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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schaffen und Genießen

Komplex von Werten umschreiben mag. Verwirklicht werden kann, soweit es
überhaupt möglich ist, dies Ideal nur dadurch, daß man die Anlagen der
Seele durch fortgesetzte Tätigkeit entwickelt, denn nur durch Übung wird die
Kraft gesteigert. Dabei aber sind dieser Steigerungsmöglichkeit drei wichtige
Grenzen gezogen, über die gerade unsere Zeit sich überall hinwegsetzt. Erstens
darf die Tätigkeit einen bestimmten Grad nicht übersteigen, wenn sie nicht durch
Überanstrengung einen Zustand der Erschöpfung, mindestens der Beeinträchtigung
der Trieb- und Aneignungsfähigkeit herbeiführen soll. Zweitens darf der mensch¬
lichen Seele nicht zu vielerlei zugemutet werden, wenn nicht ihre Einheitlichkeit
bedroht werden soll. Schon Untersuchungen über die Leistungsfähigkeit des
Gedächtnisses haben ergeben, daß das Auswendiglernen erschwert wird, wenn
nach der Zeit des Lernens statt der Entspannung eine andere intensive Arbeit
eintritt. Die ungleichartigen Erlebnisse der Seele stören sich gleichsam gegen¬
seitig, wenn sie sich zu sehr häufen, und hindern einander, sich einzuwurzeln.
Drittens darf es für jede einzelne Beschäftigung nicht an Zeit gebrechen. Auch
hier haben die eben erwähnten Gedächtnisversuche gezeigt, daß eine Verteilung
von Übungen über eine längere Zeit viel bessere Ergebnisse liefert als deren
Zusammendrängung auf eine einzige Stunde. Zum Teil hieraus erklärt sich
wohl die bekannte Tatsache, daß der Examendrill so wenig dauernde Früchte
trägt. Und hierin liegt eine der größten Schwächen unserer Zeit, zugleich eine
ihrer größten Gefahren für die Kultur der Seele, daß sie überall das Tempo
zu schnell nimmt und dem einzelnen Eindruck nicht Ruhe genug gewährt, sich
gleichsam zu setzen. Die ganze rastlose Vielgeschäftigkeit der Gegenwart hat
überhaupt zur Folge, daß in den drei angedeuteten Richtungen die Grenzen
fortgesetzt überschritten werden, die für die Steigerung der inneren Kraft der
Seele gezogen sind. Wir sind gegen diese Schäden gleichgültig und stumpf
eben dank der Herrschaft der Tendenz zur reinen Konsumtion: indem wir uns
mit dem bloßen Hinnehmen begnügen, ohne innere Aneignung und Verarbeitung
zu erlangen, entwöhnen wir uns auf die Entfaltung der inneren Kräfte der
Seele überhaupt Gewicht zu legen.

Ein drittes Übel, das sich mit der Herrschaft unserer Tendenz verbindet,
liegt in der starken Beeinträchtigung oder völligen Zerstörung derjenigen
Gefühlswerte, die sich auf die Sphäre der Einwurzelung beziehen. Gemeine ist
damit der Zustand des Verwachsenseins mit Familie, Haus und Hof, Heimat
und Berufssphäre, endlich auch mit dem Staate, der Nation und dem gesamten
geistigen Leben der Zeit. Damit ein Zustand enger Verbindung auf diesen
Gebieten erwächst, ist zunächst ein hinreichendes Maß äußerer Stabilität erforderlich,
an dem es heute vielfach fehlt. Ferner bedarf es dazu genügender Zeit und
innerer Freiheit: man muß den Dingen und Personen Arbeit zuwenden, sich
auf sie konzentrieren, sich in sie vertiefen, damit ein Zustand inneren Zusammen¬
lebens entsteht und das Ich sich in seiner Umwelt verankert. Nur ein hin¬
reichender Grad von Beschaulichkeit ermöglicht es dem Ich, enge Fäden zwischen


