Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Schaffen und Genießen

dauernden Besitz werden könnte. Die Vorträge selbst können solche Mittelpunkte
im allgemeinen nicht schaffen, schon weil ihrer und der verwandten Eindrücke
zu viele sind. Noch schlimmer ist ein zweiter Fehler. Die Ergebnisse der Wissenschaft
werden uns fertig dargeboten, sie brauchen nicht selbst erarbeitet zu werden. Die
Hörer erhalten keinen Einblick in die Verfahren, durch die sie gewonnen wurden,
in die Mühen, unter denen sie entstanden sind, geschweige denn, daß sie bei ihren
Lehrern diese Mühen im kleinen selbst mit- und nacherlebten. Sie werden nicht
in die Methoden und die Arbeiten der Wissenschaft, sondern nur in deren fertige
Ergebnisse eingeführt; und selbst deren passives Verständnis wird ihnen oft
schwierig sein, denn der Stoff muß schon aus Zeitmangel zu sehr verdichtet und
zusammengedrängt werden, als daß eine tiefere Begründung für den Lehrer
und ein wirkliches Durchdenken schwierigerer Begriffe und Probleme für den
Hörenden möglich wäre. Auch das Vielerlei der Interessen und Eindrücke wirkt
nachteilig, indem es die Konzentration und die verfügbare Kraft des Gedächt¬
nisses beeinträchtigt. Man frage sich einmal, ob wohl für die meisten die
beliebten physikalischen Experimentalvorträge etwas anderes bedeuten als in
früheren Zeiten und für einen Teil der Hörer noch heute vielfach die Mit¬
teilungen eines Afrika- oder Polarreisenden: nämlich ein Darbieten von Kuriosi¬
täten, die man mit blödem Staunen hinnimmt. Die heute ebenfalls außer¬
ordentlich verbreitete populäre wissenschaftliche Literatur leidet an demselben
Übel, alles fertig auf dem Präsentierteller darzubieten. In wahren Strömen
ergießen heute bekanntlich die Verleger Serien populärer Darstellungen, die sich
über alles Wissenswerte verbreiten. Ein wesentliches Erfordernis aber für den
Absatz ist die Kürze des einzelnen Bandes: der Verfasser wird dazu gedrängt,
den Stoff möglichst zusammenzupressen und daraus eine Art von Extrakt sür
den geistigen Konsum zu bereiten, natürlich unter sorgsanier Vermeidung alles
dessen, was in die Tiefe führen würde. Hauptsache ist, daß dem Leser alles
recht bequem gemacht wird; daß sein Geist unter der entnervenden Kost erschlafft,
wird nicht beachtet.

Endlich wirkt in demselben Sinne unsere Tagespresse und der breite immer
wachsende Raum, den sie in unserem geistigen Leben einnimmt. Auch sie liefert
dem Leser den Stoff nach dem Prinzip des kleinsten Kraftaufwandes zugeschnitten.
Vom neuesten Straßenplan und Lustspiel bis zur Steuerreform und Abstinenz¬
bewegung werden ihm nicht nur die Tatsachen, sondern auch ihre Werte und
Gegenwerte bündig mitgeteilt; der Stoff ist gleichsam mit der Sauce der Wert¬
urteile bereits Übergossen. Was der Leser über Zweckmäßigkeit oder Unzweck¬
mäßigst von Neformbewegungen, über neue künstlerische Strömungen und
umstrittene sittliche Anschauungen zu denken habe, das sagt ihm in der Regel
in Zusammenhang mit der Parteischablone seine Zeitung klipp und klar. Er
würde ja auch gar keine Zeit zu eigener Stellungnahme haben; soll er doch in
einer halben Stunde einige Dutzende von Materien in sich aufnehmen und
danach nicht etwa die Eindrücke verdauen, sondern an die Tagesarbeit gehen.


