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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Das Hamburg der Göthen

hielten noch einigermaßen Zucht. Viel lästiger als die Franzosen erwiesen sich
die Soldaten des Rheinbunds und die Italiener. Den schlimmsten Abschnitt
dieser Zeit bildet die dreivierteljährige Belagerung durch Tauentzien im Jahre
1813. Wieder einmal fügte es sich, daß die Stadt von den Gewalten, in
deren Interesse das Gedeihen Stettins lag, in ihrer Entwicklung auf das
Schwerste gehemmt werden mußte. Krause Gestaltung der Dinge!

Mit großer Begeisterung wurde das Steinsche Werk der Städteordnung
begrüßt. Allerdings ließ der anfangs betätigte Eifer der Stadtverordneten
später wieder auffällig nach. Das Werk der gutsherrlich-bäuerlichen Regulierung
wurde nicht gerade sehr zum Vorteil der Stadt durchgeführt, indem diese von
ihrem großen Besitz höchst unnötig vieles weggab. Ähnlich gestaltete sich später
das große Werk der Entfestigung nicht günstig für die Stadt, indem diese es
versäumte, rechtzeitig Hand auf das freiwerdende Gelände zu legen. Erst in
neuester Zeit ist man mit Rücksicht auf die künftige Ausdehnung der Stadt gro߬
zügig vorgegangen.

Der Entfaltung eines besonderen geistigen Lebens war der Boden hier
nie sehr günstig. Nur einmal, in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr¬
hunderts, ist eine Ausnahme hiervon festzustellen. Auch damals traten zwar
nicht Größen ersten Ranges auf. Aber es entwickelte sich ein Zusammenklang
von geistig angeregten Persönlichkeiten, die über dem Durchschnitt standen. Der
Kreis wird vielleicht am besten durch die Namen des Historikers Ludwig Giese-
brecht, des Dichters Robert Prutz, des Komponisten Karl Loewe und des einer
auch sonst rühmlich hervortretenden Stettiner Familie angehörigen, publizistisch
tätigen Regierungsrath Zitelmann bezeichnet. Die Rolle eines weiblichen
Mäcen übernahm dabei die reiche Kaufmannswitwe Tilebein.

Stettin ist heute eine Burg des Freihandels, und ein milder Freisinn spielt
in den Bürgerkreisen die erste Violine, in deren Töne allerdings die Arbeiter-
massen der Stadt mitunter schrille Mißklänge hineingebracht haben, da sie
mehrmals, so auch bei den letzten Wahlen, das von Stettin zu vergehende
Reichstagsmandat an sich rissen.

Nicht immer war die Luft Stettins freihändlerisch. Auch sie zeigte sich
naturgemäß den verschiedenen Zeitströmungen nicht unzugänglich und von den
Verhältnissen abhängig. In dem Jahrhunderte währenden Zollkampf mit ihrer
Nebenbuhlerin an der Oder, mit Frankfurt, verfocht Stettin ein überaus eng¬
herziges System des Grenzschlusses und des Monopolwesens. In dem lang¬
wierigen, beim Reichskammergericht anhängigen Prozesse wegen der Niederlags¬
gerechtigkeit zog die Stadt schließlich den Kürzeren. Das arme Frankfurt hatte
sich freilich inzwischen verblutet. Als dann Friedrich der Große nach dem
siebenjährigen Kriege, um den Unternehmungsgeist seiner Untertanen zu
beleben, sich dem Monopolwesen geneigt erwies, da hatten die Stettiner plötzlich
ihr freihändlerisches Herz entdeckt. Wieder ein halbes Jahrhundert später
dagegen verlangten die Vorsteher der Kaufmannschaft auf das Dringendste schütz-


Das Hamburg der Göthen

hielten noch einigermaßen Zucht. Viel lästiger als die Franzosen erwiesen sich
die Soldaten des Rheinbunds und die Italiener. Den schlimmsten Abschnitt
dieser Zeit bildet die dreivierteljährige Belagerung durch Tauentzien im Jahre
1813. Wieder einmal fügte es sich, daß die Stadt von den Gewalten, in
deren Interesse das Gedeihen Stettins lag, in ihrer Entwicklung auf das
Schwerste gehemmt werden mußte. Krause Gestaltung der Dinge!

Mit großer Begeisterung wurde das Steinsche Werk der Städteordnung
begrüßt. Allerdings ließ der anfangs betätigte Eifer der Stadtverordneten
später wieder auffällig nach. Das Werk der gutsherrlich-bäuerlichen Regulierung
wurde nicht gerade sehr zum Vorteil der Stadt durchgeführt, indem diese von
ihrem großen Besitz höchst unnötig vieles weggab. Ähnlich gestaltete sich später
das große Werk der Entfestigung nicht günstig für die Stadt, indem diese es
versäumte, rechtzeitig Hand auf das freiwerdende Gelände zu legen. Erst in
neuester Zeit ist man mit Rücksicht auf die künftige Ausdehnung der Stadt gro߬
zügig vorgegangen.

Der Entfaltung eines besonderen geistigen Lebens war der Boden hier
nie sehr günstig. Nur einmal, in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr¬
hunderts, ist eine Ausnahme hiervon festzustellen. Auch damals traten zwar
nicht Größen ersten Ranges auf. Aber es entwickelte sich ein Zusammenklang
von geistig angeregten Persönlichkeiten, die über dem Durchschnitt standen. Der
Kreis wird vielleicht am besten durch die Namen des Historikers Ludwig Giese-
brecht, des Dichters Robert Prutz, des Komponisten Karl Loewe und des einer
auch sonst rühmlich hervortretenden Stettiner Familie angehörigen, publizistisch
tätigen Regierungsrath Zitelmann bezeichnet. Die Rolle eines weiblichen
Mäcen übernahm dabei die reiche Kaufmannswitwe Tilebein.

