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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Innere Kolonisation!

sie praktisch zu fördern, es sei denn im Wege des Umsturzes. Dabei gibt es
im Reiche keine zweite Aufgabe, deren Durchführung so sehr geeignet wäre, der
Sozialdemokratie das Wasser abzugraben, wie eben die der inneren Kolonisation.
Von solchen großen Gesichtspunkten aus wird sie in den Grenzboten seit Jahren
behandelt.

Für die praktische Lösung muß die Frage naturgemäß erheblich enger gefaßt
werden als es oben geschieht; es genügt, sie unter dem Gesichtspunkt der Ent¬
völkerung des Ostens zu betrachten, um uns auf den richtigen Weg zu führen.




Ich weiß nicht, wer das Wort "Landflucht" aufgebracht hat; doch glaube
ich, daß es die Landwirte gewesen find, als sie sich plötzlich der Tatsache des
massenhaften Abzuges von Landarbeitern gegenübersahen. Und doch ist es
seiner inneren Bedeutung nach nur ein gutes Schlagwort für die Gegner der
Landwirtschaft. Wer "flieht", fürchtet sich vor etwas, den treibt etwas fort;
er stürzt planlos davon. Darum liegt auch in dem Wort "Landflucht" alles
das vereinigt, was gegen die Landwirte und besonders gegen den Großgrundbesitz
an Vorwürfen zusammengetragen worden ist, wegen schlechter Behandlung der
Leute, schlechter Wohnungseinrichtungen, schlechter Bezahlung, schlechter sanitärer
Verhältnisse usw. Tatsächlich bezeichnet das Wort "Landflucht" die Bewegung,
die wir aus den Dörfern der Ostmark nach dem Westen hin beobachten, nicht.
Denn wenn auch in der Zeit, als unsere Auswanderung die größte Zahl
erreichte, die Erwerbsverhältnisse auf den: platten Lande so mangelhaft waren,
daß das Land zahlreiche Familien nicht zu erhalten vermochte, fo war es doch
in erster Linie die Hoffnung auf Verbesserung der Lage, die die Leute fort¬
lockte. Sie flohen nicht, sie wurden gezogen! Besonders, nachdem die ersten
Auswanderer in Rußland und Amerika zu leidlichen Verdiensten gekommen
waren und ihren Angehörigen daheim von ihrem Wohlstand erzählen konnten,
hat sich auch bei den Zurückgebliebenen die Sehnsucht herausgebildet, die
geschilderten Vorteile selbst genießen zu können. Als dann die Industrie in
Deutschland entwickelt wurde, um der Auswanderung zu steuern und als in leicht
erreichbarer Nähe, wenn nicht amerikanische Verhältnisse so doch wenigstens auf dem
Lande unbekannte Verdienste und Freiheiten möglich wurden, da wandelte sich die
geheime Sehnsucht in Sucht, und angezogen von den neuen großen Erwerbs¬
aussichten, verlassen die Landbewohner auch heute noch ihre Heimstätten, wo sich
die Verhältnisse doch schon längst recht ins Gegenteil verschoben haben.

Einmal in Bewegung gesetzt, konnte der gewaltige Strom, der sich von
Osten nach Westen hin ergoß, nicht dadurch ausgehalten werden, daß die Land¬
wirtschaft, die selbst infolge der Industrialisierung bessere Absatzmöglichkeiten
für ihre Produkte erhielt und nun emporblühte, erhebliche Aufwendungen und
Anstrengungen machte, um die soziale Lage ihrer Arbeiter zu heben. Die
Wohnungen wurden verbessert, das Deputat wurde vergrößert, hier und dort


Innere Kolonisation!

sie praktisch zu fördern, es sei denn im Wege des Umsturzes. Dabei gibt es
im Reiche keine zweite Aufgabe, deren Durchführung so sehr geeignet wäre, der
Sozialdemokratie das Wasser abzugraben, wie eben die der inneren Kolonisation.
Von solchen großen Gesichtspunkten aus wird sie in den Grenzboten seit Jahren
behandelt.

Für die praktische Lösung muß die Frage naturgemäß erheblich enger gefaßt
werden als es oben geschieht; es genügt, sie unter dem Gesichtspunkt der Ent¬
völkerung des Ostens zu betrachten, um uns auf den richtigen Weg zu führen.




