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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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I, I. Rousseau als Erzieher

Immerhin aber war es ein "Paradies", das ihm vorschwebte. Der Mensch
seiner gedachten Kultur ist der durch die Autonomie des Intellekts und der
Vernunft frei gewordene Bürger des auf Übereinkunft gegründeten Staates.
Mensch und Bürger sollten eins, Politik sollte Moral, sollte Tugend sein. Sein
Lehrbuch der Politik, das hier weiter ausbauen sollte, ist freilich nicht geschrieben
worden, was endlich erschien, ist der "Lontrat 8ociaI", ein fast rationalistisches
politisches Glaubensbekenntnis, das für uns nur noch historischen Wert besitzt.
Und doch ist es wahrscheinlich gerade der Persönlichkeit Rousseaus nicht zum
geringsten Teile zu verdanken, daß die Idee vom nationalen Staate in der
Folgezeit sich in der Psyche der Völker durchrang, wie es zuletzt auch seine
Persönlichkeit war, die seinem Buche von der Erziehung den Erfolg verschaffte.
Gegen die bestehende Unkultur kämpften auch andere, die subjektiven Rechte des
Menschen wurden auch schon vor ihm anerkannt und gefordert, der Unterschied
aber besteht darin, daß er aus der Macht des inneren Gefühls heraus jenes
Recht des Subjekts schöpfte. Andere kamen durch Nachdenken aus der Unzufrieden¬
heit mit den bestehenden Zuständen dazu, bei Rousseau ist alles inneres
Erleben. Und deshalb seine Wirkung! Man konnte sich der Persönlichkeit, die
aus seinen Büchern, und besonders aus seinem "Emil" sprach, nicht entziehen.
Freilich, was eine praktische Wirkung hatte, war nicht der tiefe Jdeengang,
der seinem Erziehungsroman zugrunde lag, praktisch hat er nur dadurch gewirkt,
daß durch ihn der Erziehung überhaupt eine erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet
wurde, und daß in dieser die Natur wieder zu ihrem Rechte kam. "Wenn die
Kindheit," gesteht Laharpe, einer seiner Gegner, "sich gegenwärtig jener milden
Freiheit erfreut, die ihr gestattet, ihre ganze Naivität, Munterkeit und Anmut
zu entfalten, wenn sie nicht mehr durch Hemmungen und Fesseln jeder Art ein¬
geschüchtert und beengt ist, so verdankt sie das dem Verfasser des Emil." Ein
schöneres Lob konnte Rousseaus Lebenswerk nicht gesagt werden. Und auch wir,
die wir uns doch in einer einhundertfünfzigjährigen Entwicklung längst zu eigen
gemacht haben, um was er kämpfte und was sich für uns als brauchbar erwies,
berufen uns wohl auch heute noch auf ihn, wenn es gilt, wieder einmal gegen
eine Unnatur in der Erziehung zu Felde zu ziehen.

Die weitestgehende erzieherische Anregung hat ja sein Buch überhaupt in
Deutschland gegeben. Am unmittelbarsten hat es da wieder auf die Philantropen
gewirkt, die vielleicht ohne Rousseau gar nicht zu denken sind. Nun ruht
freilich auch der Philantropismus, bei Basedow ausschließlich, noch auf
intellektualistischen Grunde, und wir sahen, wie auch Rousseau selbst in der
Zielsetzung sich noch auf den alten Bahnen bewegt. Ähnlich ist es aber auch
mit seiner psychologischen Begründung, soweit man von einer solchen überhaupt
reden darf. Der Bestimmungsgrund des Willens fällt nach ihm im wesentlichen
und dem des Urteils zusammen, und die Fähigkeit zu wollen erscheint dem
Vermögen zu urteilen "ähnlich oder von ihm abgeleitet". Hiernach dürfen wir
wohl annehmen, und er könnte in dieser Beziehung recht gut mit Diesterweg


I, I. Rousseau als Erzieher

Immerhin aber war es ein „Paradies", das ihm vorschwebte. Der Mensch
seiner gedachten Kultur ist der durch die Autonomie des Intellekts und der
Vernunft frei gewordene Bürger des auf Übereinkunft gegründeten Staates.
Mensch und Bürger sollten eins, Politik sollte Moral, sollte Tugend sein. Sein
Lehrbuch der Politik, das hier weiter ausbauen sollte, ist freilich nicht geschrieben
worden, was endlich erschien, ist der „Lontrat 8ociaI", ein fast rationalistisches
politisches Glaubensbekenntnis, das für uns nur noch historischen Wert besitzt.
Und doch ist es wahrscheinlich gerade der Persönlichkeit Rousseaus nicht zum
geringsten Teile zu verdanken, daß die Idee vom nationalen Staate in der
Folgezeit sich in der Psyche der Völker durchrang, wie es zuletzt auch seine
Persönlichkeit war, die seinem Buche von der Erziehung den Erfolg verschaffte.
Gegen die bestehende Unkultur kämpften auch andere, die subjektiven Rechte des
Menschen wurden auch schon vor ihm anerkannt und gefordert, der Unterschied
aber besteht darin, daß er aus der Macht des inneren Gefühls heraus jenes
Recht des Subjekts schöpfte. Andere kamen durch Nachdenken aus der Unzufrieden¬
heit mit den bestehenden Zuständen dazu, bei Rousseau ist alles inneres
Erleben. Und deshalb seine Wirkung! Man konnte sich der Persönlichkeit, die
aus seinen Büchern, und besonders aus seinem „Emil" sprach, nicht entziehen.
Freilich, was eine praktische Wirkung hatte, war nicht der tiefe Jdeengang,
der seinem Erziehungsroman zugrunde lag, praktisch hat er nur dadurch gewirkt,
daß durch ihn der Erziehung überhaupt eine erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet
wurde, und daß in dieser die Natur wieder zu ihrem Rechte kam. „Wenn die
Kindheit," gesteht Laharpe, einer seiner Gegner, „sich gegenwärtig jener milden
Freiheit erfreut, die ihr gestattet, ihre ganze Naivität, Munterkeit und Anmut
zu entfalten, wenn sie nicht mehr durch Hemmungen und Fesseln jeder Art ein¬
geschüchtert und beengt ist, so verdankt sie das dem Verfasser des Emil." Ein
schöneres Lob konnte Rousseaus Lebenswerk nicht gesagt werden. Und auch wir,
die wir uns doch in einer einhundertfünfzigjährigen Entwicklung längst zu eigen
gemacht haben, um was er kämpfte und was sich für uns als brauchbar erwies,
berufen uns wohl auch heute noch auf ihn, wenn es gilt, wieder einmal gegen
eine Unnatur in der Erziehung zu Felde zu ziehen.

