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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der Liberalismus und das Reichstagswahlrecht

und am Gängelbande führen, wohin sie sie haben wollen. Dieses
unehrliche Spiel ist, wenn mit offenem Visier gekämpft wird, nicht mehr so
leicht möglich. Wissen die Wähler, daß es sich nur um wirtschaftliche Interessen
handelt, dann werden sie sich von keinem Phrasengeklingel mehr betören lassen,
gegen ihre wirklichen Interessen zu stimmen und Parteien zu unterstützen, die
ihre Lebenskraft nur noch aus dem mit Absicht gepflegten Phrasennebel ziehen.
Den großen Volksverführern wird das Handwerk gelegt. So wird auch ein
zweites erreicht: heutzutage wird über alle möglichen Interessen von Nichtsach-
verständigen entschieden, und die großen wirtschaftlichen Interessengruppen suchen
auf dem Wege des Antichambrierens bei den Parlamentsgewaltigen und in den
Ministerien ihre Sachen wahrzunehmen. In einem Berufsparlamente sitzen nur
Sachverständige. Die einzelnen Berufsgruppen, die nach ihrer Bedeutung für den
Wirtschaftskörper des Volkes ihre Vertretung erhalten würden, werden nur ihre
sachverständigsten Leute in das Zukunftsparlament schicken, und dieses würde somit
eine Sachverständigenkammer par exLellonce werden, in der sich niemand ein
X für ein U vormachen lassen und nur nach sachlichen Gesichtspunkten entschieden
werden würde. Gewiß wird ein solches Parlament dadurch den Anstrich eines rein
geschäftlichen Konsortiums erhalten. Das mutet uns vielleicht zuerst etwas nüchtern
an, aber schließlich ist es kein Fehler, wenn heutzutage etwas weniger geredet
und mehr gearbeitet wird. Das aber dieser geschäftliche Charakter, den das
Parlament erhält, einem gedeihlichen Arbeiten hinderlich sein sollte, ist kaum an¬
zunehmen; wahrscheinlich wird die Verständigung in einem solchen Parlament,
unter nüchternen Geschäftsleuten, die wissen, um was es sich handelt, leichter
sein als unter Volksvertretern, die von politischen Leidenschaften hin- und her¬
geworfen werden. Wie dem auch sei, unter einem solchen Geschäftsparlament werden,
wie gesagt, den großen Demagogen die Waffen entwunden und wird damit dem
ganzen widerlichen Treiben vor den Wahlen ein Ende gemacht. Dabei ist es
bei der Berufsvertretung nicht nötig, daß das Wahlrecht ein indirektes würde;
es könnte ruhig allgemein und direkt bleiben, nur wäre es nicht mehr gleich,
da ja die verschiedenen Berufsgruppen je nach ihrer Bedeutung für den Staat
eine verschiedene Anzahl von Vertretern hätten.

Im übrigen soll dieser Artikel keine Auseinandersetzung über Einzelheiten
des Berufswahlrechts geben, sondern nur eine Anregung sein, über das Problem
des gegenwärtigen Parlamentarismus nachzudenken, eine Aufforderung an die
Liberalen, das zu tun. Gewiß ist es für eine Partei ungeheuer schwer, sich
von einem Dogma abzukehren, besonders unter den gegenwärtigen Verhältnissen,
wo die Sozialdemokratie das Reichstagswahlrecht für tabu erklärt hat und jeden
zum "Volksfeinde" stempelt, der es wagt, darüber eine eigene Meinung zu haben.
Selbstredend: denn der Sozialdemokratie, die mit Bewußtsein nur wirtschaft¬
liche Interessen vertritt, kommt die heutige ideologische Zerfahrenheit im bürger¬
lichen Lager nur zu gut. Immerhin, der Liberalismus sollte sich sagen: das
allgemeine gleiche Wahlrecht ist etwas Gewordenes, und als etwas Gewordenes


