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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Futuristen

Bildfläche verstreut ein Auge, eine halbe Frisur, ein halber Mund, ein ganzer
Mund, noch ein Auge, dazwischen ein fast vollständiges Fernbild der Tänzerin.
Das Nahbild ist deswegen so zerrissen, die Einzeleindrücke sind mit Absicht
nebeneinander geordnet und decken sich nicht, weil die Einzelbeobachtungen von
verschiedenen Standpunkten, oder auch etwa mit verschiedener Kopfhaltung und
Blickeinstellung gemacht find, so daß natürlich die Einzeleindrücke räumlich im
Bewußtsein auseinanderfallen mußten, also auch im Bilde. Man muß eben
bei den Futuristen eine naiv körperliche Vorstellung vom Bewußtsein und
vom Seelischen überhaupt voraussetzen, wenn man halbwegs zu einem Verständnis
ihres künstlerischen Wollens gelangen will. Dasselbe Prinzip verwendet Severini
dann noch in dem Bilde "Modistin" und im "Pan - Pan" - Tanz in Monico,
in dem "der Lärm einer Musikkapelle, die champagnertrunkene Menge, der perverse
Tanz der Artistin, das Gelächter und der Farbenreichtum in dem berühmten
Nachtlokal auf dem Montmartre" in einzelne Teileindrücke aufgelöst und durch,
einandergewirbelt werden, so daß hier eins, zwei, drei -- sechs Beine der Tänzerin
nebeneinander erscheinen, da ein großer Hut, da ein Glas, ein Arm, ein
Kopf usw. Ja, Carlo D. Carra unternimmt es sogar, Einzeleindrücke, die ver¬
schiedene Personen von verschiedenen Seiten her von einem Gegenstande haben,
darzustellen. Er schildert den "zweifachen Eindruck, den eine alte Droschke durch
das plötzliche Rütteln hervorruft, bei den Insassen und bei den Vorüber¬
gehenden", oder "die Empfindung eines in der Straßenbahn Fahrenden und
des Beschauers von draußen".

Vor derartigen Bildern muß man allerdings eingestehen: das ist Heller
Unsinn! Man verlangt vom Beschauer, daß er sein Ich teile, sich in zwei
Persönlichkeiten spalte! Wer das kann, ist krank, ist psychisch entartet. Die
Kunst der Futuristen führt uns hier in der Tat auf direktem Wege in das
Gebiet des Psychotischen. Gerade eine derartige Spaltung des Jchbewußtseins
ist charakteristisch für gewisse psychische Krankheitszustände.

Und auch der Umstand, daß es den Futuristen nicht gelingt, oder daß es
ihnen kein Bedürfnis ist, die zersplitterten naturalistischen Teileindrücke in ihren
Werken zu einem neuen und einheitlichen Ganzen zusammenzuschließen, weist auf
eine stark psychotische Veranlagung bei ihnen hin. Der Arzt Dr. H. Stadelmann
betrachtet in seinem lesenswerten Werkchen "Psychopathologie und Kunst"")
gerade den Umstand, daß der Künstler die Fähigkeit zu einem neuschaffenden
Zusammenschluß der sinnlich gegebenen Teileindrücke und Teilvorstellungen besitzt,
als das Wesentliche, wodurch sich künstlerische und psychotische Begabung unter-
scheiden. Mit Recht weist er darauf hin, daß beide Arten der Begabung soweit
übereinstimmen, als sie sich durch eine über das Normale gesteigerte Empfäng¬
lichkeit für nervöse Reize, z. B. durch eine überaus große Feinfühligkeit für
Sinneseindrücke auszeichnen. Weil aber der psychotischen Persönlichkeit die



") München, Piper n, Co.. 1S08,
Grenzvotcn III 1912W
Die Futuristen

Bildfläche verstreut ein Auge, eine halbe Frisur, ein halber Mund, ein ganzer
Mund, noch ein Auge, dazwischen ein fast vollständiges Fernbild der Tänzerin.
Das Nahbild ist deswegen so zerrissen, die Einzeleindrücke sind mit Absicht
nebeneinander geordnet und decken sich nicht, weil die Einzelbeobachtungen von
verschiedenen Standpunkten, oder auch etwa mit verschiedener Kopfhaltung und
Blickeinstellung gemacht find, so daß natürlich die Einzeleindrücke räumlich im
Bewußtsein auseinanderfallen mußten, also auch im Bilde. Man muß eben
bei den Futuristen eine naiv körperliche Vorstellung vom Bewußtsein und
vom Seelischen überhaupt voraussetzen, wenn man halbwegs zu einem Verständnis
ihres künstlerischen Wollens gelangen will. Dasselbe Prinzip verwendet Severini
dann noch in dem Bilde „Modistin" und im „Pan - Pan" - Tanz in Monico,
in dem „der Lärm einer Musikkapelle, die champagnertrunkene Menge, der perverse
Tanz der Artistin, das Gelächter und der Farbenreichtum in dem berühmten
Nachtlokal auf dem Montmartre" in einzelne Teileindrücke aufgelöst und durch,
einandergewirbelt werden, so daß hier eins, zwei, drei — sechs Beine der Tänzerin
nebeneinander erscheinen, da ein großer Hut, da ein Glas, ein Arm, ein
Kopf usw. Ja, Carlo D. Carra unternimmt es sogar, Einzeleindrücke, die ver¬
schiedene Personen von verschiedenen Seiten her von einem Gegenstande haben,
darzustellen. Er schildert den „zweifachen Eindruck, den eine alte Droschke durch
das plötzliche Rütteln hervorruft, bei den Insassen und bei den Vorüber¬
gehenden", oder „die Empfindung eines in der Straßenbahn Fahrenden und
des Beschauers von draußen".

