Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.Die naturwissenschaftliche Weltanschauung der sprachlichen Seite ist es besonders die Komposition, welche alles, was jene Die naturwissenschaftliche Weltanschauung der sprachlichen Seite ist es besonders die Komposition, welche alles, was jene <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0115" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321862"/> <fw type="header" place="top"> Die naturwissenschaftliche Weltanschauung</fw><lb/> <p xml:id="ID_408" prev="#ID_407" next="#ID_409"> der sprachlichen Seite ist es besonders die Komposition, welche alles, was jene<lb/> geboten haben, an Vollendung weit überragt. Bei Flaubert finden wir keine<lb/> lange Einleitung vor Beginn jeglicher Handlung, keine trockenen minutiösen<lb/> Beschreibungen, sondern von der ersten Zeile an Leben, rasche, fortschreitende<lb/> Bewegung. Die Handlung ruht in dem ganzen Werke keinen Augenblick, sie<lb/> wird durch keine Ruhepunkte gestört. Im Gegenteil, alles ist so scharf abgewogen,<lb/> so klar und knapp ausgedrückt, daß man sagen möchte, es sei kein Wort zu viel<lb/> in dem ganzen Roman, kein Wort, das man, ohne die künstlerische Wirkung zu<lb/> stören, streichen könnte. Und diese ganze Art war bewußte Absicht, das Ergebnis<lb/> eiserner Arbeit, jahrelanger Bemühungen. Doch deuten diese verschiedenen<lb/> künstlerischen Eigenschaften des Werkes nicht auf eine andere Anschauung des<lb/> Verfassers vom Wesen der Kunst selbst hin; denn Flauberts Absicht unterscheidet<lb/> sich zunächst nicht von der Balzacs. Auch Flaubert will uns einen Charakter<lb/> und ein Menschenschicksal vorstellen und uns beide begreifen lassen, auch er<lb/> erklärt das Wesen Emmas aus ihren kausalen Bedingungen, aus ihrer Geburt<lb/> und Erziehung, aus Nasse und Milieu, auch er weiß uns die logische Not¬<lb/> wendigkeit der Handlungen, des Schicksals seiner Heldin aus dem Ausleben<lb/> dieser Charaktergrundlage, aus den Einwirkungen der Außenwelt auf das über¬<lb/> zeugendste zu erweisen. Wenn auch der wissenschaftliche Apparat nicht in so<lb/> aufdringlicher Weise wie bei seinen beiden Vorgängern erscheint, so ist er nichts¬<lb/> destoweniger vorhanden. Er wird aber nicht in langen, fast theoretischen<lb/> Erörterungen, sondern in Handlungen zur Anschauung gebracht, so daß Flauberts<lb/> Schreibweise neben der epischen Art Beyles und Balzacs als die dramatische<lb/> bezeichnet werden könnte. Daß ihn aber im Grunde dieselbe künstlerische Absicht<lb/> leitet, darüber können seine eigenen Äußerungen keinen Zweifel lassen. Stets<lb/> betont er aufs entschiedenste die Notwendigkeit des Realismus. Die Literatur<lb/> hat auch für ihn nur den Zweck, die Menschen zu zeigen, wie sie sind. Auch<lb/> für ihn ist der Roman Geschichte eines Individuums in seiner Zeit oder einer<lb/> Zeit in ihren Individuen. Der Dichter darf nur nachzeichnen, was wirklich ist.<lb/> was sich unter gegebenen Umständen in einer gegebenen Zeit als notwendig<lb/> darstellen läßt. Diese Zeit braucht nicht unbedingt die Gegenwart zu sein.<lb/> Die entfernteste Vergangenheit kann zufällig Stoff genug bieten, eine lückenlose<lb/> Kausalreihe herzustellen. Die erste Forderung aber ist stets die wissenschaftlich<lb/> exakte Beobachtung der zu schildernden Wirklichkeit. Vom Künstler fordert<lb/> Flaubert, wie vom Historiker, daß er die Dinge nicht durch eigene Zutaten<lb/> falsche. Der Roman soll durchaus unpersönlich sein. „Der Künstler muß so<lb/> arbeiten, daß die Nachwelt glaubt, er habe nicht gelebt." Die hier geforderte<lb/> Wissenschaftlichst ist also viel strenger als alles, was die Vorgänger geleistet<lb/> haben. Wenn die Persönlichkeit des Dichters ganz aus dem Spiele bleiben<lb/> soll, so darf auch keine Gesamtidee von ihm in das Werk hineingetragen werden.<lb/> Alle schöpferische Tätigkeit des Künstlers hört nach Flauberts eigenen Worten<lb/> auf. Nicht bloß auf die Methode der Darstellung, sondern auch auf die Aus-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0115]