Der Liberalismus und das Reichstagswahlrecht

und am Gängelbande führen, wohin sie sie haben wollen. Dieses
unehrliche Spiel ist, wenn mit offenem Visier gekämpft wird, nicht mehr so
leicht möglich. Wissen die Wähler, daß es sich nur um wirtschaftliche Interessen
handelt, dann werden sie sich von keinem Phrasengeklingel mehr betören lassen,
gegen ihre wirklichen Interessen zu stimmen und Parteien zu unterstützen, die
ihre Lebenskraft nur noch aus dem mit Absicht gepflegten Phrasennebel ziehen.
Den großen Volksverführern wird das Handwerk gelegt. So wird auch ein
zweites erreicht: heutzutage wird über alle möglichen Interessen von Nichtsach-
verständigen entschieden, und die großen wirtschaftlichen Interessengruppen suchen
auf dem Wege des Antichambrierens bei den Parlamentsgewaltigen und in den
Ministerien ihre Sachen wahrzunehmen. In einem Berufsparlamente sitzen nur
Sachverständige. Die einzelnen Berufsgruppen, die nach ihrer Bedeutung für den
Wirtschaftskörper des Volkes ihre Vertretung erhalten würden, werden nur ihre
sachverständigsten Leute in das Zukunftsparlament schicken, und dieses würde somit
eine Sachverständigenkammer par exLellonce werden, in der sich niemand ein
X für ein U vormachen lassen und nur nach sachlichen Gesichtspunkten entschieden
werden würde. Gewiß wird ein solches Parlament dadurch den Anstrich eines rein
geschäftlichen Konsortiums erhalten. Das mutet uns vielleicht zuerst etwas nüchtern
an, aber schließlich ist es kein Fehler, wenn heutzutage etwas weniger geredet
und mehr gearbeitet wird. Das aber dieser geschäftliche Charakter, den das
Parlament erhält, einem gedeihlichen Arbeiten hinderlich sein sollte, ist kaum an¬
zunehmen; wahrscheinlich wird die Verständigung in einem solchen Parlament,
unter nüchternen Geschäftsleuten, die wissen, um was es sich handelt, leichter
sein als unter Volksvertretern, die von politischen Leidenschaften hin- und her¬
geworfen werden. Wie dem auch sei, unter einem solchen Geschäftsparlament werden,
wie gesagt, den großen Demagogen die Waffen entwunden und wird damit dem
ganzen widerlichen Treiben vor den Wahlen ein Ende gemacht. Dabei ist es
bei der Berufsvertretung nicht nötig, daß das Wahlrecht ein indirektes würde;
es könnte ruhig allgemein und direkt bleiben, nur wäre es nicht mehr gleich,
da ja die verschiedenen Berufsgruppen je nach ihrer Bedeutung für den Staat
eine verschiedene Anzahl von Vertretern hätten.

Im übrigen soll dieser Artikel keine Auseinandersetzung über Einzelheiten
des Berufswahlrechts geben, sondern nur eine Anregung sein, über das Problem
des gegenwärtigen Parlamentarismus nachzudenken, eine Aufforderung an die
Liberalen, das zu tun. Gewiß ist es für eine Partei ungeheuer schwer, sich
von einem Dogma abzukehren, besonders unter den gegenwärtigen Verhältnissen,
wo die Sozialdemokratie das Reichstagswahlrecht für tabu erklärt hat und jeden
zum „Volksfeinde" stempelt, der es wagt, darüber eine eigene Meinung zu haben.
Selbstredend: denn der Sozialdemokratie, die mit Bewußtsein nur wirtschaft¬
liche Interessen vertritt, kommt die heutige ideologische Zerfahrenheit im bürger¬
lichen Lager nur zu gut. Immerhin, der Liberalismus sollte sich sagen: das
allgemeine gleiche Wahlrecht ist etwas Gewordenes, und als etwas Gewordenes


