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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Das Lpos in der Gegenwart

kausal mit dem ihn von Kindesbeinen an umgebenden Leben verwachsen ist.
Der Epiker hat den Erinnerungsstoff der Gesamtheit künstlerisch zu gestalten.
Er erinnert sich ganz persönlich der ganzen völkischen oder gar menschheitlicher
Vergangenheit. Dieser Vorgang ist heute so gut möglich wie zu Homers Zeiten,
heute so selten wie damals. Der ganze Unterschied zwischen den beiden "Welt¬
momenten", um Hegelisch zu sprechen, bewirkt nur eine Ausdehnung des Rahmens:
die Gesamtheit ist eine größere geworden. Nicht nur, weil eine Nation viele
Millionen zählt, nicht nur, weil das nationale Erbgut über die politische Grenze
hinaus stammverwandten Völkern eignen kann, sondern weil wir bereits ein
internationales Erbgut kennen. So umfaßt die klassisch-christliche Mythologie,
die Sagen von den Kreuzzügen, von der Reformation alle abendländischen
Völker. Das Erbe, das den Epiker ermöglicht, ist nicht ärmer heut als je. Er
darf die Gesamtvergangenheit so gut wie Dante mit dem Gefühlsinhalt eigener
Erinnerung füllen, so weit, daß ihm die Menschheit, oder nur sein Volk oder
auch nur ein Teil desselben, seine Kaste, folgen könne. So wenig wie für den
Dramatiker oder für den Lyriker besteht für ihn die dogmatische Forderung,
stets der Gesamtheit seines Volkes zugänglich zu sein. Wozu auch? Der eine
mag doch nur den oberen Zehntausend, der andere den Millionen genügen, eine
"Kunst für alle" gab es nie, kann es nie geben. Auch Homer war ein Kasten-
Sänger und höfischer Epiker. Der künstlerische Wert seines Werkes wird sich
erst recht nie bloß nach der Größe seines Leserkreises bestimmen lassen. Übrigens
kann ein Epos -- so gut wie Drama und Lyrik -- auch andere, nicht künst-
lerische Werte haben. Jedenfalls besteht in der Entstehungsart des Epos keinerlei
Hindernis, weshalb ein einzelner, ein Moderner, -- vorausgesetzt daß er in
irgendeinem geistigen Erbgut, irgendeiner menschlichen Gemeinschaft erblich
wurzelt, kein echtes, großes und modernes Epos schaffen könnte oder durfte.

Die Fähigkeit des großepischen Genusses, das Gehör sür das große,
monotone Rauschen des Weltenrhythmus mußte im heutigen Geschlecht erst geweckt,
vielleicht gar erzeugt werden, denn der psychologische Roman des neunzehnten
Jahrhunderts hat die Sinne in der entgegengesetzten Richtung entwickelt. Der
Zug der Monumentalität im wirtschaftlichen Leben hat dies bewerkstelligt.

Vorerst hat uns der Amerikanismus eine äußerliche, rein zahlenmäßige
Monumentalität beschert. Ungeheuere, unerhörte Zahlen der Entfernung, der
Schnelligkeit, des Erwerbs, der Preise, der Größen aller Art traten erzieherisch
in die Wirklichkeit. Die kleinen Betriebe wurden in Riesenorganisationen
zusammen gesaßt. Der Trust, das Weizenfeld, daran der Schnellzug stundenlang
vorbeifährt, das mit dem Dampfpflug befahren wird, -- das alles bedeutet
monumentale Bewegung, Entfernung vom Idyll. Gemeinschaftliche Reisen, die
jährlich zweimal von Tausenden mit rhythmischer Regelmäßigkeit unternommen
werden, um ferne Arbeitsstätten aufzusuchen, der Vorortzug, der Tag für Tag
dieselben Menschen zur selben Stunde, zur selben Arbeit führt, das alles ist
eposhast, weil groß und rhythmisch-monoton bewegt.