Schaffen und Genießen

dauernden Besitz werden könnte. Die Vorträge selbst können solche Mittelpunkte
im allgemeinen nicht schaffen, schon weil ihrer und der verwandten Eindrücke
zu viele sind. Noch schlimmer ist ein zweiter Fehler. Die Ergebnisse der Wissenschaft
werden uns fertig dargeboten, sie brauchen nicht selbst erarbeitet zu werden. Die
Hörer erhalten keinen Einblick in die Verfahren, durch die sie gewonnen wurden,
in die Mühen, unter denen sie entstanden sind, geschweige denn, daß sie bei ihren
Lehrern diese Mühen im kleinen selbst mit- und nacherlebten. Sie werden nicht
in die Methoden und die Arbeiten der Wissenschaft, sondern nur in deren fertige
Ergebnisse eingeführt; und selbst deren passives Verständnis wird ihnen oft
schwierig sein, denn der Stoff muß schon aus Zeitmangel zu sehr verdichtet und
zusammengedrängt werden, als daß eine tiefere Begründung für den Lehrer
und ein wirkliches Durchdenken schwierigerer Begriffe und Probleme für den
Hörenden möglich wäre. Auch das Vielerlei der Interessen und Eindrücke wirkt
nachteilig, indem es die Konzentration und die verfügbare Kraft des Gedächt¬
nisses beeinträchtigt. Man frage sich einmal, ob wohl für die meisten die
beliebten physikalischen Experimentalvorträge etwas anderes bedeuten als in
früheren Zeiten und für einen Teil der Hörer noch heute vielfach die Mit¬
teilungen eines Afrika- oder Polarreisenden: nämlich ein Darbieten von Kuriosi¬
täten, die man mit blödem Staunen hinnimmt. Die heute ebenfalls außer¬
ordentlich verbreitete populäre wissenschaftliche Literatur leidet an demselben
Übel, alles fertig auf dem Präsentierteller darzubieten. In wahren Strömen
ergießen heute bekanntlich die Verleger Serien populärer Darstellungen, die sich
über alles Wissenswerte verbreiten. Ein wesentliches Erfordernis aber für den
Absatz ist die Kürze des einzelnen Bandes: der Verfasser wird dazu gedrängt,
den Stoff möglichst zusammenzupressen und daraus eine Art von Extrakt sür
den geistigen Konsum zu bereiten, natürlich unter sorgsanier Vermeidung alles
dessen, was in die Tiefe führen würde. Hauptsache ist, daß dem Leser alles
recht bequem gemacht wird; daß sein Geist unter der entnervenden Kost erschlafft,
wird nicht beachtet.

Endlich wirkt in demselben Sinne unsere Tagespresse und der breite immer
wachsende Raum, den sie in unserem geistigen Leben einnimmt. Auch sie liefert
dem Leser den Stoff nach dem Prinzip des kleinsten Kraftaufwandes zugeschnitten.
Vom neuesten Straßenplan und Lustspiel bis zur Steuerreform und Abstinenz¬
bewegung werden ihm nicht nur die Tatsachen, sondern auch ihre Werte und
Gegenwerte bündig mitgeteilt; der Stoff ist gleichsam mit der Sauce der Wert¬
urteile bereits Übergossen. Was der Leser über Zweckmäßigkeit oder Unzweck¬
mäßigst von Neformbewegungen, über neue künstlerische Strömungen und
umstrittene sittliche Anschauungen zu denken habe, das sagt ihm in der Regel
in Zusammenhang mit der Parteischablone seine Zeitung klipp und klar. Er
würde ja auch gar keine Zeit zu eigener Stellungnahme haben; soll er doch in
einer halben Stunde einige Dutzende von Materien in sich aufnehmen und
danach nicht etwa die Eindrücke verdauen, sondern an die Tagesarbeit gehen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0368" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322115"/>
            <fw type="header" place="top"> Schaffen und Genießen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1548" prev="#ID_1547"> dauernden Besitz werden könnte. Die Vorträge selbst können solche Mittelpunkte<lb/>