Ich weiß nicht, wer das Wort „Landflucht" aufgebracht hat; doch glaube
ich, daß es die Landwirte gewesen find, als sie sich plötzlich der Tatsache des
massenhaften Abzuges von Landarbeitern gegenübersahen. Und doch ist es
seiner inneren Bedeutung nach nur ein gutes Schlagwort für die Gegner der
Landwirtschaft. Wer „flieht", fürchtet sich vor etwas, den treibt etwas fort;
er stürzt planlos davon. Darum liegt auch in dem Wort „Landflucht" alles
das vereinigt, was gegen die Landwirte und besonders gegen den Großgrundbesitz
an Vorwürfen zusammengetragen worden ist, wegen schlechter Behandlung der
Leute, schlechter Wohnungseinrichtungen, schlechter Bezahlung, schlechter sanitärer
Verhältnisse usw. Tatsächlich bezeichnet das Wort „Landflucht" die Bewegung,
die wir aus den Dörfern der Ostmark nach dem Westen hin beobachten, nicht.
Denn wenn auch in der Zeit, als unsere Auswanderung die größte Zahl
erreichte, die Erwerbsverhältnisse auf den: platten Lande so mangelhaft waren,
daß das Land zahlreiche Familien nicht zu erhalten vermochte, fo war es doch
in erster Linie die Hoffnung auf Verbesserung der Lage, die die Leute fort¬
lockte. Sie flohen nicht, sie wurden gezogen! Besonders, nachdem die ersten
Auswanderer in Rußland und Amerika zu leidlichen Verdiensten gekommen
waren und ihren Angehörigen daheim von ihrem Wohlstand erzählen konnten,
hat sich auch bei den Zurückgebliebenen die Sehnsucht herausgebildet, die
geschilderten Vorteile selbst genießen zu können. Als dann die Industrie in
Deutschland entwickelt wurde, um der Auswanderung zu steuern und als in leicht
erreichbarer Nähe, wenn nicht amerikanische Verhältnisse so doch wenigstens auf dem
Lande unbekannte Verdienste und Freiheiten möglich wurden, da wandelte sich die
geheime Sehnsucht in Sucht, und angezogen von den neuen großen Erwerbs¬
aussichten, verlassen die Landbewohner auch heute noch ihre Heimstätten, wo sich
die Verhältnisse doch schon längst recht ins Gegenteil verschoben haben.

Einmal in Bewegung gesetzt, konnte der gewaltige Strom, der sich von
Osten nach Westen hin ergoß, nicht dadurch ausgehalten werden, daß die Land¬
wirtschaft, die selbst infolge der Industrialisierung bessere Absatzmöglichkeiten
für ihre Produkte erhielt und nun emporblühte, erhebliche Aufwendungen und
Anstrengungen machte, um die soziale Lage ihrer Arbeiter zu heben. Die
Wohnungen wurden verbessert, das Deputat wurde vergrößert, hier und dort


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[0354] Innere Kolonisation! sie praktisch zu fördern, es sei denn im Wege des Umsturzes. Dabei gibt es im Reiche keine zweite Aufgabe, deren Durchführung so sehr geeignet wäre, der Sozialdemokratie das Wasser abzugraben, wie eben die der inneren Kolonisation. Von solchen großen Gesichtspunkten aus wird sie in den Grenzboten seit Jahren behandelt. Für die praktische Lösung muß die Frage naturgemäß erheblich enger gefaßt werden als es oben geschieht; es genügt, sie unter dem Gesichtspunkt der Ent¬ völkerung des Ostens zu betrachten, um uns auf den richtigen Weg zu führen. Ich weiß nicht, wer das Wort „Landflucht" aufgebracht hat; doch glaube ich, daß es die Landwirte gewesen find, als sie sich plötzlich der Tatsache des massenhaften Abzuges von Landarbeitern gegenübersahen. Und doch ist es seiner inneren Bedeutung nach nur ein gutes Schlagwort für die Gegner der Landwirtschaft. Wer „flieht", fürchtet sich vor etwas, den treibt etwas fort; er stürzt planlos davon. Darum liegt auch in dem Wort „Landflucht" alles das vereinigt, was gegen die Landwirte und besonders gegen den Großgrundbesitz an Vorwürfen zusammengetragen worden ist, wegen schlechter Behandlung der Leute, schlechter Wohnungseinrichtungen, schlechter Bezahlung, schlechter sanitärer Verhältnisse usw. Tatsächlich bezeichnet das Wort „Landflucht" die Bewegung, die wir aus den Dörfern der Ostmark nach dem Westen hin beobachten, nicht. Denn wenn auch in der Zeit, als unsere Auswanderung die größte Zahl erreichte, die Erwerbsverhältnisse auf den: platten Lande so mangelhaft waren, daß das Land zahlreiche Familien nicht zu erhalten vermochte, fo war es doch in erster Linie die Hoffnung auf Verbesserung der Lage, die die Leute fort¬ lockte. Sie flohen nicht, sie wurden gezogen! Besonders, nachdem die ersten Auswanderer in Rußland und Amerika zu leidlichen Verdiensten gekommen waren und ihren Angehörigen daheim von ihrem Wohlstand erzählen konnten, hat sich auch bei den Zurückgebliebenen die Sehnsucht herausgebildet, die geschilderten Vorteile selbst genießen zu können. Als dann die Industrie in Deutschland entwickelt wurde, um der Auswanderung zu steuern und als in leicht erreichbarer Nähe, wenn nicht amerikanische Verhältnisse so doch wenigstens auf dem Lande unbekannte Verdienste und Freiheiten möglich wurden, da wandelte sich die geheime Sehnsucht in Sucht, und angezogen von den neuen großen Erwerbs¬ aussichten, verlassen die Landbewohner auch heute noch ihre Heimstätten, wo sich die Verhältnisse doch schon längst recht ins Gegenteil verschoben haben. Einmal in Bewegung gesetzt, konnte der gewaltige Strom, der sich von Osten nach Westen hin ergoß, nicht dadurch ausgehalten werden, daß die Land¬ wirtschaft, die selbst infolge der Industrialisierung bessere Absatzmöglichkeiten für ihre Produkte erhielt und nun emporblühte, erhebliche Aufwendungen und Anstrengungen machte, um die soziale Lage ihrer Arbeiter zu heben. Die Wohnungen wurden verbessert, das Deputat wurde vergrößert, hier und dort

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/354>, abgerufen am 03.07.2024.