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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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I> I- Rousseau als Erzieher

Grunde nichts anderes, als das offene Zugeständnis eines Mangels. Da
aber der ernste Wille zum Besseren fehlt und alles Streben sich nur in unfrucht¬
barem Intellektualismus erschöpft, der natürlich nur das zweifelhafte Vorrecht
einiger schmaler Gesellschaftsschichten sein kann und schließlich in platteste Auf¬
klärung ausartet, wird das gesamte Leben einer solchen Zeit, also auch der in
Frage stehenden, von Grund aus unsittlich erscheinen, und das Ende wird immer,
wenn nicht besondere Kräfte eingreifen, eine totale Umwälzung in der Gesell¬
schaft sein.

Zwar fehlte es dieser einseitigen Verstandeskultur nicht an einer ethischen
Tendenz: man wollte durch sie zur Tugend und zur Glückseligkeit gelangen, von
denen die eine von der anderen nicht zu trennen sei. Aber diese Ethik lebte
nur noch in den Köpfen einiger bevorzugter Männer. Die Führenden in der
Gesellschaft waren im allgemeinen doch Philosophen, Literaten, Gelehrte von
zweifelhaftem Ernst und Charakter. In den Salons der Damen wurden zwar
die tiefsten Fragen abgehandelt, auch die der Tugend, aber nicht um der
Tugend zu dienen, das bewiesen ja alle diese Herren und Damen durch
die Tat: sie waren frivol und liederlich und aller Tugend bar. Es war ihnen,
wenn man die aus ähnlichen Zuständen der Jetztzeit uns allzu geläufig
gewordenen Begriffe verwenden will, nur eine Art Sport, eine Art Sensation,
sich geistreich mit jenen Dingen zu beschäftigen. Hatte also Rousseau nicht
recht, wenn er ausrief: "Betrachten wir das Wesen der Kunst und Wissen¬
schaft genauer, untersuchen wir näher ihre Motive, Zwecke und Wirkungen,
so können wir uns der Einsicht nicht verschließen, daß in ihrer Pflege Grund
und Quelle der sittlichen Korruption gelegen sind?" Denn das Verhalten zur
Kunst und Wissenschaft in seiner Zeit hatte Rousseau im Auge, wenn er so sprach,
über ihren Wert an sich hat er nicht geurteilt. "Wir gewöhnlichen Menschen,"
so fährt er am Schlüsse seiner Schrift fort, "wollen anderen die Sorge über¬
lassen, die Menschen über ihre Pflichten zu unterrichten, und uns darauf
beschränken, die unsrigen gut zu erfüllen. Um die Tugend, diese erhabene
Wissenschaft der einfachen Seelen, zu erkennen, bedarf es so vieler Mühe und
Umstände nicht ..." Als Spiegel trat Rousseaus Abhandlung vor die Gesell¬
schaft. Man erschrak, denn man sah sich selbst; die Begeisterung des Verfassers
und sein Ernst taten ihre Wirkung. Aber die Spannung wird auf der einen
Seite wieder nur literarisch ausgelöst, eine Flut von Gegenschriften erscheint,
auf der anderen Seite ist der augenblickliche Eindruck schnell verraucht, und nur
die Person des Verfassers bleibt der Gesellschaft als eine Art neuer Sensation
zurück. Von feiten seiner philosophischen "Freunde" aber, die den Begriff der
Freundschaft leider ganz anders auffaßten als er selbst, zeigen sich bereits jene
offenen und versteckten Angriffe, die freilich zu einem guten Teile in Rousseau
felbst ihre Ursache haben. Ein von der allgemeinen Norm abweichendes Wollen
und Leben, mit denen sich ein Mensch herauszuheben sucht, wirken immer
herausfordernd, um fo mehr aber dann, wenn dies andere, bessere Leben wieder


I> I- Rousseau als Erzieher

Grunde nichts anderes, als das offene Zugeständnis eines Mangels. Da
aber der ernste Wille zum Besseren fehlt und alles Streben sich nur in unfrucht¬
barem Intellektualismus erschöpft, der natürlich nur das zweifelhafte Vorrecht
einiger schmaler Gesellschaftsschichten sein kann und schließlich in platteste Auf¬
klärung ausartet, wird das gesamte Leben einer solchen Zeit, also auch der in
Frage stehenden, von Grund aus unsittlich erscheinen, und das Ende wird immer,
wenn nicht besondere Kräfte eingreifen, eine totale Umwälzung in der Gesell¬
schaft sein.

