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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Naturtheater erschwerend hinzu. Als sich die
Direktion entschloß, das spröde Wert zu
spielen, wirkte sicherlich die Tatsache mit, daß
der Hintergrund zu diesem Drama der
Weibesliebe von den mächtigen Linien des
Riesengebirges gebildet wird, dessen ganze
Eigenart in das Werk hineinzuspielen scheint.
Dieser Umstand schien die Dichtung für das
Naturtheater geeignet zu machen, und in der
Tat wären die wunderbaren Bilder des
dritten Aktes, wo der Bergschmied und der
frische Wanderer auf der Felsenkuppe seitwärts
von der eigentlichen Bühne standen, auf der
geschlossenen Bühne nicht zu dieser malerischen
Wirkung gelangt. Diese Felspartie mochte
dem Gedanken des Dichters und dein Cha¬
rakter des Riesengebirges am ehesten nahe¬
kommen. Und doch war gerade hier die
Klippe der ganzen Aufführung. Die ersten
beiden Akte spielen in und vor der Berg¬
schmiede. Nirgends tritt etwas Übersinnliches
ein. Ganz anders im dritten Aufzug. Um
Mitternacht rast der Sturm auf der Kamm¬
höhe, und aus dem Dunkel klingen im Winde
die Klagen der Steine. Eine solche Anforderung
zu erfüllen, ist nur dem'geschlossenen Theater
möglich, nur durch einen großen szenischen
Apparat wird das verständlich werden. Alle
diese Möglichkeiten fallen im Naturtheater
weg. Wenn mitten am sonnigen Nachmittage
die Steine zu reden anfangen, so ist der
Bruch zwischen den? Realen und dem Wunder¬
baren, zwischen dem Dargestellten und den
Absichten deS Dichters so außerordentlich
stark, daß notwendig das unvorbereitete
Publikum kopfschüttelnd dasitzen muß. Zudem
gesellte sich noch ein anderer gefährlicher Um¬
stand: die Bühne des Harzer Bergtheaters
liegt außerordentlich tief; die Zuschauerreihen
steigen sehr steil an, so daß man schon von
der Mitte des Amphitheaters die Gestalten
auf der Bühne in starker Verkürzung sieht.
Daraus entspringt die Gefahr, daß der Blick
unwillkürlich in die Höhe schweift und sich
über die tiefliegenden Tannenwaldungen auf
die sonnige Ebene von Quedlinburg und
Umgebung richtet, die wieder nicht mit dein
ernsten, strengen Grundton der Hauptmann-
schen Dichtung zusammengehen will. Da¬
durch muß die Aufmerksamkeit abgelenkt
werden, und das muß besonders dann

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schaden, wenn, wie in unserem Falle, der hohe
philosophische Geduld der Dichtung die un¬
bedingteste Konzentration verlangt. Aus
allen diesen Übelständen ist es zu erklären,
wenn die Dichtung Carl Hciuptmanns auf
dem Harzer Bergtheater nur einen Achtungs¬
erfolg erlangen konnte. In Reinhardts
Kammerspielen oder in einem anderen kleinen
Theater vor einem literarischen Publikum
wäre der Erfolg vielleicht ein anderer gewesen.
Dr. Hans Heinrich Borchardt-