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[0418] Der Liberalismus und das Reichstagswahlrecht und am Gängelbande führen, wohin sie sie haben wollen. Dieses unehrliche Spiel ist, wenn mit offenem Visier gekämpft wird, nicht mehr so leicht möglich. Wissen die Wähler, daß es sich nur um wirtschaftliche Interessen handelt, dann werden sie sich von keinem Phrasengeklingel mehr betören lassen, gegen ihre wirklichen Interessen zu stimmen und Parteien zu unterstützen, die ihre Lebenskraft nur noch aus dem mit Absicht gepflegten Phrasennebel ziehen. Den großen Volksverführern wird das Handwerk gelegt. So wird auch ein zweites erreicht: heutzutage wird über alle möglichen Interessen von Nichtsach- verständigen entschieden, und die großen wirtschaftlichen Interessengruppen suchen auf dem Wege des Antichambrierens bei den Parlamentsgewaltigen und in den Ministerien ihre Sachen wahrzunehmen. In einem Berufsparlamente sitzen nur Sachverständige. Die einzelnen Berufsgruppen, die nach ihrer Bedeutung für den Wirtschaftskörper des Volkes ihre Vertretung erhalten würden, werden nur ihre sachverständigsten Leute in das Zukunftsparlament schicken, und dieses würde somit eine Sachverständigenkammer par exLellonce werden, in der sich niemand ein X für ein U vormachen lassen und nur nach sachlichen Gesichtspunkten entschieden werden würde. Gewiß wird ein solches Parlament dadurch den Anstrich eines rein geschäftlichen Konsortiums erhalten. Das mutet uns vielleicht zuerst etwas nüchtern an, aber schließlich ist es kein Fehler, wenn heutzutage etwas weniger geredet und mehr gearbeitet wird. Das aber dieser geschäftliche Charakter, den das Parlament erhält, einem gedeihlichen Arbeiten hinderlich sein sollte, ist kaum an¬ zunehmen; wahrscheinlich wird die Verständigung in einem solchen Parlament, unter nüchternen Geschäftsleuten, die wissen, um was es sich handelt, leichter sein als unter Volksvertretern, die von politischen Leidenschaften hin- und her¬ geworfen werden. Wie dem auch sei, unter einem solchen Geschäftsparlament werden, wie gesagt, den großen Demagogen die Waffen entwunden und wird damit dem ganzen widerlichen Treiben vor den Wahlen ein Ende gemacht. Dabei ist es bei der Berufsvertretung nicht nötig, daß das Wahlrecht ein indirektes würde; es könnte ruhig allgemein und direkt bleiben, nur wäre es nicht mehr gleich, da ja die verschiedenen Berufsgruppen je nach ihrer Bedeutung für den Staat eine verschiedene Anzahl von Vertretern hätten. Im übrigen soll dieser Artikel keine Auseinandersetzung über Einzelheiten des Berufswahlrechts geben, sondern nur eine Anregung sein, über das Problem des gegenwärtigen Parlamentarismus nachzudenken, eine Aufforderung an die Liberalen, das zu tun. Gewiß ist es für eine Partei ungeheuer schwer, sich von einem Dogma abzukehren, besonders unter den gegenwärtigen Verhältnissen, wo die Sozialdemokratie das Reichstagswahlrecht für tabu erklärt hat und jeden zum „Volksfeinde" stempelt, der es wagt, darüber eine eigene Meinung zu haben. Selbstredend: denn der Sozialdemokratie, die mit Bewußtsein nur wirtschaft¬ liche Interessen vertritt, kommt die heutige ideologische Zerfahrenheit im bürger¬ lichen Lager nur zu gut. Immerhin, der Liberalismus sollte sich sagen: das allgemeine gleiche Wahlrecht ist etwas Gewordenes, und als etwas Gewordenes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/418>, abgerufen am 01.07.2024.