Das Lpos in der Gegenwart

kausal mit dem ihn von Kindesbeinen an umgebenden Leben verwachsen ist.
Der Epiker hat den Erinnerungsstoff der Gesamtheit künstlerisch zu gestalten.
Er erinnert sich ganz persönlich der ganzen völkischen oder gar menschheitlicher
Vergangenheit. Dieser Vorgang ist heute so gut möglich wie zu Homers Zeiten,
heute so selten wie damals. Der ganze Unterschied zwischen den beiden „Welt¬
momenten", um Hegelisch zu sprechen, bewirkt nur eine Ausdehnung des Rahmens:
die Gesamtheit ist eine größere geworden. Nicht nur, weil eine Nation viele
Millionen zählt, nicht nur, weil das nationale Erbgut über die politische Grenze
hinaus stammverwandten Völkern eignen kann, sondern weil wir bereits ein
internationales Erbgut kennen. So umfaßt die klassisch-christliche Mythologie,
die Sagen von den Kreuzzügen, von der Reformation alle abendländischen
Völker. Das Erbe, das den Epiker ermöglicht, ist nicht ärmer heut als je. Er
darf die Gesamtvergangenheit so gut wie Dante mit dem Gefühlsinhalt eigener
Erinnerung füllen, so weit, daß ihm die Menschheit, oder nur sein Volk oder
auch nur ein Teil desselben, seine Kaste, folgen könne. So wenig wie für den
Dramatiker oder für den Lyriker besteht für ihn die dogmatische Forderung,
stets der Gesamtheit seines Volkes zugänglich zu sein. Wozu auch? Der eine
mag doch nur den oberen Zehntausend, der andere den Millionen genügen, eine
„Kunst für alle" gab es nie, kann es nie geben. Auch Homer war ein Kasten-
Sänger und höfischer Epiker. Der künstlerische Wert seines Werkes wird sich
erst recht nie bloß nach der Größe seines Leserkreises bestimmen lassen. Übrigens
kann ein Epos — so gut wie Drama und Lyrik — auch andere, nicht künst-
lerische Werte haben. Jedenfalls besteht in der Entstehungsart des Epos keinerlei
Hindernis, weshalb ein einzelner, ein Moderner, — vorausgesetzt daß er in
irgendeinem geistigen Erbgut, irgendeiner menschlichen Gemeinschaft erblich
wurzelt, kein echtes, großes und modernes Epos schaffen könnte oder durfte.

Die Fähigkeit des großepischen Genusses, das Gehör sür das große,
monotone Rauschen des Weltenrhythmus mußte im heutigen Geschlecht erst geweckt,
vielleicht gar erzeugt werden, denn der psychologische Roman des neunzehnten
Jahrhunderts hat die Sinne in der entgegengesetzten Richtung entwickelt. Der
Zug der Monumentalität im wirtschaftlichen Leben hat dies bewerkstelligt.

Vorerst hat uns der Amerikanismus eine äußerliche, rein zahlenmäßige
Monumentalität beschert. Ungeheuere, unerhörte Zahlen der Entfernung, der
Schnelligkeit, des Erwerbs, der Preise, der Größen aller Art traten erzieherisch
in die Wirklichkeit. Die kleinen Betriebe wurden in Riesenorganisationen
zusammen gesaßt. Der Trust, das Weizenfeld, daran der Schnellzug stundenlang
vorbeifährt, das mit dem Dampfpflug befahren wird, — das alles bedeutet
monumentale Bewegung, Entfernung vom Idyll. Gemeinschaftliche Reisen, die
jährlich zweimal von Tausenden mit rhythmischer Regelmäßigkeit unternommen
werden, um ferne Arbeitsstätten aufzusuchen, der Vorortzug, der Tag für Tag
dieselben Menschen zur selben Stunde, zur selben Arbeit führt, das alles ist
eposhast, weil groß und rhythmisch-monoton bewegt.