Stettin ist heute eine Burg des Freihandels, und ein milder Freisinn spielt
in den Bürgerkreisen die erste Violine, in deren Töne allerdings die Arbeiter-
massen der Stadt mitunter schrille Mißklänge hineingebracht haben, da sie
mehrmals, so auch bei den letzten Wahlen, das von Stettin zu vergehende
Reichstagsmandat an sich rissen.

Nicht immer war die Luft Stettins freihändlerisch. Auch sie zeigte sich
naturgemäß den verschiedenen Zeitströmungen nicht unzugänglich und von den
Verhältnissen abhängig. In dem Jahrhunderte währenden Zollkampf mit ihrer
Nebenbuhlerin an der Oder, mit Frankfurt, verfocht Stettin ein überaus eng¬
herziges System des Grenzschlusses und des Monopolwesens. In dem lang¬
wierigen, beim Reichskammergericht anhängigen Prozesse wegen der Niederlags¬
gerechtigkeit zog die Stadt schließlich den Kürzeren. Das arme Frankfurt hatte
sich freilich inzwischen verblutet. Als dann Friedrich der Große nach dem
siebenjährigen Kriege, um den Unternehmungsgeist seiner Untertanen zu
beleben, sich dem Monopolwesen geneigt erwies, da hatten die Stettiner plötzlich
ihr freihändlerisches Herz entdeckt. Wieder ein halbes Jahrhundert später
dagegen verlangten die Vorsteher der Kaufmannschaft auf das Dringendste schütz-


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[0134] Das Hamburg der Göthen hielten noch einigermaßen Zucht. Viel lästiger als die Franzosen erwiesen sich die Soldaten des Rheinbunds und die Italiener. Den schlimmsten Abschnitt dieser Zeit bildet die dreivierteljährige Belagerung durch Tauentzien im Jahre 1813. Wieder einmal fügte es sich, daß die Stadt von den Gewalten, in deren Interesse das Gedeihen Stettins lag, in ihrer Entwicklung auf das Schwerste gehemmt werden mußte. Krause Gestaltung der Dinge! Mit großer Begeisterung wurde das Steinsche Werk der Städteordnung begrüßt. Allerdings ließ der anfangs betätigte Eifer der Stadtverordneten später wieder auffällig nach. Das Werk der gutsherrlich-bäuerlichen Regulierung wurde nicht gerade sehr zum Vorteil der Stadt durchgeführt, indem diese von ihrem großen Besitz höchst unnötig vieles weggab. Ähnlich gestaltete sich später das große Werk der Entfestigung nicht günstig für die Stadt, indem diese es versäumte, rechtzeitig Hand auf das freiwerdende Gelände zu legen. Erst in neuester Zeit ist man mit Rücksicht auf die künftige Ausdehnung der Stadt gro߬ zügig vorgegangen. Der Entfaltung eines besonderen geistigen Lebens war der Boden hier nie sehr günstig. Nur einmal, in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr¬ hunderts, ist eine Ausnahme hiervon festzustellen. Auch damals traten zwar nicht Größen ersten Ranges auf. Aber es entwickelte sich ein Zusammenklang von geistig angeregten Persönlichkeiten, die über dem Durchschnitt standen. Der Kreis wird vielleicht am besten durch die Namen des Historikers Ludwig Giese- brecht, des Dichters Robert Prutz, des Komponisten Karl Loewe und des einer auch sonst rühmlich hervortretenden Stettiner Familie angehörigen, publizistisch tätigen Regierungsrath Zitelmann bezeichnet. Die Rolle eines weiblichen Mäcen übernahm dabei die reiche Kaufmannswitwe Tilebein. Stettin ist heute eine Burg des Freihandels, und ein milder Freisinn spielt in den Bürgerkreisen die erste Violine, in deren Töne allerdings die Arbeiter- massen der Stadt mitunter schrille Mißklänge hineingebracht haben, da sie mehrmals, so auch bei den letzten Wahlen, das von Stettin zu vergehende Reichstagsmandat an sich rissen. Nicht immer war die Luft Stettins freihändlerisch. Auch sie zeigte sich naturgemäß den verschiedenen Zeitströmungen nicht unzugänglich und von den Verhältnissen abhängig. In dem Jahrhunderte währenden Zollkampf mit ihrer Nebenbuhlerin an der Oder, mit Frankfurt, verfocht Stettin ein überaus eng¬ herziges System des Grenzschlusses und des Monopolwesens. In dem lang¬ wierigen, beim Reichskammergericht anhängigen Prozesse wegen der Niederlags¬ gerechtigkeit zog die Stadt schließlich den Kürzeren. Das arme Frankfurt hatte sich freilich inzwischen verblutet. Als dann Friedrich der Große nach dem siebenjährigen Kriege, um den Unternehmungsgeist seiner Untertanen zu beleben, sich dem Monopolwesen geneigt erwies, da hatten die Stettiner plötzlich ihr freihändlerisches Herz entdeckt. Wieder ein halbes Jahrhundert später dagegen verlangten die Vorsteher der Kaufmannschaft auf das Dringendste schütz-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/134>, abgerufen am 03.07.2024.