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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Die Futuristen
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führen, das tatsächlich Erreichte zu übersehen oder wegen dessen Unvollkommen-
heit den ganzen Weg für ungangbar zu erklären. In Boccionis Bild gibt es
keine Konturen, keine Modellierung, die Formen zerfließen daher, sie lösen sich
auf zu Farben und die Farben, die einzelnen Farbeneindrücke, fließen sogar
ineinander über. Aber der Gesamteindruck dieses Farbengewimmels ist doch
schließlich unverkennbar: es spricht aus ihm eine gewaltig arbeitende, eine sinn¬
verwirrend schnelle und in allen Farbentönen sprühende Bewegung. Die
Futuristen sagen von sich in ihrem Manifest: "Wir leben schon im Absoluten,
denu wir haben schon die ewige, die allgegenwärtige Schnelligkeit geschaffen."
Kleider wir das Körnchen Wahrheit, das in dieser Phrase liegt, in nüchterne
Worte, so könnten wir zugeben, daß die Futuristen die Bewegung in einer
gewissen Abstraktion darzustellen unternehmen, da sie vom Körperlichen als dem
Träger der Bewegung absehen und lediglich mit Hilfe der Farbe in der Er¬
scheinung, mit Hilfe des farbigen Einzeleindrucks, die Bewegung zum Ausdruck
zu bringen suchen. In gewissem Sinne ist es also in der Tat "absolute"
Bewegung, was sich in einigen ihrer Bilder findet, in anderen nach ihrer
Behauptung sich finden soll.

Auch in Luigi Russolos Bild "Revolution" findet sich eine solche "absolute"
Bewegung, und sie ist auch abstrakt dargestellt, das heißt sie ist nicht an
naturalistische Formen gebunden. Dafür ist sie hier aber gewissermaßen in ein
Schema gebracht, schematisiert und rhythmisiert. Ferdinand Hodler bringt in
seinem "Auszug der Jenenser Studenten" den festen Rhythmus, das "Schema"
der Marschbewegung durch das immer wiederholte Gleichmaß in der Stellung
der Marschierenden zum Ausdruck, sie heben zum Beispiel die Beine alle zu
gleicher Höhe, alle mit derselben Kraft. Und aus dieser immer wiederholten,
immer gleich dargestellten Bewegung klingt der unaufhaltsame Rhythmus des
Marschierer^, der "gleiche Schritt und Tritt", nachhaltig verstärkt heraus, so
wie der Böllerschuß in den Bergen an den Felswänden entlang und durch das
Echo verstärkt zurückrollt. Dieses schematisierende oder rhythmisierende Prinzip
in der Bewegungsdarstellung hat Russolo in jenem Gemälde weiter fortgebildet.
Eine Menschenmasse, nach der Erklärung "Das Element der Enthusiasten und
roten Lyriker," dringt vorwärts. In der Masse geht die Form der einzelnen
Körper verloren, aber die rhythmisch und gleichmäßig gehobenen Beine, die
hochgeschwungenen Arme sprechen das unaufhaltsame Vordringen aus, genau
wie bei Hodler. Aber nun löst sich die Bewegung von der vordringenden
Masse gewissermaßen los und setzt sich beinahe wellenförmig über die Masse
hinaus fort, wie sich Schall- oder Lichtwellen fortpflanzen. Was wir nur noch
fühlen, nicht mehr sehen, das Vorwärtsstoßen der Bewegung, ihre Tendenz,
suchte der Maler uns anschaulich zu gestalten und dadurch eindrucksvoller zu
machen. Er ließ die Bewegung über die bewegte Masse hinaus- und vorwärts¬
fließen und nahm sie auf durch rechtwinklig sich treffende Strahlen, die die
ganze linke Seite des Gemäldes füllen und wie Wellensysteme hintereinander


Die Futuristen
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führen, das tatsächlich Erreichte zu übersehen oder wegen dessen Unvollkommen-
heit den ganzen Weg für ungangbar zu erklären. In Boccionis Bild gibt es
keine Konturen, keine Modellierung, die Formen zerfließen daher, sie lösen sich
auf zu Farben und die Farben, die einzelnen Farbeneindrücke, fließen sogar
ineinander über. Aber der Gesamteindruck dieses Farbengewimmels ist doch
schließlich unverkennbar: es spricht aus ihm eine gewaltig arbeitende, eine sinn¬
verwirrend schnelle und in allen Farbentönen sprühende Bewegung. Die
Futuristen sagen von sich in ihrem Manifest: „Wir leben schon im Absoluten,
denu wir haben schon die ewige, die allgegenwärtige Schnelligkeit geschaffen."
Kleider wir das Körnchen Wahrheit, das in dieser Phrase liegt, in nüchterne
Worte, so könnten wir zugeben, daß die Futuristen die Bewegung in einer
gewissen Abstraktion darzustellen unternehmen, da sie vom Körperlichen als dem
Träger der Bewegung absehen und lediglich mit Hilfe der Farbe in der Er¬
scheinung, mit Hilfe des farbigen Einzeleindrucks, die Bewegung zum Ausdruck
zu bringen suchen. In gewissem Sinne ist es also in der Tat „absolute"
Bewegung, was sich in einigen ihrer Bilder findet, in anderen nach ihrer
Behauptung sich finden soll.

