Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.Roichsspiegel freudiges Bekenntnis zu den neuen staatsrechtlichen Verhältnissen zu wecken. Mit Und nun die Regierung! Die Vorgänge der letzten Zeit haben uns die Die Vorgänge in Bayern haben uns gezeigt, daß es der bayerischen Roichsspiegel freudiges Bekenntnis zu den neuen staatsrechtlichen Verhältnissen zu wecken. Mit Und nun die Regierung! Die Vorgänge der letzten Zeit haben uns die Die Vorgänge in Bayern haben uns gezeigt, daß es der bayerischen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0299" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322046"/> <fw type="header" place="top"> Roichsspiegel</fw><lb/> <p xml:id="ID_1238" prev="#ID_1237"> freudiges Bekenntnis zu den neuen staatsrechtlichen Verhältnissen zu wecken. Mit<lb/> dem von ihm vertretenen föderalistischen Prinzip ist eine Förderung und Pflege<lb/> des Reichsgedankens, in welcher Form immer, unvereinbar. Wenn daher heute<lb/> im bayerischen Volke die partikularistische Gesinnung einen so breiten Raum ein¬<lb/> nimmt, so liegt ein großer Teil der Schuld bei jener Partei, die ihre wirksamste<lb/> Obsorge auf die volle Auswirkung, die Beibehaltung und Behauptung des föde¬<lb/> ralistischen Grundcharakters des Reiches erstreckt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1239"> Und nun die Regierung! Die Vorgänge der letzten Zeit haben uns die<lb/> bedauerliche Erkenntnis vermittelt, daß die derzeitige bayerische Regierung kaum<lb/> einen anderen Standpunkt zum Reichsgedanken einnimmt als ehedem die Regierung<lb/> des Grafen Bray. Wo bleibt der Reichsgedanke, wenn der Ministerpräsident<lb/> des zweitgrößten deutschen Gliedstaates den Versuch macht, im Verordnungswege<lb/> ein ihm unangenehmes, aber auf verfassungsmäßigen Wege zustande gekommenes<lb/> Reichsgesetz zu umgehen? Wo bleibt die Autorität vor den Reichsgesetzen, wenn<lb/> der Ministerpräsident des größten süddeutschen Staates das ihm unbequeme Gesetz<lb/> ein „odioses Ausnahmegesetz", das „ohne jede zwingende Veranlassung erlassen<lb/> sei", nennt. Freiherr von Hertling hat es abgelehnt Parteiminister und Präsident<lb/> eines Parteiministeriums zu sein. Seine erste entscheidende Tat und seine Worte,<lb/> mit denen er sie zu rechtfertigen sucht, beweisen das Gegenteil, beweisen, daß er<lb/> aus den Anschauungen derjenigen Partei, deren Führer er bis vor kurzem war,<lb/> nicht hinaus konnte. Was ist es anders als eine Forderung des Zentrums, wenn<lb/> Herr von Hertling, kaum zur Regierung gelangt, den Jesuiten die Ausübung ihrer<lb/> Tätigkeit, soweit es in seinen Kräften steht, zu ermöglichen und zu erleichtern ver-<lb/> sucht? Was ist es anders als der Ausdruck einer unverfälschten föderalistischen<lb/> Gesinnung wenn Herr von Hertling die Autorität des Reichsgesetzes durch einen<lb/> ministeriellen Erlaß glaubt beugen zu können? Wenn Herr von Hertling sagte,<lb/> er habe sich für berechtigt halten müssen, in der Weise vorzugehen, wie er vor¬<lb/> gegangen sei, so wird man ihm das aufs Wort glauben; diese Worte sagen aber<lb/> nichts anders, als daß ihm staatsrechtliche Erwägungen ferner liegen als ultra¬<lb/> montane Gedankengänge. Herr von Hertling ist nicht der einzige Vertreter par-<lb/> tikularistischer Tendenzen im bayerischen Staatsministerium. Seine Anschauungen<lb/> werden allem Anscheine nach von seinen Kollegen geteilt. Herr von Soden hat<lb/> darüber für seine Person keinen Zweifel gelassen. Ihm ist das Anrufen der<lb/> Reichsregierung durch den Grasen Törring, das „Anrufen einer anderen Hilfe",<lb/> ein so unerhörter noch nie dagewesener Vorgang, daß er glaubte, ihn zurückweisen<lb/> zu müssen. Das Unerhörte dieses Vorganges ist nicht einzusehen, und daß er<lb/> noch nicht dagewesen sei, kann sich wohl nur auf das Hohe Haus der Reichsrüte<lb/> beziehen. Was Graf Törring tat war nichts anderes als die Ausübung eines<lb/> Rechtes, das jedem Deutschen zusteht, da jeder Deutsche eben nicht nur Angehöriger<lb/> seines Einzelstaates, sondern auch des Deutschen Reiches ist. Wenn Herr von<lb/> Soden derartiges unerhört findet und als Anrufung einer „anderen" Hilfe<lb/> bezeichnet, so spricht das dafür, daß in ihm die Erinnerung an den Deutschen<lb/> Bund, an die Selbständigkeit Bayerns und seine Unabhängigkeit von einer „anderen"<lb/> Instanz noch lebendig ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1240" next="#ID_1241"> Die Vorgänge in Bayern haben uns gezeigt, daß es der bayerischen<lb/> Regierung trotz mehr als vierzigjährigen Bestehens des Reiches nicht möglich war,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0299]
Roichsspiegel
freudiges Bekenntnis zu den neuen staatsrechtlichen Verhältnissen zu wecken. Mit
dem von ihm vertretenen föderalistischen Prinzip ist eine Förderung und Pflege
des Reichsgedankens, in welcher Form immer, unvereinbar. Wenn daher heute
im bayerischen Volke die partikularistische Gesinnung einen so breiten Raum ein¬
nimmt, so liegt ein großer Teil der Schuld bei jener Partei, die ihre wirksamste
Obsorge auf die volle Auswirkung, die Beibehaltung und Behauptung des föde¬
ralistischen Grundcharakters des Reiches erstreckt.
