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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schaffen und Genießen

nach Geltendmachung der Persönlichkeit, und anderseits an niedere Instinkte wie
die Bequemlichkeit und Eitelkeit. Eine wesentliche Rolle spielt bei dem Ganzen
auch die besondere Beschaffenheit der Berufstätigkeit in unserer Zeit. Sie weist
zwei Eigentümlichkeiten auf. In früheren Zeiten war die Arbeit mit einem
höheren Maße von sinnlichen Reizen und von Befriedigung des Selbstgefühls
verbunden und mit der ganzen Persönlichkeit und dem Gesamtleben des Menschen
enger verknüpft. Diese Eigenwerte der Arbeit sind heute zum großen Teil ver¬
loren gegangen; immer mehr wird sie zu einem bloßen Mittel zum Zweck des
Erwerbes oder der Befriedigung des Ehrgeizes. Gleichzeitig erfordert sie durch¬
schnittlich ein viel höheres Maß von Anspannung als früher. Alles, was ihm
so die Arbeit an Befriedigung nicht mehr gewährt, erwartet der Mensch nun
in gesteigertem Maße von dem Zustande der Muße. Gleichzeitig ist er aber
durch die Anspannung der Arbeit in einen Zustand der Erschlaffung versetzt,
der ihm die reine Passivität erwünscht macht. So ist das normale Gleichgewicht
zwischen Arbeit und Muße, zwischen Berufstätigkeit und häuslichem Leben,
zwischen den Anforderungen der Außenwelt und den Bedürfnissen des Innen¬
lebens zerstört. In beiden Gebieten ist eine ähnliche Einseitigkeit eingerissen:
dort eine Anspannung ohne innere Gebundenheit, hier ein Genießen
ohne Hingabe und Vertiefung; dort eine reine Produktion, hiereine
reine Konsumtion -- beide ohne Rücksicht auf die Natur des produzierenden und
konsumierenden Menschen. Denn normaler Weise soll die Arbeit in Gestalt der
inneren Hingabe ein Element der Muße, die Muße aber in Gestalt einer mäßigen
Anspannung ein Element der Arbeit in sich enthalten.

Schwere Schäden sind mit dieser Einseitigkeit verbunden. Sie kommen
uns nur deswegen so wenig zum Bewußtsein, weil unsere Werturteile in viel
höherem Maße, als man sich gewöhnlich klar macht, von den bestehenden Tat¬
sachen abhängen und sich nach ihnen richten. Einseitige Tendenzen haben so
auch einseitige Lebensauffassungen und Ideale zur Folge. Das gilt auch für
unsere Zeit. In der Einseitigkeit ihrer Lebensideale spiegeln sich gewisse tat¬
sächliche Abweichungen von einer gesunden und gedeihlichen Lebensführung, die
uns schwer belasten. Besonders vier Tatsachen kommen hier in Betracht.

Erstens huldigen wir einem falschen Ideal der Bequemlichkeit.
Wie sehr unsere Zeit den Wert der Bequemlichkeit überschätzt, davon war
schon oben die Rede. Der Wert jeder Neuerung und Veränderung wird im
allgemeinen ohne weiteres an der Erleichterung gemessen, die sie gewährt.
Als vollkommenstes Leben gilt dasjenige, das mit dem höchsten Maße von
Bequemlichkeit verknüpft ist. Wie sehr aber widerspricht diese Anschauung der
menschlichen Natur. Wo sich diese noch unverhüllt zeigt, gewahren wir überall
als ihren wesentlichsten Zug einen Drang zur Tätigkeit, zu Erlebnissen und zur
Selbständigkeit. Am deutlichsten sehen wir das an dem kleinen Kinde, das sich
den ganzen Tag fortgesetzt beschäftigen muß, etwas erleben und immer selb¬
ständig sein will; wie denn überhaupt vielleicht die Kinder am meisten unter


Schaffen und Genießen

nach Geltendmachung der Persönlichkeit, und anderseits an niedere Instinkte wie
die Bequemlichkeit und Eitelkeit. Eine wesentliche Rolle spielt bei dem Ganzen
auch die besondere Beschaffenheit der Berufstätigkeit in unserer Zeit. Sie weist
zwei Eigentümlichkeiten auf. In früheren Zeiten war die Arbeit mit einem
höheren Maße von sinnlichen Reizen und von Befriedigung des Selbstgefühls
verbunden und mit der ganzen Persönlichkeit und dem Gesamtleben des Menschen
enger verknüpft. Diese Eigenwerte der Arbeit sind heute zum großen Teil ver¬
loren gegangen; immer mehr wird sie zu einem bloßen Mittel zum Zweck des
Erwerbes oder der Befriedigung des Ehrgeizes. Gleichzeitig erfordert sie durch¬
schnittlich ein viel höheres Maß von Anspannung als früher. Alles, was ihm
so die Arbeit an Befriedigung nicht mehr gewährt, erwartet der Mensch nun
in gesteigertem Maße von dem Zustande der Muße. Gleichzeitig ist er aber
durch die Anspannung der Arbeit in einen Zustand der Erschlaffung versetzt,
der ihm die reine Passivität erwünscht macht. So ist das normale Gleichgewicht
zwischen Arbeit und Muße, zwischen Berufstätigkeit und häuslichem Leben,
zwischen den Anforderungen der Außenwelt und den Bedürfnissen des Innen¬
lebens zerstört. In beiden Gebieten ist eine ähnliche Einseitigkeit eingerissen:
dort eine Anspannung ohne innere Gebundenheit, hier ein Genießen
ohne Hingabe und Vertiefung; dort eine reine Produktion, hiereine
reine Konsumtion — beide ohne Rücksicht auf die Natur des produzierenden und
konsumierenden Menschen. Denn normaler Weise soll die Arbeit in Gestalt der
inneren Hingabe ein Element der Muße, die Muße aber in Gestalt einer mäßigen
Anspannung ein Element der Arbeit in sich enthalten.

