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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

das Gefühl völkischer Zusammengehörigkeit
mit einem Schlag aufheben. Erst als sich
die germanisch-romanische Ehe im Laufe der
Jahrzehnte, dank der Politischen Reife des
Schweizervolkes, bewährt hat, erst als sichs
gezeigt, daß im Schatten des gemeinsam er¬
richteten Freiheitbaumes gut Leben sei, erst
als die Ereignisse der siebziger Jahre ein
cäsarisches Deutschland fürchten ließen und
die Zeit den Abwehrpatriotismus gegen den
"großen Kanton", gegen das Reich gezeitigt
hat, erst da trug die schweizerische Nativnal-
idee den Sieg über die sprachliche Zugehörig¬
keit endgültig davon. Selbst die großen
Schweizer der Wandlungsjahre, Keller und
Meyer, vermochten den Sieg der Volkspsyche
in ihrem Innern nicht ungebrochen durchzu¬
führen und daß sie unter dem Zwiespalt ge¬
litten, habe ich in meinen Tellproblemen be¬
legmäßig nachgewiesen. Auch Widmann und
Spitteler gehören noch in manchen Stücken
der alten Garde um. Auch sie sind weit mehr
deutsche Richter als schweizerische. Nur den
Jüngsten hat die historische Entwicklung diesen
Zwiespalt erspart: Möschlin, Preconi, Falke,
Heer, Bernouilli, LisaWengcr, Jakob Schaffner,
Huggenberger, Monnier, Conde -- das ist die
hoffnungsvolle Schar, die als erste Generation
aus einem rein helvetischen Nationalbewußt¬
sein erwachsen ist.


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Wechselwirkung zwischen Kanton und Bund,
die uns das Entstehen einer hochentwickelten
Nation fast in der Gegenwart erleben ließ
und das auf der rein ethischen Grundlage
der Freiheit, losgelöst von den primären
Triebfedern der Sprache- oder Nassengemein-
schaft.

Die Verfasser haben sich aber in den
Einzelheiten nicht minder als in der Gesamt¬
anlage ihres Werkes vergriffen. Sie sind
von einer bereits längst erreichten Stufe
schweizerischer Literaturgeschichte arg herab¬
gestiegen. Die historische Fülle und Ergiebig¬
keit Bächtoldscher Forschung, die psychologische
Eindringlichkeit und ästhetische Gemeingültig¬
keit Saitschiks, die klare Lebendigkeit Möri-
kofers ist nirgends erreicht. Die vielen ebenso
schönen wie wertvollen Artikel I. V. Widmcmns
im Berner Bund, in denen der Dichter mit
staunenswerter Leichtigkeit der Einfühlung die
Ereignisse der schweizerischen Literatur Jahr¬
zehnte hindurch beurteilt, wie einige hervor¬
ragende Arbeiten Oskar Walzels und Paul
Seipels, haben eine Grundlage geschaffen, der
Jennys und Rössels Neubau nicht würdig ist.
Beiläufig noch dies: die überwundene Phrase,
ein schweizerisches Nationaldrama müsse sich
in der Richtung von Schillers Tell bewegen,
dürfte sich eine wissenschaftliche Literatur¬
geschichte nicht mehr leisten. Müssen denn
auch Literarhistoriker immer wieder an das
VII. Kapitel des grünen Heinrich erinnert
R. M. werden?

[Ende Spaltensatz]

innerst Innere jener wundervollen historischen




Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

das Gefühl völkischer Zusammengehörigkeit
mit einem Schlag aufheben. Erst als sich
die germanisch-romanische Ehe im Laufe der
Jahrzehnte, dank der Politischen Reife des
Schweizervolkes, bewährt hat, erst als sichs
gezeigt, daß im Schatten des gemeinsam er¬
richteten Freiheitbaumes gut Leben sei, erst
als die Ereignisse der siebziger Jahre ein
cäsarisches Deutschland fürchten ließen und
die Zeit den Abwehrpatriotismus gegen den
„großen Kanton", gegen das Reich gezeitigt
hat, erst da trug die schweizerische Nativnal-
idee den Sieg über die sprachliche Zugehörig¬
keit endgültig davon. Selbst die großen
Schweizer der Wandlungsjahre, Keller und
Meyer, vermochten den Sieg der Volkspsyche
in ihrem Innern nicht ungebrochen durchzu¬
führen und daß sie unter dem Zwiespalt ge¬
litten, habe ich in meinen Tellproblemen be¬
legmäßig nachgewiesen. Auch Widmann und
Spitteler gehören noch in manchen Stücken
der alten Garde um. Auch sie sind weit mehr
deutsche Richter als schweizerische. Nur den
Jüngsten hat die historische Entwicklung diesen
Zwiespalt erspart: Möschlin, Preconi, Falke,
Heer, Bernouilli, LisaWengcr, Jakob Schaffner,
Huggenberger, Monnier, Conde — das ist die
hoffnungsvolle Schar, die als erste Generation
aus einem rein helvetischen Nationalbewußt¬
sein erwachsen ist.