Zwar fehlte es dieser einseitigen Verstandeskultur nicht an einer ethischen
Tendenz: man wollte durch sie zur Tugend und zur Glückseligkeit gelangen, von
denen die eine von der anderen nicht zu trennen sei. Aber diese Ethik lebte
nur noch in den Köpfen einiger bevorzugter Männer. Die Führenden in der
Gesellschaft waren im allgemeinen doch Philosophen, Literaten, Gelehrte von
zweifelhaftem Ernst und Charakter. In den Salons der Damen wurden zwar
die tiefsten Fragen abgehandelt, auch die der Tugend, aber nicht um der
Tugend zu dienen, das bewiesen ja alle diese Herren und Damen durch
die Tat: sie waren frivol und liederlich und aller Tugend bar. Es war ihnen,
wenn man die aus ähnlichen Zuständen der Jetztzeit uns allzu geläufig
gewordenen Begriffe verwenden will, nur eine Art Sport, eine Art Sensation,
sich geistreich mit jenen Dingen zu beschäftigen. Hatte also Rousseau nicht
recht, wenn er ausrief: „Betrachten wir das Wesen der Kunst und Wissen¬
schaft genauer, untersuchen wir näher ihre Motive, Zwecke und Wirkungen,
so können wir uns der Einsicht nicht verschließen, daß in ihrer Pflege Grund
und Quelle der sittlichen Korruption gelegen sind?" Denn das Verhalten zur
Kunst und Wissenschaft in seiner Zeit hatte Rousseau im Auge, wenn er so sprach,
über ihren Wert an sich hat er nicht geurteilt. „Wir gewöhnlichen Menschen,"
so fährt er am Schlüsse seiner Schrift fort, „wollen anderen die Sorge über¬
lassen, die Menschen über ihre Pflichten zu unterrichten, und uns darauf
beschränken, die unsrigen gut zu erfüllen. Um die Tugend, diese erhabene
Wissenschaft der einfachen Seelen, zu erkennen, bedarf es so vieler Mühe und
Umstände nicht ..." Als Spiegel trat Rousseaus Abhandlung vor die Gesell¬
schaft. Man erschrak, denn man sah sich selbst; die Begeisterung des Verfassers
und sein Ernst taten ihre Wirkung. Aber die Spannung wird auf der einen
Seite wieder nur literarisch ausgelöst, eine Flut von Gegenschriften erscheint,
auf der anderen Seite ist der augenblickliche Eindruck schnell verraucht, und nur
die Person des Verfassers bleibt der Gesellschaft als eine Art neuer Sensation
zurück. Von feiten seiner philosophischen „Freunde" aber, die den Begriff der
Freundschaft leider ganz anders auffaßten als er selbst, zeigen sich bereits jene
offenen und versteckten Angriffe, die freilich zu einem guten Teile in Rousseau
felbst ihre Ursache haben. Ein von der allgemeinen Norm abweichendes Wollen
und Leben, mit denen sich ein Mensch herauszuheben sucht, wirken immer
herausfordernd, um fo mehr aber dann, wenn dies andere, bessere Leben wieder


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[0618] I> I- Rousseau als Erzieher Grunde nichts anderes, als das offene Zugeständnis eines Mangels. Da aber der ernste Wille zum Besseren fehlt und alles Streben sich nur in unfrucht¬ barem Intellektualismus erschöpft, der natürlich nur das zweifelhafte Vorrecht einiger schmaler Gesellschaftsschichten sein kann und schließlich in platteste Auf¬ klärung ausartet, wird das gesamte Leben einer solchen Zeit, also auch der in Frage stehenden, von Grund aus unsittlich erscheinen, und das Ende wird immer, wenn nicht besondere Kräfte eingreifen, eine totale Umwälzung in der Gesell¬ schaft sein. Zwar fehlte es dieser einseitigen Verstandeskultur nicht an einer ethischen Tendenz: man wollte durch sie zur Tugend und zur Glückseligkeit gelangen, von denen die eine von der anderen nicht zu trennen sei. Aber diese Ethik lebte nur noch in den Köpfen einiger bevorzugter Männer. Die Führenden in der Gesellschaft waren im allgemeinen doch Philosophen, Literaten, Gelehrte von zweifelhaftem Ernst und Charakter. In den Salons der Damen wurden zwar die tiefsten Fragen abgehandelt, auch die der Tugend, aber nicht um der Tugend zu dienen, das bewiesen ja alle diese Herren und Damen durch die Tat: sie waren frivol und liederlich und aller Tugend bar. Es war ihnen, wenn man die aus ähnlichen Zuständen der Jetztzeit uns allzu geläufig gewordenen Begriffe verwenden will, nur eine Art Sport, eine Art Sensation, sich geistreich mit jenen Dingen zu beschäftigen. Hatte also Rousseau nicht recht, wenn er ausrief: „Betrachten wir das Wesen der Kunst und Wissen¬ schaft genauer, untersuchen wir näher ihre Motive, Zwecke und Wirkungen, so können wir uns der Einsicht nicht verschließen, daß in ihrer Pflege Grund und Quelle der sittlichen Korruption gelegen sind?" Denn das Verhalten zur Kunst und Wissenschaft in seiner Zeit hatte Rousseau im Auge, wenn er so sprach, über ihren Wert an sich hat er nicht geurteilt. „Wir gewöhnlichen Menschen," so fährt er am Schlüsse seiner Schrift fort, „wollen anderen die Sorge über¬ lassen, die Menschen über ihre Pflichten zu unterrichten, und uns darauf beschränken, die unsrigen gut zu erfüllen. Um die Tugend, diese erhabene Wissenschaft der einfachen Seelen, zu erkennen, bedarf es so vieler Mühe und Umstände nicht ..." Als Spiegel trat Rousseaus Abhandlung vor die Gesell¬ schaft. Man erschrak, denn man sah sich selbst; die Begeisterung des Verfassers und sein Ernst taten ihre Wirkung. Aber die Spannung wird auf der einen Seite wieder nur literarisch ausgelöst, eine Flut von Gegenschriften erscheint, auf der anderen Seite ist der augenblickliche Eindruck schnell verraucht, und nur die Person des Verfassers bleibt der Gesellschaft als eine Art neuer Sensation zurück. Von feiten seiner philosophischen „Freunde" aber, die den Begriff der Freundschaft leider ganz anders auffaßten als er selbst, zeigen sich bereits jene offenen und versteckten Angriffe, die freilich zu einem guten Teile in Rousseau felbst ihre Ursache haben. Ein von der allgemeinen Norm abweichendes Wollen und Leben, mit denen sich ein Mensch herauszuheben sucht, wirken immer herausfordernd, um fo mehr aber dann, wenn dies andere, bessere Leben wieder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/618>, abgerufen am 22.07.2024.