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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Zum böhmischen Ausgleich

eine Bewegung, die allmählich auf politisches Gebiet übergriff, indem die Träume
tschechischer Romantiker von der Vergangenheit Böhmens zur Zeit der Hussiten
oder zur Zeit der Przemysliden als politische Programme aufgestellt wurden.
Allerdings vergaß man darüber, daß gerade von den Przemnsliden die Germa¬
nisierung Böhmens am mächtigsten gefördert wurde. Mit diesen romantischen
Träumen verband sich ein tief eingewurzelter Deutschenhaß, wie er schon unter
dem heiligen Wenzel, der ihm zum Opfer fiel, und dann zur Hussitenzeit zum
Ausdruck gekommen war. Dazu kamen schließlich noch die demokratischen Be¬
wegungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Diese drei
Umstände, der romantische Staatsrechtstraum, der Deutschenhaß und die demo¬
kratische Bewegung, ließen in dem seit langem politisch toten Volk in wenigen
Jahrzehnten mächtige politische Bewegungen entstehen, besonders als die öster¬
reichischen Regierungen und der Feudaladel ansingen, sich auf seine Seite gegen
die Deutschen zu stellen. Mit Hilfe der Regierung erlangten die Tschechen
1870 auch die Mehrheit im böhmischen Landtag, die vorher deutsch gewesen
war, und damit begann jene Zurücksetzung der Deutschen auf allen vom Land¬
tage abhängigen Gebieten, über die sich diese bis heute so sehr zu beklagen
haben, trotzdem sie über die Hälfte aller Steuern in diesem Lande aufbringen.
Damit begannen auch die Ausgleichsverhandlungen, die damals sehr gute Aus¬
sichten hatten, zu einem Ziele zu führen, da sich die Tschechen noch nicht so
stark und der Hilfe der Regierungen noch nicht so sicher fühlten wie heute;
auch hatte der nationale Überschwang noch nicht alle Schichten des tschechischen
Volkes so erfassen können, wie es heute der Fall ist. Die Ausgleichsverhaud-
lungen wurden aber von dem Feudaladel zum Scheitern gebracht, da dieser
seine staatsrechtlichen föderalistischen Absichten dadurch bedroht sah. Von dieser
Zeit an verharrten die Deutschen meist in Opposition oder Obstruktion. Die
Verhandlungen und Vermittlungsvorschläge der Regierung hörten aber nicht
mehr auf. So wurde mit dem kaiserlichen Reskript vom 12. September 1871,
das den feudal-föderalistischen Wünschen entgegenkommend, die staatsrechtliche
Stellung Böhmens anerkannte, zugleich ein Entwurf zu einem Nationalitäten¬
gesetz eingebracht mit vollständiger Doppelsprachigkeit -- den Wünschen des
tschechischen Volkes entsprechend --, gleichzeitig aber auch mit Teilung des
Landtags in nationale Kurier, von denen jede mit Zweidrittelmehrheit eine
Vorlage zu Fall bringen konnte, was heute noch einen Hauptpunkt der deutschen
Forderungen bildet; ferner sollte Böhmen zur Gesamtmonarchie eine ähnliche
Stellung wie Ungarn einnehmen. AIs Hohenwart weichen mußte, weil er den
Staat an den Rand des Abgrundes gebracht hatte, fielen auch diese seine Vor¬
lagen wieder ins Nichts zurück. -- Die Ausgleichsabmachungen von 1878, die
Emmersdorfer Konferenz, wurden von den Deutschliberalen und Alttschechen
zurückgewiesen. 1880 wurden den Tschechen für die Budgetbewilligung die
Stromayrschen Sprachenverordnungen gewährt, wonach Zweisprachigkeit bei allen
Behörden und in den Mittelschulen durchgeführt werden sollte. Die folgenden


Zum böhmischen Ausgleich

eine Bewegung, die allmählich auf politisches Gebiet übergriff, indem die Träume
tschechischer Romantiker von der Vergangenheit Böhmens zur Zeit der Hussiten
oder zur Zeit der Przemysliden als politische Programme aufgestellt wurden.
Allerdings vergaß man darüber, daß gerade von den Przemnsliden die Germa¬
nisierung Böhmens am mächtigsten gefördert wurde. Mit diesen romantischen
Träumen verband sich ein tief eingewurzelter Deutschenhaß, wie er schon unter
dem heiligen Wenzel, der ihm zum Opfer fiel, und dann zur Hussitenzeit zum
Ausdruck gekommen war. Dazu kamen schließlich noch die demokratischen Be¬
wegungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Diese drei
Umstände, der romantische Staatsrechtstraum, der Deutschenhaß und die demo¬
kratische Bewegung, ließen in dem seit langem politisch toten Volk in wenigen
Jahrzehnten mächtige politische Bewegungen entstehen, besonders als die öster¬
reichischen Regierungen und der Feudaladel ansingen, sich auf seine Seite gegen
die Deutschen zu stellen. Mit Hilfe der Regierung erlangten die Tschechen
1870 auch die Mehrheit im böhmischen Landtag, die vorher deutsch gewesen
war, und damit begann jene Zurücksetzung der Deutschen auf allen vom Land¬
tage abhängigen Gebieten, über die sich diese bis heute so sehr zu beklagen
haben, trotzdem sie über die Hälfte aller Steuern in diesem Lande aufbringen.
Damit begannen auch die Ausgleichsverhandlungen, die damals sehr gute Aus¬
sichten hatten, zu einem Ziele zu führen, da sich die Tschechen noch nicht so
stark und der Hilfe der Regierungen noch nicht so sicher fühlten wie heute;
auch hatte der nationale Überschwang noch nicht alle Schichten des tschechischen
Volkes so erfassen können, wie es heute der Fall ist. Die Ausgleichsverhaud-
lungen wurden aber von dem Feudaladel zum Scheitern gebracht, da dieser
seine staatsrechtlichen föderalistischen Absichten dadurch bedroht sah. Von dieser
Zeit an verharrten die Deutschen meist in Opposition oder Obstruktion. Die
Verhandlungen und Vermittlungsvorschläge der Regierung hörten aber nicht
mehr auf. So wurde mit dem kaiserlichen Reskript vom 12. September 1871,
das den feudal-föderalistischen Wünschen entgegenkommend, die staatsrechtliche
Stellung Böhmens anerkannte, zugleich ein Entwurf zu einem Nationalitäten¬
gesetz eingebracht mit vollständiger Doppelsprachigkeit — den Wünschen des
tschechischen Volkes entsprechend —, gleichzeitig aber auch mit Teilung des
Landtags in nationale Kurier, von denen jede mit Zweidrittelmehrheit eine
Vorlage zu Fall bringen konnte, was heute noch einen Hauptpunkt der deutschen
Forderungen bildet; ferner sollte Böhmen zur Gesamtmonarchie eine ähnliche
Stellung wie Ungarn einnehmen. AIs Hohenwart weichen mußte, weil er den
Staat an den Rand des Abgrundes gebracht hatte, fielen auch diese seine Vor¬
lagen wieder ins Nichts zurück. — Die Ausgleichsabmachungen von 1878, die
Emmersdorfer Konferenz, wurden von den Deutschliberalen und Alttschechen
zurückgewiesen. 1880 wurden den Tschechen für die Budgetbewilligung die
Stromayrschen Sprachenverordnungen gewährt, wonach Zweisprachigkeit bei allen
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/158>, abgerufen am 03.07.2024.