Schaffen und Genießen

Komplex von Werten umschreiben mag. Verwirklicht werden kann, soweit es
überhaupt möglich ist, dies Ideal nur dadurch, daß man die Anlagen der
Seele durch fortgesetzte Tätigkeit entwickelt, denn nur durch Übung wird die
Kraft gesteigert. Dabei aber sind dieser Steigerungsmöglichkeit drei wichtige
Grenzen gezogen, über die gerade unsere Zeit sich überall hinwegsetzt. Erstens
darf die Tätigkeit einen bestimmten Grad nicht übersteigen, wenn sie nicht durch
Überanstrengung einen Zustand der Erschöpfung, mindestens der Beeinträchtigung
der Trieb- und Aneignungsfähigkeit herbeiführen soll. Zweitens darf der mensch¬
lichen Seele nicht zu vielerlei zugemutet werden, wenn nicht ihre Einheitlichkeit
bedroht werden soll. Schon Untersuchungen über die Leistungsfähigkeit des
Gedächtnisses haben ergeben, daß das Auswendiglernen erschwert wird, wenn
nach der Zeit des Lernens statt der Entspannung eine andere intensive Arbeit
eintritt. Die ungleichartigen Erlebnisse der Seele stören sich gleichsam gegen¬
seitig, wenn sie sich zu sehr häufen, und hindern einander, sich einzuwurzeln.
Drittens darf es für jede einzelne Beschäftigung nicht an Zeit gebrechen. Auch
hier haben die eben erwähnten Gedächtnisversuche gezeigt, daß eine Verteilung
von Übungen über eine längere Zeit viel bessere Ergebnisse liefert als deren
Zusammendrängung auf eine einzige Stunde. Zum Teil hieraus erklärt sich
wohl die bekannte Tatsache, daß der Examendrill so wenig dauernde Früchte
trägt. Und hierin liegt eine der größten Schwächen unserer Zeit, zugleich eine
ihrer größten Gefahren für die Kultur der Seele, daß sie überall das Tempo
zu schnell nimmt und dem einzelnen Eindruck nicht Ruhe genug gewährt, sich
gleichsam zu setzen. Die ganze rastlose Vielgeschäftigkeit der Gegenwart hat
überhaupt zur Folge, daß in den drei angedeuteten Richtungen die Grenzen
fortgesetzt überschritten werden, die für die Steigerung der inneren Kraft der
Seele gezogen sind. Wir sind gegen diese Schäden gleichgültig und stumpf
eben dank der Herrschaft der Tendenz zur reinen Konsumtion: indem wir uns
mit dem bloßen Hinnehmen begnügen, ohne innere Aneignung und Verarbeitung
zu erlangen, entwöhnen wir uns auf die Entfaltung der inneren Kräfte der
Seele überhaupt Gewicht zu legen.

Ein drittes Übel, das sich mit der Herrschaft unserer Tendenz verbindet,
liegt in der starken Beeinträchtigung oder völligen Zerstörung derjenigen
Gefühlswerte, die sich auf die Sphäre der Einwurzelung beziehen. Gemeine ist
damit der Zustand des Verwachsenseins mit Familie, Haus und Hof, Heimat
und Berufssphäre, endlich auch mit dem Staate, der Nation und dem gesamten
geistigen Leben der Zeit. Damit ein Zustand enger Verbindung auf diesen
Gebieten erwächst, ist zunächst ein hinreichendes Maß äußerer Stabilität erforderlich,
an dem es heute vielfach fehlt. Ferner bedarf es dazu genügender Zeit und
innerer Freiheit: man muß den Dingen und Personen Arbeit zuwenden, sich
auf sie konzentrieren, sich in sie vertiefen, damit ein Zustand inneren Zusammen¬
lebens entsteht und das Ich sich in seiner Umwelt verankert. Nur ein hin¬
reichender Grad von Beschaulichkeit ermöglicht es dem Ich, enge Fäden zwischen