Die naturwissenschaftliche Weltanschauung
der sprachlichen Seite ist es besonders die Komposition, welche alles, was jene
geboten haben, an Vollendung weit überragt. Bei Flaubert finden wir keine
lange Einleitung vor Beginn jeglicher Handlung, keine trockenen minutiösen
Beschreibungen, sondern von der ersten Zeile an Leben, rasche, fortschreitende
Bewegung. Die Handlung ruht in dem ganzen Werke keinen Augenblick, sie
wird durch keine Ruhepunkte gestört. Im Gegenteil, alles ist so scharf abgewogen,
so klar und knapp ausgedrückt, daß man sagen möchte, es sei kein Wort zu viel
in dem ganzen Roman, kein Wort, das man, ohne die künstlerische Wirkung zu
stören, streichen könnte. Und diese ganze Art war bewußte Absicht, das Ergebnis
eiserner Arbeit, jahrelanger Bemühungen. Doch deuten diese verschiedenen
künstlerischen Eigenschaften des Werkes nicht auf eine andere Anschauung des
Verfassers vom Wesen der Kunst selbst hin; denn Flauberts Absicht unterscheidet
sich zunächst nicht von der Balzacs. Auch Flaubert will uns einen Charakter
und ein Menschenschicksal vorstellen und uns beide begreifen lassen, auch er
erklärt das Wesen Emmas aus ihren kausalen Bedingungen, aus ihrer Geburt
und Erziehung, aus Nasse und Milieu, auch er weiß uns die logische Not¬
wendigkeit der Handlungen, des Schicksals seiner Heldin aus dem Ausleben
dieser Charaktergrundlage, aus den Einwirkungen der Außenwelt auf das über¬
zeugendste zu erweisen. Wenn auch der wissenschaftliche Apparat nicht in so
aufdringlicher Weise wie bei seinen beiden Vorgängern erscheint, so ist er nichts¬
destoweniger vorhanden. Er wird aber nicht in langen, fast theoretischen
Erörterungen, sondern in Handlungen zur Anschauung gebracht, so daß Flauberts
Schreibweise neben der epischen Art Beyles und Balzacs als die dramatische
bezeichnet werden könnte. Daß ihn aber im Grunde dieselbe künstlerische Absicht
leitet, darüber können seine eigenen Äußerungen keinen Zweifel lassen. Stets
betont er aufs entschiedenste die Notwendigkeit des Realismus. Die Literatur
hat auch für ihn nur den Zweck, die Menschen zu zeigen, wie sie sind. Auch
für ihn ist der Roman Geschichte eines Individuums in seiner Zeit oder einer
Zeit in ihren Individuen. Der Dichter darf nur nachzeichnen, was wirklich ist.
was sich unter gegebenen Umständen in einer gegebenen Zeit als notwendig
darstellen läßt. Diese Zeit braucht nicht unbedingt die Gegenwart zu sein.
Die entfernteste Vergangenheit kann zufällig Stoff genug bieten, eine lückenlose
Kausalreihe herzustellen. Die erste Forderung aber ist stets die wissenschaftlich
exakte Beobachtung der zu schildernden Wirklichkeit. Vom Künstler fordert
Flaubert, wie vom Historiker, daß er die Dinge nicht durch eigene Zutaten
falsche. Der Roman soll durchaus unpersönlich sein. „Der Künstler muß so
arbeiten, daß die Nachwelt glaubt, er habe nicht gelebt." Die hier geforderte
Wissenschaftlichst ist also viel strenger als alles, was die Vorgänger geleistet
haben. Wenn die Persönlichkeit des Dichters ganz aus dem Spiele bleiben
soll, so darf auch keine Gesamtidee von ihm in das Werk hineingetragen werden.
Alle schöpferische Tätigkeit des Künstlers hört nach Flauberts eigenen Worten
auf. Nicht bloß auf die Methode der Darstellung, sondern auch auf die Aus-
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