Tagesfragen

Die Wissenschaft der kleinen Jungen.
Vielleicht ist die mißbilligende Verwunderung
über Denkweise und Treiben der jedesmal
nachwachsenden Generation schon so alt wie
unsere Welt. In der Bibel herrscht bereits
Ärgernis ob der Naseweise, Aristophanes stimmt
kräftig bei, und Tacitus zürnt Steifleinen wie
ein schlechter Pädagog. Oft wird eine um
sich begreifliche, aber niemals entschuldbare
Gehässigkeit des Tones gegenüber der Jugend
zur Mode. Das war namentlich in der Epoche
zwischen 18S0 und 1860 der Fall; hier gab
der Politiker Virchow auf einem Parteitage
das prophetisch gewordene Stichwort aus:
"Wir brauchen gar keine jungen Leute in
unserem Lager." Und einige Jahre vor diesem
Diktum hatte ein Publizist den Deutschen
zugerufen, um der eigenen Zukunft willen
die Jugend ernster zu nehmen: "in Deutsch¬
land ist es eine Sünde, jung zu sein." Die
Reaktion blieb denn auch nicht aus. Heute
erkennt man schon, daß seitdem der entgegen¬
gesetzte Fehler begangen worden ist. Wurde
früher einem zu großen Prozentsätze fähiger
junger Menschen durch imperativen Unverstand
das Leben verdorben, so ist jetzt durch über¬
triebene Beschirmung ein Mißwachs an Leuten
mit Verantwortlichkeitssinn eingetreten. --
Dies zur einleitenden Charakteristik. Eine
merkwürdige Blüte der mildherzigen Haltung
gegenüber dem Jugenddrange erlebt unsere
"schöne Literatur". Die kleinen Jungen werden
zwar majorenn und schreiben moderne Feuil¬
letons, Novellen, Romane, behalten jedoch
den Geschmack der Unterhaltung bei, die dem
krassen Fuchse männlich däucht und gewöhnlich
schon in der Pennälerzeit ihren derbsprachigen
Anfang nimmt. Aber freilich: dies ist eine

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Naturtheater erschwerend hinzu. Als sich die
Direktion entschloß, das spröde Wert zu
spielen, wirkte sicherlich die Tatsache mit, daß
der Hintergrund zu diesem Drama der
Weibesliebe von den mächtigen Linien des
Riesengebirges gebildet wird, dessen ganze
Eigenart in das Werk hineinzuspielen scheint.
Dieser Umstand schien die Dichtung für das
Naturtheater geeignet zu machen, und in der
Tat wären die wunderbaren Bilder des
dritten Aktes, wo der Bergschmied und der
frische Wanderer auf der Felsenkuppe seitwärts
von der eigentlichen Bühne standen, auf der
geschlossenen Bühne nicht zu dieser malerischen
Wirkung gelangt. Diese Felspartie mochte
dem Gedanken des Dichters und dein Cha¬
rakter des Riesengebirges am ehesten nahe¬
kommen. Und doch war gerade hier die
Klippe der ganzen Aufführung. Die ersten
beiden Akte spielen in und vor der Berg¬
schmiede. Nirgends tritt etwas Übersinnliches
ein. Ganz anders im dritten Aufzug. Um
Mitternacht rast der Sturm auf der Kamm¬
höhe, und aus dem Dunkel klingen im Winde
die Klagen der Steine. Eine solche Anforderung
zu erfüllen, ist nur dem'geschlossenen Theater
möglich, nur durch einen großen szenischen
Apparat wird das verständlich werden. Alle
diese Möglichkeiten fallen im Naturtheater
weg. Wenn mitten am sonnigen Nachmittage
die Steine zu reden anfangen, so ist der
Bruch zwischen den? Realen und dem Wunder¬
baren, zwischen dem Dargestellten und den
Absichten deS Dichters so außerordentlich
stark, daß notwendig das unvorbereitete
Publikum kopfschüttelnd dasitzen muß. Zudem
gesellte sich noch ein anderer gefährlicher Um¬
stand: die Bühne des Harzer Bergtheaters
liegt außerordentlich tief; die Zuschauerreihen
steigen sehr steil an, so daß man schon von
der Mitte des Amphitheaters die Gestalten
auf der Bühne in starker Verkürzung sieht.
Daraus entspringt die Gefahr, daß der Blick
unwillkürlich in die Höhe schweift und sich
über die tiefliegenden Tannenwaldungen auf
die sonnige Ebene von Quedlinburg und
Umgebung richtet, die wieder nicht mit dein
ernsten, strengen Grundton der Hauptmann-
schen Dichtung zusammengehen will. Da¬
durch muß die Aufmerksamkeit abgelenkt
werden, und das muß besonders dann