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[0422] Schaffen und Genießen Komplex von Werten umschreiben mag. Verwirklicht werden kann, soweit es überhaupt möglich ist, dies Ideal nur dadurch, daß man die Anlagen der Seele durch fortgesetzte Tätigkeit entwickelt, denn nur durch Übung wird die Kraft gesteigert. Dabei aber sind dieser Steigerungsmöglichkeit drei wichtige Grenzen gezogen, über die gerade unsere Zeit sich überall hinwegsetzt. Erstens darf die Tätigkeit einen bestimmten Grad nicht übersteigen, wenn sie nicht durch Überanstrengung einen Zustand der Erschöpfung, mindestens der Beeinträchtigung der Trieb- und Aneignungsfähigkeit herbeiführen soll. Zweitens darf der mensch¬ lichen Seele nicht zu vielerlei zugemutet werden, wenn nicht ihre Einheitlichkeit bedroht werden soll. Schon Untersuchungen über die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses haben ergeben, daß das Auswendiglernen erschwert wird, wenn nach der Zeit des Lernens statt der Entspannung eine andere intensive Arbeit eintritt. Die ungleichartigen Erlebnisse der Seele stören sich gleichsam gegen¬ seitig, wenn sie sich zu sehr häufen, und hindern einander, sich einzuwurzeln. Drittens darf es für jede einzelne Beschäftigung nicht an Zeit gebrechen. Auch hier haben die eben erwähnten Gedächtnisversuche gezeigt, daß eine Verteilung von Übungen über eine längere Zeit viel bessere Ergebnisse liefert als deren Zusammendrängung auf eine einzige Stunde. Zum Teil hieraus erklärt sich wohl die bekannte Tatsache, daß der Examendrill so wenig dauernde Früchte trägt. Und hierin liegt eine der größten Schwächen unserer Zeit, zugleich eine ihrer größten Gefahren für die Kultur der Seele, daß sie überall das Tempo zu schnell nimmt und dem einzelnen Eindruck nicht Ruhe genug gewährt, sich gleichsam zu setzen. Die ganze rastlose Vielgeschäftigkeit der Gegenwart hat überhaupt zur Folge, daß in den drei angedeuteten Richtungen die Grenzen fortgesetzt überschritten werden, die für die Steigerung der inneren Kraft der Seele gezogen sind. Wir sind gegen diese Schäden gleichgültig und stumpf eben dank der Herrschaft der Tendenz zur reinen Konsumtion: indem wir uns mit dem bloßen Hinnehmen begnügen, ohne innere Aneignung und Verarbeitung zu erlangen, entwöhnen wir uns auf die Entfaltung der inneren Kräfte der Seele überhaupt Gewicht zu legen. Ein drittes Übel, das sich mit der Herrschaft unserer Tendenz verbindet, liegt in der starken Beeinträchtigung oder völligen Zerstörung derjenigen Gefühlswerte, die sich auf die Sphäre der Einwurzelung beziehen. Gemeine ist damit der Zustand des Verwachsenseins mit Familie, Haus und Hof, Heimat und Berufssphäre, endlich auch mit dem Staate, der Nation und dem gesamten geistigen Leben der Zeit. Damit ein Zustand enger Verbindung auf diesen Gebieten erwächst, ist zunächst ein hinreichendes Maß äußerer Stabilität erforderlich, an dem es heute vielfach fehlt. Ferner bedarf es dazu genügender Zeit und innerer Freiheit: man muß den Dingen und Personen Arbeit zuwenden, sich auf sie konzentrieren, sich in sie vertiefen, damit ein Zustand inneren Zusammen¬ lebens entsteht und das Ich sich in seiner Umwelt verankert. Nur ein hin¬ reichender Grad von Beschaulichkeit ermöglicht es dem Ich, enge Fäden zwischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/422>, abgerufen am 22.07.2024.