich dem Stoffe mit festen Fragen und Gesichtspunkten zu nähern;
schon dadurch wird dieser mit der ganzen Persönlichkeit in Verbindung gebracht.


Schaffen »ut Genießen

In unserem Schulwesen ist die Förderung der Aktivität im Prinzip wohl
von jeher anerkannt worden; zu seiner Verwirklichung kann jedoch noch unendlich
viel geschehen. Die amerikanischen Anstalten sind uns in dieser Beziehung vielfach
überlegen, indem sie z, B. dem Laboratorimnsbetrieb an den Mittelschulen eine
viel größere Rolle einräumen oder beim geometrischen Unterricht etwa ein halbes
Dutzend Schüler gleichzeitig an ebensovielen Tafeln eine Konstruktion durch¬
führen lassen. Daß das Zeichnen die Aktivität im naturkundlichen Unterricht
begünstigt, hat man ebenfalls seit einiger Zeit erkannt. Für die Geographie
spielt die Beschäftigung mit der Landkarte eine ähnliche Rolle. Ebenso wirkt
es natürlich fördernd, wenn man z. B. in der Mathematik möglichst viel Auf¬
gaben und zwar von jedem einzelnen Schüler individuell lösen läßt, wenn man
fortgesetzt fragt und jede andauernde Konzentration auf einen einzelnen Schüler
z. B. beim Übersetzen vermeidet. — Vorträge für Erwachsene sollten nach Mög¬
lichkeit stets mit Übungen verbunden werden, eine Forderung, die durchaus im
Sinne der Kunstbewegung liegt. Dazu stimmt, daß an unseren Hochschulen die
Übungen gegenüber den Vorlesungen zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Schwieriger ist es, die private Lektüre des einzelnen Erwachsenen aktiv zu
gestalten. Nach Möglichkeit sollte auch hier jeder mit bestimmten Fragestellungen,
mit bestimmten Erwartungen und Gesichtspunkten an seinen Stoff herantreten
und auf diese Weise die Lektüre zu einer Art Dialog zwischen Leser und Autor
gestalten.

Die zweite Forderung bei der Betätigung der Bildungsinteressen lautet für
uns: Wahrung des Zusammenhanges. Damit ist es h ente im allgemeinen
recht mangelhaft bestellt, am schlimmsten bei der allgemein verbreiteten
Zeitungslektüre, bei der Dutzende heterogener Stoffe in einer halben Stunde
den Kopf durchjagen, von denen mindestens die Hälfte unmittelbar in der
Seele verklingt, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ein Zusammenhang sollte
angestrebt werden in doppeltem Sinne: einerseits ein solcher zwischen den ver¬
schiedenen Eindrücken, anderseits ein solcher zwischen ihnen und der ganzen
Persönlichkeit. Für die Tagespresse ist dazu die Entwicklung einer eigenen
neuen Art von Journalistik erforderlich, zu der Ansätze bereits vorhanden sind:
einer solchen, die zwischen Zeitung und Wochen- oder Monatsschrift gewisser¬
maßen die Mitte hält, neben der Politik alle Zweige der Kulturbewegung
verfolgt und dabei den Ereignissen in einem solchen Abstände folgt, daß sie die
Spreu von: Weizen zu sondern und ihre Mitteilungen mit verständnisfördernden
Orientierungen einzuleiten vermag. Unserer Schule muß man nachsagen, daß
sie die Forderung der Konzentration im Prinzip stets vertreten hat. Viel
schlimmer steht es mit unserem Vortragswesen: in welcher chaotischen Weise es
seinen Stoff über die Hörer cinsschüttet, das sahen wir schon oben. Zum
Teil kann man das Übel hier bereits durch das eben angedeutete Verfahren über¬
winden, sich dem Stoffe mit festen Fragen und Gesichtspunkten zu nähern;
schon dadurch wird dieser mit der ganzen Persönlichkeit in Verbindung gebracht.


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[0503] Schaffen »ut Genießen In unserem Schulwesen ist die Förderung der Aktivität im Prinzip wohl von jeher anerkannt worden; zu seiner Verwirklichung kann jedoch noch unendlich viel geschehen. Die amerikanischen Anstalten sind uns in dieser Beziehung vielfach überlegen, indem sie z, B. dem Laboratorimnsbetrieb an den Mittelschulen eine viel größere Rolle einräumen oder beim geometrischen Unterricht etwa ein halbes Dutzend Schüler gleichzeitig an ebensovielen Tafeln eine Konstruktion durch¬ führen lassen. Daß das Zeichnen die Aktivität im naturkundlichen Unterricht begünstigt, hat man ebenfalls seit einiger Zeit erkannt. Für die Geographie spielt die Beschäftigung mit der Landkarte eine ähnliche Rolle. Ebenso wirkt es natürlich fördernd, wenn man z. B. in der Mathematik möglichst viel Auf¬ gaben und zwar von jedem einzelnen Schüler individuell lösen läßt, wenn man fortgesetzt fragt und jede andauernde Konzentration auf einen einzelnen Schüler z. B. beim Übersetzen vermeidet. — Vorträge für Erwachsene sollten nach Mög¬ lichkeit stets mit Übungen verbunden werden, eine Forderung, die durchaus im Sinne der Kunstbewegung liegt. Dazu stimmt, daß an unseren Hochschulen die Übungen gegenüber den Vorlesungen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Schwieriger ist es, die private Lektüre des einzelnen Erwachsenen aktiv zu gestalten. Nach Möglichkeit sollte auch hier jeder mit bestimmten Fragestellungen, mit bestimmten Erwartungen und Gesichtspunkten an seinen Stoff herantreten und auf diese Weise die Lektüre zu einer Art Dialog zwischen Leser und Autor gestalten. Die zweite Forderung bei der Betätigung der Bildungsinteressen lautet für uns: Wahrung des Zusammenhanges. Damit ist es h ente im allgemeinen recht mangelhaft bestellt, am schlimmsten bei der allgemein verbreiteten Zeitungslektüre, bei der Dutzende heterogener Stoffe in einer halben Stunde den Kopf durchjagen, von denen mindestens die Hälfte unmittelbar in der Seele verklingt, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ein Zusammenhang sollte angestrebt werden in doppeltem Sinne: einerseits ein solcher zwischen den ver¬ schiedenen Eindrücken, anderseits ein solcher zwischen ihnen und der ganzen Persönlichkeit. Für die Tagespresse ist dazu die Entwicklung einer eigenen neuen Art von Journalistik erforderlich, zu der Ansätze bereits vorhanden sind: einer solchen, die zwischen Zeitung und Wochen- oder Monatsschrift gewisser¬ maßen die Mitte hält, neben der Politik alle Zweige der Kulturbewegung verfolgt und dabei den Ereignissen in einem solchen Abstände folgt, daß sie die Spreu von: Weizen zu sondern und ihre Mitteilungen mit verständnisfördernden Orientierungen einzuleiten vermag. Unserer Schule muß man nachsagen, daß sie die Forderung der Konzentration im Prinzip stets vertreten hat. Viel schlimmer steht es mit unserem Vortragswesen: in welcher chaotischen Weise es seinen Stoff über die Hörer cinsschüttet, das sahen wir schon oben. Zum Teil kann man das Übel hier bereits durch das eben angedeutete Verfahren über¬ winden, sich dem Stoffe mit festen Fragen und Gesichtspunkten zu nähern; schon dadurch wird dieser mit der ganzen Persönlichkeit in Verbindung gebracht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/503>, abgerufen am 24.08.2024.