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schaden, wenn, wie in unserem Falle, der hohe
philosophische Geduld der Dichtung die un¬
bedingteste Konzentration verlangt. Aus
allen diesen Übelständen ist es zu erklären,
wenn die Dichtung Carl Hciuptmanns auf
dem Harzer Bergtheater nur einen Achtungs¬
erfolg erlangen konnte. In Reinhardts
Kammerspielen oder in einem anderen kleinen
Theater vor einem literarischen Publikum
wäre der Erfolg vielleicht ein anderer gewesen.
Dr. Hans Heinrich Borchardt-

Tagesfragen

Die Wissenschaft der kleinen Jungen.
Vielleicht ist die mißbilligende Verwunderung
über Denkweise und Treiben der jedesmal
nachwachsenden Generation schon so alt wie
unsere Welt. In der Bibel herrscht bereits
Ärgernis ob der Naseweise, Aristophanes stimmt
kräftig bei, und Tacitus zürnt Steifleinen wie
ein schlechter Pädagog. Oft wird eine um
sich begreifliche, aber niemals entschuldbare
Gehässigkeit des Tones gegenüber der Jugend
zur Mode. Das war namentlich in der Epoche
zwischen 18S0 und 1860 der Fall; hier gab
der Politiker Virchow auf einem Parteitage
das prophetisch gewordene Stichwort aus:
„Wir brauchen gar keine jungen Leute in
unserem Lager." Und einige Jahre vor diesem
Diktum hatte ein Publizist den Deutschen
zugerufen, um der eigenen Zukunft willen
die Jugend ernster zu nehmen: „in Deutsch¬
land ist es eine Sünde, jung zu sein." Die
Reaktion blieb denn auch nicht aus. Heute
erkennt man schon, daß seitdem der entgegen¬
gesetzte Fehler begangen worden ist. Wurde
früher einem zu großen Prozentsätze fähiger
junger Menschen durch imperativen Unverstand
das Leben verdorben, so ist jetzt durch über¬
triebene Beschirmung ein Mißwachs an Leuten
mit Verantwortlichkeitssinn eingetreten. --
Dies zur einleitenden Charakteristik. Eine
merkwürdige Blüte der mildherzigen Haltung
gegenüber dem Jugenddrange erlebt unsere
„schöne Literatur". Die kleinen Jungen werden
zwar majorenn und schreiben moderne Feuil¬
letons, Novellen, Romane, behalten jedoch
den Geschmack der Unterhaltung bei, die dem
krassen Fuchse männlich däucht und gewöhnlich
schon in der Pennälerzeit ihren derbsprachigen
Anfang nimmt. Aber freilich: dies ist eine