Die weitestgehende erzieherische Anregung hat ja sein Buch überhaupt in
Deutschland gegeben. Am unmittelbarsten hat es da wieder auf die Philantropen
gewirkt, die vielleicht ohne Rousseau gar nicht zu denken sind. Nun ruht
freilich auch der Philantropismus, bei Basedow ausschließlich, noch auf
intellektualistischen Grunde, und wir sahen, wie auch Rousseau selbst in der
Zielsetzung sich noch auf den alten Bahnen bewegt. Ähnlich ist es aber auch
mit seiner psychologischen Begründung, soweit man von einer solchen überhaupt
reden darf. Der Bestimmungsgrund des Willens fällt nach ihm im wesentlichen
und dem des Urteils zusammen, und die Fähigkeit zu wollen erscheint dem
Vermögen zu urteilen „ähnlich oder von ihm abgeleitet". Hiernach dürfen wir
wohl annehmen, und er könnte in dieser Beziehung recht gut mit Diesterweg


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[0623] I, I. Rousseau als Erzieher Immerhin aber war es ein „Paradies", das ihm vorschwebte. Der Mensch seiner gedachten Kultur ist der durch die Autonomie des Intellekts und der Vernunft frei gewordene Bürger des auf Übereinkunft gegründeten Staates. Mensch und Bürger sollten eins, Politik sollte Moral, sollte Tugend sein. Sein Lehrbuch der Politik, das hier weiter ausbauen sollte, ist freilich nicht geschrieben worden, was endlich erschien, ist der „Lontrat 8ociaI", ein fast rationalistisches politisches Glaubensbekenntnis, das für uns nur noch historischen Wert besitzt. Und doch ist es wahrscheinlich gerade der Persönlichkeit Rousseaus nicht zum geringsten Teile zu verdanken, daß die Idee vom nationalen Staate in der Folgezeit sich in der Psyche der Völker durchrang, wie es zuletzt auch seine Persönlichkeit war, die seinem Buche von der Erziehung den Erfolg verschaffte. Gegen die bestehende Unkultur kämpften auch andere, die subjektiven Rechte des Menschen wurden auch schon vor ihm anerkannt und gefordert, der Unterschied aber besteht darin, daß er aus der Macht des inneren Gefühls heraus jenes Recht des Subjekts schöpfte. Andere kamen durch Nachdenken aus der Unzufrieden¬ heit mit den bestehenden Zuständen dazu, bei Rousseau ist alles inneres Erleben. Und deshalb seine Wirkung! Man konnte sich der Persönlichkeit, die aus seinen Büchern, und besonders aus seinem „Emil" sprach, nicht entziehen. Freilich, was eine praktische Wirkung hatte, war nicht der tiefe Jdeengang, der seinem Erziehungsroman zugrunde lag, praktisch hat er nur dadurch gewirkt, daß durch ihn der Erziehung überhaupt eine erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet wurde, und daß in dieser die Natur wieder zu ihrem Rechte kam. „Wenn die Kindheit," gesteht Laharpe, einer seiner Gegner, „sich gegenwärtig jener milden Freiheit erfreut, die ihr gestattet, ihre ganze Naivität, Munterkeit und Anmut zu entfalten, wenn sie nicht mehr durch Hemmungen und Fesseln jeder Art ein¬ geschüchtert und beengt ist, so verdankt sie das dem Verfasser des Emil." Ein schöneres Lob konnte Rousseaus Lebenswerk nicht gesagt werden. Und auch wir, die wir uns doch in einer einhundertfünfzigjährigen Entwicklung längst zu eigen gemacht haben, um was er kämpfte und was sich für uns als brauchbar erwies, berufen uns wohl auch heute noch auf ihn, wenn es gilt, wieder einmal gegen eine Unnatur in der Erziehung zu Felde zu ziehen. Die weitestgehende erzieherische Anregung hat ja sein Buch überhaupt in Deutschland gegeben. Am unmittelbarsten hat es da wieder auf die Philantropen gewirkt, die vielleicht ohne Rousseau gar nicht zu denken sind. Nun ruht freilich auch der Philantropismus, bei Basedow ausschließlich, noch auf intellektualistischen Grunde, und wir sahen, wie auch Rousseau selbst in der Zielsetzung sich noch auf den alten Bahnen bewegt. Ähnlich ist es aber auch mit seiner psychologischen Begründung, soweit man von einer solchen überhaupt reden darf. Der Bestimmungsgrund des Willens fällt nach ihm im wesentlichen und dem des Urteils zusammen, und die Fähigkeit zu wollen erscheint dem Vermögen zu urteilen „ähnlich oder von ihm abgeleitet". Hiernach dürfen wir wohl annehmen, und er könnte in dieser Beziehung recht gut mit Diesterweg

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/623>, abgerufen am 26.06.2024.