Vor derartigen Bildern muß man allerdings eingestehen: das ist Heller
Unsinn! Man verlangt vom Beschauer, daß er sein Ich teile, sich in zwei
Persönlichkeiten spalte! Wer das kann, ist krank, ist psychisch entartet. Die
Kunst der Futuristen führt uns hier in der Tat auf direktem Wege in das
Gebiet des Psychotischen. Gerade eine derartige Spaltung des Jchbewußtseins
ist charakteristisch für gewisse psychische Krankheitszustände.

Und auch der Umstand, daß es den Futuristen nicht gelingt, oder daß es
ihnen kein Bedürfnis ist, die zersplitterten naturalistischen Teileindrücke in ihren
Werken zu einem neuen und einheitlichen Ganzen zusammenzuschließen, weist auf
eine stark psychotische Veranlagung bei ihnen hin. Der Arzt Dr. H. Stadelmann
betrachtet in seinem lesenswerten Werkchen „Psychopathologie und Kunst"")
gerade den Umstand, daß der Künstler die Fähigkeit zu einem neuschaffenden
Zusammenschluß der sinnlich gegebenen Teileindrücke und Teilvorstellungen besitzt,
als das Wesentliche, wodurch sich künstlerische und psychotische Begabung unter-
scheiden. Mit Recht weist er darauf hin, daß beide Arten der Begabung soweit
übereinstimmen, als sie sich durch eine über das Normale gesteigerte Empfäng¬
lichkeit für nervöse Reize, z. B. durch eine überaus große Feinfühligkeit für
Sinneseindrücke auszeichnen. Weil aber der psychotischen Persönlichkeit die



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[0229] Die Futuristen Bildfläche verstreut ein Auge, eine halbe Frisur, ein halber Mund, ein ganzer Mund, noch ein Auge, dazwischen ein fast vollständiges Fernbild der Tänzerin. Das Nahbild ist deswegen so zerrissen, die Einzeleindrücke sind mit Absicht nebeneinander geordnet und decken sich nicht, weil die Einzelbeobachtungen von verschiedenen Standpunkten, oder auch etwa mit verschiedener Kopfhaltung und Blickeinstellung gemacht find, so daß natürlich die Einzeleindrücke räumlich im Bewußtsein auseinanderfallen mußten, also auch im Bilde. Man muß eben bei den Futuristen eine naiv körperliche Vorstellung vom Bewußtsein und vom Seelischen überhaupt voraussetzen, wenn man halbwegs zu einem Verständnis ihres künstlerischen Wollens gelangen will. Dasselbe Prinzip verwendet Severini dann noch in dem Bilde „Modistin" und im „Pan - Pan" - Tanz in Monico, in dem „der Lärm einer Musikkapelle, die champagnertrunkene Menge, der perverse Tanz der Artistin, das Gelächter und der Farbenreichtum in dem berühmten Nachtlokal auf dem Montmartre" in einzelne Teileindrücke aufgelöst und durch, einandergewirbelt werden, so daß hier eins, zwei, drei — sechs Beine der Tänzerin nebeneinander erscheinen, da ein großer Hut, da ein Glas, ein Arm, ein Kopf usw. Ja, Carlo D. Carra unternimmt es sogar, Einzeleindrücke, die ver¬ schiedene Personen von verschiedenen Seiten her von einem Gegenstande haben, darzustellen. Er schildert den „zweifachen Eindruck, den eine alte Droschke durch das plötzliche Rütteln hervorruft, bei den Insassen und bei den Vorüber¬ gehenden", oder „die Empfindung eines in der Straßenbahn Fahrenden und des Beschauers von draußen". Vor derartigen Bildern muß man allerdings eingestehen: das ist Heller Unsinn! Man verlangt vom Beschauer, daß er sein Ich teile, sich in zwei Persönlichkeiten spalte! Wer das kann, ist krank, ist psychisch entartet. Die Kunst der Futuristen führt uns hier in der Tat auf direktem Wege in das Gebiet des Psychotischen. Gerade eine derartige Spaltung des Jchbewußtseins ist charakteristisch für gewisse psychische Krankheitszustände. Und auch der Umstand, daß es den Futuristen nicht gelingt, oder daß es ihnen kein Bedürfnis ist, die zersplitterten naturalistischen Teileindrücke in ihren Werken zu einem neuen und einheitlichen Ganzen zusammenzuschließen, weist auf eine stark psychotische Veranlagung bei ihnen hin. Der Arzt Dr. H. Stadelmann betrachtet in seinem lesenswerten Werkchen „Psychopathologie und Kunst"") gerade den Umstand, daß der Künstler die Fähigkeit zu einem neuschaffenden Zusammenschluß der sinnlich gegebenen Teileindrücke und Teilvorstellungen besitzt, als das Wesentliche, wodurch sich künstlerische und psychotische Begabung unter- scheiden. Mit Recht weist er darauf hin, daß beide Arten der Begabung soweit übereinstimmen, als sie sich durch eine über das Normale gesteigerte Empfäng¬ lichkeit für nervöse Reize, z. B. durch eine überaus große Feinfühligkeit für Sinneseindrücke auszeichnen. Weil aber der psychotischen Persönlichkeit die ") München, Piper n, Co.. 1S08, Grenzvotcn III 1912W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/229>, abgerufen am 01.07.2024.