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[0247] Maßgebliches und Unmaßgebliches Naturtheater erschwerend hinzu. Als sich die Direktion entschloß, das spröde Wert zu spielen, wirkte sicherlich die Tatsache mit, daß der Hintergrund zu diesem Drama der Weibesliebe von den mächtigen Linien des Riesengebirges gebildet wird, dessen ganze Eigenart in das Werk hineinzuspielen scheint. Dieser Umstand schien die Dichtung für das Naturtheater geeignet zu machen, und in der Tat wären die wunderbaren Bilder des dritten Aktes, wo der Bergschmied und der frische Wanderer auf der Felsenkuppe seitwärts von der eigentlichen Bühne standen, auf der geschlossenen Bühne nicht zu dieser malerischen Wirkung gelangt. Diese Felspartie mochte dem Gedanken des Dichters und dein Cha¬ rakter des Riesengebirges am ehesten nahe¬ kommen. Und doch war gerade hier die Klippe der ganzen Aufführung. Die ersten beiden Akte spielen in und vor der Berg¬ schmiede. Nirgends tritt etwas Übersinnliches ein. Ganz anders im dritten Aufzug. Um Mitternacht rast der Sturm auf der Kamm¬ höhe, und aus dem Dunkel klingen im Winde die Klagen der Steine. Eine solche Anforderung zu erfüllen, ist nur dem'geschlossenen Theater möglich, nur durch einen großen szenischen Apparat wird das verständlich werden. Alle diese Möglichkeiten fallen im Naturtheater weg. Wenn mitten am sonnigen Nachmittage die Steine zu reden anfangen, so ist der Bruch zwischen den? Realen und dem Wunder¬ baren, zwischen dem Dargestellten und den Absichten deS Dichters so außerordentlich stark, daß notwendig das unvorbereitete Publikum kopfschüttelnd dasitzen muß. Zudem gesellte sich noch ein anderer gefährlicher Um¬ stand: die Bühne des Harzer Bergtheaters liegt außerordentlich tief; die Zuschauerreihen steigen sehr steil an, so daß man schon von der Mitte des Amphitheaters die Gestalten auf der Bühne in starker Verkürzung sieht. Daraus entspringt die Gefahr, daß der Blick unwillkürlich in die Höhe schweift und sich über die tiefliegenden Tannenwaldungen auf die sonnige Ebene von Quedlinburg und Umgebung richtet, die wieder nicht mit dein ernsten, strengen Grundton der Hauptmann- schen Dichtung zusammengehen will. Da¬ durch muß die Aufmerksamkeit abgelenkt werden, und das muß besonders dann schaden, wenn, wie in unserem Falle, der hohe philosophische Geduld der Dichtung die un¬ bedingteste Konzentration verlangt. Aus allen diesen Übelständen ist es zu erklären, wenn die Dichtung Carl Hciuptmanns auf dem Harzer Bergtheater nur einen Achtungs¬ erfolg erlangen konnte. In Reinhardts Kammerspielen oder in einem anderen kleinen Theater vor einem literarischen Publikum wäre der Erfolg vielleicht ein anderer gewesen. Dr. Hans Heinrich Borchardt- Tagesfragen Die Wissenschaft der kleinen Jungen. Vielleicht ist die mißbilligende Verwunderung über Denkweise und Treiben der jedesmal nachwachsenden Generation schon so alt wie unsere Welt. In der Bibel herrscht bereits Ärgernis ob der Naseweise, Aristophanes stimmt kräftig bei, und Tacitus zürnt Steifleinen wie ein schlechter Pädagog. Oft wird eine um sich begreifliche, aber niemals entschuldbare Gehässigkeit des Tones gegenüber der Jugend zur Mode. Das war namentlich in der Epoche zwischen 18S0 und 1860 der Fall; hier gab der Politiker Virchow auf einem Parteitage das prophetisch gewordene Stichwort aus: „Wir brauchen gar keine jungen Leute in unserem Lager." Und einige Jahre vor diesem Diktum hatte ein Publizist den Deutschen zugerufen, um der eigenen Zukunft willen die Jugend ernster zu nehmen: „in Deutsch¬ land ist es eine Sünde, jung zu sein." Die Reaktion blieb denn auch nicht aus. Heute erkennt man schon, daß seitdem der entgegen¬ gesetzte Fehler begangen worden ist. Wurde früher einem zu großen Prozentsätze fähiger junger Menschen durch imperativen Unverstand das Leben verdorben, so ist jetzt durch über¬ triebene Beschirmung ein Mißwachs an Leuten mit Verantwortlichkeitssinn eingetreten. -- Dies zur einleitenden Charakteristik. Eine merkwürdige Blüte der mildherzigen Haltung gegenüber dem Jugenddrange erlebt unsere „schöne Literatur". Die kleinen Jungen werden zwar majorenn und schreiben moderne Feuil¬ letons, Novellen, Romane, behalten jedoch den Geschmack der Unterhaltung bei, die dem krassen Fuchse männlich däucht und gewöhnlich schon in der Pennälerzeit ihren derbsprachigen Anfang nimmt. Aber freilich: dies ist eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/247>, abgerufen am 26.06.2024.