im allgemeinen nicht schaffen, schon weil ihrer und der verwandten Eindrücke<lb/>
zu viele sind. Noch schlimmer ist ein zweiter Fehler. Die Ergebnisse der Wissenschaft<lb/>
werden uns fertig dargeboten, sie brauchen nicht selbst erarbeitet zu werden. Die<lb/>
Hörer erhalten keinen Einblick in die Verfahren, durch die sie gewonnen wurden,<lb/>
in die Mühen, unter denen sie entstanden sind, geschweige denn, daß sie bei ihren<lb/>
Lehrern diese Mühen im kleinen selbst mit- und nacherlebten. Sie werden nicht<lb/>
in die Methoden und die Arbeiten der Wissenschaft, sondern nur in deren fertige<lb/>
Ergebnisse eingeführt; und selbst deren passives Verständnis wird ihnen oft<lb/>
schwierig sein, denn der Stoff muß schon aus Zeitmangel zu sehr verdichtet und<lb/>
zusammengedrängt werden, als daß eine tiefere Begründung für den Lehrer<lb/>
und ein wirkliches Durchdenken schwierigerer Begriffe und Probleme für den<lb/>
Hörenden möglich wäre. Auch das Vielerlei der Interessen und Eindrücke wirkt<lb/>
nachteilig, indem es die Konzentration und die verfügbare Kraft des Gedächt¬<lb/>
nisses beeinträchtigt. Man frage sich einmal, ob wohl für die meisten die<lb/>
beliebten physikalischen Experimentalvorträge etwas anderes bedeuten als in<lb/>
früheren Zeiten und für einen Teil der Hörer noch heute vielfach die Mit¬<lb/>
teilungen eines Afrika- oder Polarreisenden: nämlich ein Darbieten von Kuriosi¬<lb/>
täten, die man mit blödem Staunen hinnimmt. Die heute ebenfalls außer¬<lb/>
ordentlich verbreitete populäre wissenschaftliche Literatur leidet an demselben<lb/>
Übel, alles fertig auf dem Präsentierteller darzubieten. In wahren Strömen<lb/>
ergießen heute bekanntlich die Verleger Serien populärer Darstellungen, die sich<lb/>
über alles Wissenswerte verbreiten. Ein wesentliches Erfordernis aber für den<lb/>
Absatz ist die Kürze des einzelnen Bandes: der Verfasser wird dazu gedrängt,<lb/>
den Stoff möglichst zusammenzupressen und daraus eine Art von Extrakt sür<lb/>
den geistigen Konsum zu bereiten, natürlich unter sorgsanier Vermeidung alles<lb/>
dessen, was in die Tiefe führen würde. Hauptsache ist, daß dem Leser alles<lb/>
recht bequem gemacht wird; daß sein Geist unter der entnervenden Kost erschlafft,<lb/>
wird nicht beachtet.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1549" next="#ID_1550"> Endlich wirkt in demselben Sinne unsere Tagespresse und der breite immer<lb/>
wachsende Raum, den sie in unserem geistigen Leben einnimmt. Auch sie liefert<lb/>
dem Leser den Stoff nach dem Prinzip des kleinsten Kraftaufwandes zugeschnitten.<lb/>
Vom neuesten Straßenplan und Lustspiel bis zur Steuerreform und Abstinenz¬<lb/>
bewegung werden ihm nicht nur die Tatsachen, sondern auch ihre Werte und<lb/>
Gegenwerte bündig mitgeteilt; der Stoff ist gleichsam mit der Sauce der Wert¬<lb/>
urteile bereits Übergossen. Was der Leser über Zweckmäßigkeit oder Unzweck¬<lb/>
mäßigst von Neformbewegungen, über neue künstlerische Strömungen und<lb/>
umstrittene sittliche Anschauungen zu denken habe, das sagt ihm in der Regel<lb/>
in Zusammenhang mit der Parteischablone seine Zeitung klipp und klar. Er<lb/>
würde ja auch gar keine Zeit zu eigener Stellungnahme haben; soll er doch in<lb/>
einer halben Stunde einige Dutzende von Materien in sich aufnehmen und<lb/>