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[0315] Das Lpos in der Gegenwart kausal mit dem ihn von Kindesbeinen an umgebenden Leben verwachsen ist. Der Epiker hat den Erinnerungsstoff der Gesamtheit künstlerisch zu gestalten. Er erinnert sich ganz persönlich der ganzen völkischen oder gar menschheitlicher Vergangenheit. Dieser Vorgang ist heute so gut möglich wie zu Homers Zeiten, heute so selten wie damals. Der ganze Unterschied zwischen den beiden „Welt¬ momenten", um Hegelisch zu sprechen, bewirkt nur eine Ausdehnung des Rahmens: die Gesamtheit ist eine größere geworden. Nicht nur, weil eine Nation viele Millionen zählt, nicht nur, weil das nationale Erbgut über die politische Grenze hinaus stammverwandten Völkern eignen kann, sondern weil wir bereits ein internationales Erbgut kennen. So umfaßt die klassisch-christliche Mythologie, die Sagen von den Kreuzzügen, von der Reformation alle abendländischen Völker. Das Erbe, das den Epiker ermöglicht, ist nicht ärmer heut als je. Er darf die Gesamtvergangenheit so gut wie Dante mit dem Gefühlsinhalt eigener Erinnerung füllen, so weit, daß ihm die Menschheit, oder nur sein Volk oder auch nur ein Teil desselben, seine Kaste, folgen könne. So wenig wie für den Dramatiker oder für den Lyriker besteht für ihn die dogmatische Forderung, stets der Gesamtheit seines Volkes zugänglich zu sein. Wozu auch? Der eine mag doch nur den oberen Zehntausend, der andere den Millionen genügen, eine „Kunst für alle" gab es nie, kann es nie geben. Auch Homer war ein Kasten- Sänger und höfischer Epiker. Der künstlerische Wert seines Werkes wird sich erst recht nie bloß nach der Größe seines Leserkreises bestimmen lassen. Übrigens kann ein Epos — so gut wie Drama und Lyrik — auch andere, nicht künst- lerische Werte haben. Jedenfalls besteht in der Entstehungsart des Epos keinerlei Hindernis, weshalb ein einzelner, ein Moderner, — vorausgesetzt daß er in irgendeinem geistigen Erbgut, irgendeiner menschlichen Gemeinschaft erblich wurzelt, kein echtes, großes und modernes Epos schaffen könnte oder durfte. Die Fähigkeit des großepischen Genusses, das Gehör sür das große, monotone Rauschen des Weltenrhythmus mußte im heutigen Geschlecht erst geweckt, vielleicht gar erzeugt werden, denn der psychologische Roman des neunzehnten Jahrhunderts hat die Sinne in der entgegengesetzten Richtung entwickelt. Der Zug der Monumentalität im wirtschaftlichen Leben hat dies bewerkstelligt. Vorerst hat uns der Amerikanismus eine äußerliche, rein zahlenmäßige Monumentalität beschert. Ungeheuere, unerhörte Zahlen der Entfernung, der Schnelligkeit, des Erwerbs, der Preise, der Größen aller Art traten erzieherisch in die Wirklichkeit. Die kleinen Betriebe wurden in Riesenorganisationen zusammen gesaßt. Der Trust, das Weizenfeld, daran der Schnellzug stundenlang vorbeifährt, das mit dem Dampfpflug befahren wird, — das alles bedeutet monumentale Bewegung, Entfernung vom Idyll. Gemeinschaftliche Reisen, die jährlich zweimal von Tausenden mit rhythmischer Regelmäßigkeit unternommen werden, um ferne Arbeitsstätten aufzusuchen, der Vorortzug, der Tag für Tag dieselben Menschen zur selben Stunde, zur selben Arbeit führt, das alles ist eposhast, weil groß und rhythmisch-monoton bewegt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/315>, abgerufen am 01.07.2024.