Auch in Luigi Russolos Bild „Revolution" findet sich eine solche „absolute"
Bewegung, und sie ist auch abstrakt dargestellt, das heißt sie ist nicht an
naturalistische Formen gebunden. Dafür ist sie hier aber gewissermaßen in ein
Schema gebracht, schematisiert und rhythmisiert. Ferdinand Hodler bringt in
seinem „Auszug der Jenenser Studenten" den festen Rhythmus, das „Schema"
der Marschbewegung durch das immer wiederholte Gleichmaß in der Stellung
der Marschierenden zum Ausdruck, sie heben zum Beispiel die Beine alle zu
gleicher Höhe, alle mit derselben Kraft. Und aus dieser immer wiederholten,
immer gleich dargestellten Bewegung klingt der unaufhaltsame Rhythmus des
Marschierer^, der „gleiche Schritt und Tritt", nachhaltig verstärkt heraus, so
wie der Böllerschuß in den Bergen an den Felswänden entlang und durch das
Echo verstärkt zurückrollt. Dieses schematisierende oder rhythmisierende Prinzip
in der Bewegungsdarstellung hat Russolo in jenem Gemälde weiter fortgebildet.
Eine Menschenmasse, nach der Erklärung „Das Element der Enthusiasten und
roten Lyriker," dringt vorwärts. In der Masse geht die Form der einzelnen
Körper verloren, aber die rhythmisch und gleichmäßig gehobenen Beine, die
hochgeschwungenen Arme sprechen das unaufhaltsame Vordringen aus, genau
wie bei Hodler. Aber nun löst sich die Bewegung von der vordringenden
Masse gewissermaßen los und setzt sich beinahe wellenförmig über die Masse
hinaus fort, wie sich Schall- oder Lichtwellen fortpflanzen. Was wir nur noch
fühlen, nicht mehr sehen, das Vorwärtsstoßen der Bewegung, ihre Tendenz,
suchte der Maler uns anschaulich zu gestalten und dadurch eindrucksvoller zu
machen. Er ließ die Bewegung über die bewegte Masse hinaus- und vorwärts¬
fließen und nahm sie auf durch rechtwinklig sich treffende Strahlen, die die
ganze linke Seite des Gemäldes füllen und wie Wellensysteme hintereinander


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[0225] Die Futuristen 213 führen, das tatsächlich Erreichte zu übersehen oder wegen dessen Unvollkommen- heit den ganzen Weg für ungangbar zu erklären. In Boccionis Bild gibt es keine Konturen, keine Modellierung, die Formen zerfließen daher, sie lösen sich auf zu Farben und die Farben, die einzelnen Farbeneindrücke, fließen sogar ineinander über. Aber der Gesamteindruck dieses Farbengewimmels ist doch schließlich unverkennbar: es spricht aus ihm eine gewaltig arbeitende, eine sinn¬ verwirrend schnelle und in allen Farbentönen sprühende Bewegung. Die Futuristen sagen von sich in ihrem Manifest: „Wir leben schon im Absoluten, denu wir haben schon die ewige, die allgegenwärtige Schnelligkeit geschaffen." Kleider wir das Körnchen Wahrheit, das in dieser Phrase liegt, in nüchterne Worte, so könnten wir zugeben, daß die Futuristen die Bewegung in einer gewissen Abstraktion darzustellen unternehmen, da sie vom Körperlichen als dem Träger der Bewegung absehen und lediglich mit Hilfe der Farbe in der Er¬ scheinung, mit Hilfe des farbigen Einzeleindrucks, die Bewegung zum Ausdruck zu bringen suchen. In gewissem Sinne ist es also in der Tat „absolute" Bewegung, was sich in einigen ihrer Bilder findet, in anderen nach ihrer Behauptung sich finden soll. Auch in Luigi Russolos Bild „Revolution" findet sich eine solche „absolute" Bewegung, und sie ist auch abstrakt dargestellt, das heißt sie ist nicht an naturalistische Formen gebunden. Dafür ist sie hier aber gewissermaßen in ein Schema gebracht, schematisiert und rhythmisiert. Ferdinand Hodler bringt in seinem „Auszug der Jenenser Studenten" den festen Rhythmus, das „Schema" der Marschbewegung durch das immer wiederholte Gleichmaß in der Stellung der Marschierenden zum Ausdruck, sie heben zum Beispiel die Beine alle zu gleicher Höhe, alle mit derselben Kraft. Und aus dieser immer wiederholten, immer gleich dargestellten Bewegung klingt der unaufhaltsame Rhythmus des Marschierer^, der „gleiche Schritt und Tritt", nachhaltig verstärkt heraus, so wie der Böllerschuß in den Bergen an den Felswänden entlang und durch das Echo verstärkt zurückrollt. Dieses schematisierende oder rhythmisierende Prinzip in der Bewegungsdarstellung hat Russolo in jenem Gemälde weiter fortgebildet. Eine Menschenmasse, nach der Erklärung „Das Element der Enthusiasten und roten Lyriker," dringt vorwärts. In der Masse geht die Form der einzelnen Körper verloren, aber die rhythmisch und gleichmäßig gehobenen Beine, die hochgeschwungenen Arme sprechen das unaufhaltsame Vordringen aus, genau wie bei Hodler. Aber nun löst sich die Bewegung von der vordringenden Masse gewissermaßen los und setzt sich beinahe wellenförmig über die Masse hinaus fort, wie sich Schall- oder Lichtwellen fortpflanzen. Was wir nur noch fühlen, nicht mehr sehen, das Vorwärtsstoßen der Bewegung, ihre Tendenz, suchte der Maler uns anschaulich zu gestalten und dadurch eindrucksvoller zu machen. Er ließ die Bewegung über die bewegte Masse hinaus- und vorwärts¬ fließen und nahm sie auf durch rechtwinklig sich treffende Strahlen, die die ganze linke Seite des Gemäldes füllen und wie Wellensysteme hintereinander

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/225>, abgerufen am 03.07.2024.