Und nun die Regierung! Die Vorgänge der letzten Zeit haben uns die
bedauerliche Erkenntnis vermittelt, daß die derzeitige bayerische Regierung kaum
einen anderen Standpunkt zum Reichsgedanken einnimmt als ehedem die Regierung
des Grafen Bray. Wo bleibt der Reichsgedanke, wenn der Ministerpräsident
des zweitgrößten deutschen Gliedstaates den Versuch macht, im Verordnungswege
ein ihm unangenehmes, aber auf verfassungsmäßigen Wege zustande gekommenes
Reichsgesetz zu umgehen? Wo bleibt die Autorität vor den Reichsgesetzen, wenn
der Ministerpräsident des größten süddeutschen Staates das ihm unbequeme Gesetz
ein „odioses Ausnahmegesetz", das „ohne jede zwingende Veranlassung erlassen
sei", nennt. Freiherr von Hertling hat es abgelehnt Parteiminister und Präsident
eines Parteiministeriums zu sein. Seine erste entscheidende Tat und seine Worte,
mit denen er sie zu rechtfertigen sucht, beweisen das Gegenteil, beweisen, daß er
aus den Anschauungen derjenigen Partei, deren Führer er bis vor kurzem war,
nicht hinaus konnte. Was ist es anders als eine Forderung des Zentrums, wenn
Herr von Hertling, kaum zur Regierung gelangt, den Jesuiten die Ausübung ihrer
Tätigkeit, soweit es in seinen Kräften steht, zu ermöglichen und zu erleichtern ver-
sucht? Was ist es anders als der Ausdruck einer unverfälschten föderalistischen
Gesinnung wenn Herr von Hertling die Autorität des Reichsgesetzes durch einen
ministeriellen Erlaß glaubt beugen zu können? Wenn Herr von Hertling sagte,
er habe sich für berechtigt halten müssen, in der Weise vorzugehen, wie er vor¬
gegangen sei, so wird man ihm das aufs Wort glauben; diese Worte sagen aber
nichts anders, als daß ihm staatsrechtliche Erwägungen ferner liegen als ultra¬
montane Gedankengänge. Herr von Hertling ist nicht der einzige Vertreter par-
tikularistischer Tendenzen im bayerischen Staatsministerium. Seine Anschauungen
werden allem Anscheine nach von seinen Kollegen geteilt. Herr von Soden hat
darüber für seine Person keinen Zweifel gelassen. Ihm ist das Anrufen der
Reichsregierung durch den Grasen Törring, das „Anrufen einer anderen Hilfe",
ein so unerhörter noch nie dagewesener Vorgang, daß er glaubte, ihn zurückweisen
zu müssen. Das Unerhörte dieses Vorganges ist nicht einzusehen, und daß er
noch nicht dagewesen sei, kann sich wohl nur auf das Hohe Haus der Reichsrüte
beziehen. Was Graf Törring tat war nichts anderes als die Ausübung eines
Rechtes, das jedem Deutschen zusteht, da jeder Deutsche eben nicht nur Angehöriger
seines Einzelstaates, sondern auch des Deutschen Reiches ist. Wenn Herr von
Soden derartiges unerhört findet und als Anrufung einer „anderen" Hilfe
bezeichnet, so spricht das dafür, daß in ihm die Erinnerung an den Deutschen
Bund, an die Selbständigkeit Bayerns und seine Unabhängigkeit von einer „anderen"
Instanz noch lebendig ist.
Die Vorgänge in Bayern haben uns gezeigt, daß es der bayerischen
Regierung trotz mehr als vierzigjährigen Bestehens des Reiches nicht möglich war,
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