Schwere Schäden sind mit dieser Einseitigkeit verbunden. Sie kommen
uns nur deswegen so wenig zum Bewußtsein, weil unsere Werturteile in viel
höherem Maße, als man sich gewöhnlich klar macht, von den bestehenden Tat¬
sachen abhängen und sich nach ihnen richten. Einseitige Tendenzen haben so
auch einseitige Lebensauffassungen und Ideale zur Folge. Das gilt auch für
unsere Zeit. In der Einseitigkeit ihrer Lebensideale spiegeln sich gewisse tat¬
sächliche Abweichungen von einer gesunden und gedeihlichen Lebensführung, die
uns schwer belasten. Besonders vier Tatsachen kommen hier in Betracht.

Erstens huldigen wir einem falschen Ideal der Bequemlichkeit.
Wie sehr unsere Zeit den Wert der Bequemlichkeit überschätzt, davon war
schon oben die Rede. Der Wert jeder Neuerung und Veränderung wird im
allgemeinen ohne weiteres an der Erleichterung gemessen, die sie gewährt.
Als vollkommenstes Leben gilt dasjenige, das mit dem höchsten Maße von
Bequemlichkeit verknüpft ist. Wie sehr aber widerspricht diese Anschauung der
menschlichen Natur. Wo sich diese noch unverhüllt zeigt, gewahren wir überall
als ihren wesentlichsten Zug einen Drang zur Tätigkeit, zu Erlebnissen und zur
Selbständigkeit. Am deutlichsten sehen wir das an dem kleinen Kinde, das sich
den ganzen Tag fortgesetzt beschäftigen muß, etwas erleben und immer selb¬
ständig sein will; wie denn überhaupt vielleicht die Kinder am meisten unter


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[0420] Schaffen und Genießen nach Geltendmachung der Persönlichkeit, und anderseits an niedere Instinkte wie die Bequemlichkeit und Eitelkeit. Eine wesentliche Rolle spielt bei dem Ganzen auch die besondere Beschaffenheit der Berufstätigkeit in unserer Zeit. Sie weist zwei Eigentümlichkeiten auf. In früheren Zeiten war die Arbeit mit einem höheren Maße von sinnlichen Reizen und von Befriedigung des Selbstgefühls verbunden und mit der ganzen Persönlichkeit und dem Gesamtleben des Menschen enger verknüpft. Diese Eigenwerte der Arbeit sind heute zum großen Teil ver¬ loren gegangen; immer mehr wird sie zu einem bloßen Mittel zum Zweck des Erwerbes oder der Befriedigung des Ehrgeizes. Gleichzeitig erfordert sie durch¬ schnittlich ein viel höheres Maß von Anspannung als früher. Alles, was ihm so die Arbeit an Befriedigung nicht mehr gewährt, erwartet der Mensch nun in gesteigertem Maße von dem Zustande der Muße. Gleichzeitig ist er aber durch die Anspannung der Arbeit in einen Zustand der Erschlaffung versetzt, der ihm die reine Passivität erwünscht macht. So ist das normale Gleichgewicht zwischen Arbeit und Muße, zwischen Berufstätigkeit und häuslichem Leben, zwischen den Anforderungen der Außenwelt und den Bedürfnissen des Innen¬ lebens zerstört. In beiden Gebieten ist eine ähnliche Einseitigkeit eingerissen: dort eine Anspannung ohne innere Gebundenheit, hier ein Genießen ohne Hingabe und Vertiefung; dort eine reine Produktion, hiereine reine Konsumtion — beide ohne Rücksicht auf die Natur des produzierenden und konsumierenden Menschen. Denn normaler Weise soll die Arbeit in Gestalt der inneren Hingabe ein Element der Muße, die Muße aber in Gestalt einer mäßigen Anspannung ein Element der Arbeit in sich enthalten. Schwere Schäden sind mit dieser Einseitigkeit verbunden. Sie kommen uns nur deswegen so wenig zum Bewußtsein, weil unsere Werturteile in viel höherem Maße, als man sich gewöhnlich klar macht, von den bestehenden Tat¬ sachen abhängen und sich nach ihnen richten. Einseitige Tendenzen haben so auch einseitige Lebensauffassungen und Ideale zur Folge. Das gilt auch für unsere Zeit. In der Einseitigkeit ihrer Lebensideale spiegeln sich gewisse tat¬ sächliche Abweichungen von einer gesunden und gedeihlichen Lebensführung, die uns schwer belasten. Besonders vier Tatsachen kommen hier in Betracht. Erstens huldigen wir einem falschen Ideal der Bequemlichkeit. Wie sehr unsere Zeit den Wert der Bequemlichkeit überschätzt, davon war schon oben die Rede. Der Wert jeder Neuerung und Veränderung wird im allgemeinen ohne weiteres an der Erleichterung gemessen, die sie gewährt. Als vollkommenstes Leben gilt dasjenige, das mit dem höchsten Maße von Bequemlichkeit verknüpft ist. Wie sehr aber widerspricht diese Anschauung der menschlichen Natur. Wo sich diese noch unverhüllt zeigt, gewahren wir überall als ihren wesentlichsten Zug einen Drang zur Tätigkeit, zu Erlebnissen und zur Selbständigkeit. Am deutlichsten sehen wir das an dem kleinen Kinde, das sich den ganzen Tag fortgesetzt beschäftigen muß, etwas erleben und immer selb¬ ständig sein will; wie denn überhaupt vielleicht die Kinder am meisten unter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/420>, abgerufen am 01.07.2024.