danach nicht etwa die Eindrücke verdauen, sondern an die Tagesarbeit gehen.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0368] Schaffen und Genießen dauernden Besitz werden könnte. Die Vorträge selbst können solche Mittelpunkte im allgemeinen nicht schaffen, schon weil ihrer und der verwandten Eindrücke zu viele sind. Noch schlimmer ist ein zweiter Fehler. Die Ergebnisse der Wissenschaft werden uns fertig dargeboten, sie brauchen nicht selbst erarbeitet zu werden. Die Hörer erhalten keinen Einblick in die Verfahren, durch die sie gewonnen wurden, in die Mühen, unter denen sie entstanden sind, geschweige denn, daß sie bei ihren Lehrern diese Mühen im kleinen selbst mit- und nacherlebten. Sie werden nicht in die Methoden und die Arbeiten der Wissenschaft, sondern nur in deren fertige Ergebnisse eingeführt; und selbst deren passives Verständnis wird ihnen oft schwierig sein, denn der Stoff muß schon aus Zeitmangel zu sehr verdichtet und zusammengedrängt werden, als daß eine tiefere Begründung für den Lehrer und ein wirkliches Durchdenken schwierigerer Begriffe und Probleme für den Hörenden möglich wäre. Auch das Vielerlei der Interessen und Eindrücke wirkt nachteilig, indem es die Konzentration und die verfügbare Kraft des Gedächt¬ nisses beeinträchtigt. Man frage sich einmal, ob wohl für die meisten die beliebten physikalischen Experimentalvorträge etwas anderes bedeuten als in früheren Zeiten und für einen Teil der Hörer noch heute vielfach die Mit¬ teilungen eines Afrika- oder Polarreisenden: nämlich ein Darbieten von Kuriosi¬ täten, die man mit blödem Staunen hinnimmt. Die heute ebenfalls außer¬ ordentlich verbreitete populäre wissenschaftliche Literatur leidet an demselben Übel, alles fertig auf dem Präsentierteller darzubieten. In wahren Strömen ergießen heute bekanntlich die Verleger Serien populärer Darstellungen, die sich über alles Wissenswerte verbreiten. Ein wesentliches Erfordernis aber für den Absatz ist die Kürze des einzelnen Bandes: der Verfasser wird dazu gedrängt, den Stoff möglichst zusammenzupressen und daraus eine Art von Extrakt sür den geistigen Konsum zu bereiten, natürlich unter sorgsanier Vermeidung alles dessen, was in die Tiefe führen würde. Hauptsache ist, daß dem Leser alles recht bequem gemacht wird; daß sein Geist unter der entnervenden Kost erschlafft, wird nicht beachtet. Endlich wirkt in demselben Sinne unsere Tagespresse und der breite immer wachsende Raum, den sie in unserem geistigen Leben einnimmt. Auch sie liefert dem Leser den Stoff nach dem Prinzip des kleinsten Kraftaufwandes zugeschnitten. Vom neuesten Straßenplan und Lustspiel bis zur Steuerreform und Abstinenz¬ bewegung werden ihm nicht nur die Tatsachen, sondern auch ihre Werte und Gegenwerte bündig mitgeteilt; der Stoff ist gleichsam mit der Sauce der Wert¬ urteile bereits Übergossen. Was der Leser über Zweckmäßigkeit oder Unzweck¬ mäßigst von Neformbewegungen, über neue künstlerische Strömungen und umstrittene sittliche Anschauungen zu denken habe, das sagt ihm in der Regel in Zusammenhang mit der Parteischablone seine Zeitung klipp und klar. Er würde ja auch gar keine Zeit zu eigener Stellungnahme haben; soll er doch in einer halben Stunde einige Dutzende von Materien in sich aufnehmen und danach nicht etwa die Eindrücke verdauen, sondern an die Tagesarbeit gehen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/368
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/368>, abgerufen am 22.07.2024.