[Spaltenumbruch]

Wechselwirkung zwischen Kanton und Bund,
die uns das Entstehen einer hochentwickelten
Nation fast in der Gegenwart erleben ließ
und das auf der rein ethischen Grundlage
der Freiheit, losgelöst von den primären
Triebfedern der Sprache- oder Nassengemein-
schaft.

Die Verfasser haben sich aber in den
Einzelheiten nicht minder als in der Gesamt¬
anlage ihres Werkes vergriffen. Sie sind
von einer bereits längst erreichten Stufe
schweizerischer Literaturgeschichte arg herab¬
gestiegen. Die historische Fülle und Ergiebig¬
keit Bächtoldscher Forschung, die psychologische
Eindringlichkeit und ästhetische Gemeingültig¬
keit Saitschiks, die klare Lebendigkeit Möri-
kofers ist nirgends erreicht. Die vielen ebenso
schönen wie wertvollen Artikel I. V. Widmcmns
im Berner Bund, in denen der Dichter mit
staunenswerter Leichtigkeit der Einfühlung die
Ereignisse der schweizerischen Literatur Jahr¬
zehnte hindurch beurteilt, wie einige hervor¬
ragende Arbeiten Oskar Walzels und Paul
Seipels, haben eine Grundlage geschaffen, der
Jennys und Rössels Neubau nicht würdig ist.
Beiläufig noch dies: die überwundene Phrase,
ein schweizerisches Nationaldrama müsse sich
in der Richtung von Schillers Tell bewegen,
dürfte sich eine wissenschaftliche Literatur¬
geschichte nicht mehr leisten. Müssen denn
auch Literarhistoriker immer wieder an das
VII. Kapitel des grünen Heinrich erinnert
R. M. werden?

[Ende Spaltensatz]

innerst Innere jener wundervollen historischen




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[0491] Maßgebliches und Unmaßgebliches das Gefühl völkischer Zusammengehörigkeit mit einem Schlag aufheben. Erst als sich die germanisch-romanische Ehe im Laufe der Jahrzehnte, dank der Politischen Reife des Schweizervolkes, bewährt hat, erst als sichs gezeigt, daß im Schatten des gemeinsam er¬ richteten Freiheitbaumes gut Leben sei, erst als die Ereignisse der siebziger Jahre ein cäsarisches Deutschland fürchten ließen und die Zeit den Abwehrpatriotismus gegen den „großen Kanton", gegen das Reich gezeitigt hat, erst da trug die schweizerische Nativnal- idee den Sieg über die sprachliche Zugehörig¬ keit endgültig davon. Selbst die großen Schweizer der Wandlungsjahre, Keller und Meyer, vermochten den Sieg der Volkspsyche in ihrem Innern nicht ungebrochen durchzu¬ führen und daß sie unter dem Zwiespalt ge¬ litten, habe ich in meinen Tellproblemen be¬ legmäßig nachgewiesen. Auch Widmann und Spitteler gehören noch in manchen Stücken der alten Garde um. Auch sie sind weit mehr deutsche Richter als schweizerische. Nur den Jüngsten hat die historische Entwicklung diesen Zwiespalt erspart: Möschlin, Preconi, Falke, Heer, Bernouilli, LisaWengcr, Jakob Schaffner, Huggenberger, Monnier, Conde — das ist die hoffnungsvolle Schar, die als erste Generation aus einem rein helvetischen Nationalbewußt¬ sein erwachsen ist. Wechselwirkung zwischen Kanton und Bund, die uns das Entstehen einer hochentwickelten Nation fast in der Gegenwart erleben ließ und das auf der rein ethischen Grundlage der Freiheit, losgelöst von den primären Triebfedern der Sprache- oder Nassengemein- schaft. Die Verfasser haben sich aber in den Einzelheiten nicht minder als in der Gesamt¬ anlage ihres Werkes vergriffen. Sie sind von einer bereits längst erreichten Stufe schweizerischer Literaturgeschichte arg herab¬ gestiegen. Die historische Fülle und Ergiebig¬ keit Bächtoldscher Forschung, die psychologische Eindringlichkeit und ästhetische Gemeingültig¬ keit Saitschiks, die klare Lebendigkeit Möri- kofers ist nirgends erreicht. Die vielen ebenso schönen wie wertvollen Artikel I. V. Widmcmns im Berner Bund, in denen der Dichter mit staunenswerter Leichtigkeit der Einfühlung die Ereignisse der schweizerischen Literatur Jahr¬ zehnte hindurch beurteilt, wie einige hervor¬ ragende Arbeiten Oskar Walzels und Paul Seipels, haben eine Grundlage geschaffen, der Jennys und Rössels Neubau nicht würdig ist. Beiläufig noch dies: die überwundene Phrase, ein schweizerisches Nationaldrama müsse sich in der Richtung von Schillers Tell bewegen, dürfte sich eine wissenschaftliche Literatur¬ geschichte nicht mehr leisten. Müssen denn auch Literarhistoriker immer wieder an das VII. Kapitel des grünen Heinrich erinnert R. M. werden? innerst Innere jener wundervollen historischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/491>, abgerufen am 01.07.2024.