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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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I, Rousseau als Erzieher

ventionelle Lüge um sich her gewahrend, zieht er sich in seinem Subjektivismus
immer mehr in sich selbst zurück, lebt sich selbst und seinen oft der Wirklichkeit
völlig abgekehrten Gedanken, die schließlich in Zeiten des Übermaßes der Em¬
pfindungen die Fähigkeit zu einer objektiven Betrachtung geradezu verlieren,
und findet in einen: solchen Leben Ersatz für einen ihm angeborenen Mangel an
Aktivität. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in einem derartigen Leben, das ja
sehr wohl einen gefährlichen Einfluß auf die ganze Charakterentwicklung haben
kann, eine der Ursachen zu den, später hervortretenden Verfolgungswahn sieht.
Von seinen Beschäftigungen sind sowohl die botanischen, als auch die musika¬
lischen unzertrennlich von jenem reichen Empfindungsleben, entstammen ihni
wohl unmittelbar, und sind also auch zur positiven Vorbereitung zu zählen, da¬
gegen hat seine praktische Erziehertätigkeit keine, oder doch nur ganz unter¬
geordnete Bedeutung in dieser Beziehung.

So findet man denn schon in der Art, wie er jene Preisfrage in dem
denkwürdigen Momente erfaßt, diesen Rousseau wieder. Ganz den über¬
wältigenden Empfindungen des Augenblicks hingegeben, erschließt sich ihm ideell
der Weg, der die Menschheit in die Irre geführt hat und der, der sie wiederum
zu wahrer Gesittung, zu Freiheit und Tagend zurückzuführen vermag. Sein
Denken ist das des Künstlers: er schaut, er schöpft intuitio aus sich heraus.
Diderot, der schärfere, systematischere Denker, muß einige Ordnung in die Ge¬
danken bringen, und trotzdem gesteht er selbst ein, daß es der Abhandlung noch
durchaus an Ordnung und Logik fehle. Aber Rousseau hat seinen Beruf gefunden.

Freilich hatte er vorher schon einige Male geglaubt, durch Verfolgung
ideeller Einfälle zu einem Berufe gekommen zu fein, wie man das häufig bei
Leuten ohne sicheren Beruf erfährt, und man hat auch hier den Eindruck, daß
er erst durch den Erfolg auf der nun gewählten Bahn festgehalten worden sei. Er
gesteht, daß er die Arbeit nach ihrer Ablieferung beinahe vergessen gehabt und
daß erst die freudige Nachricht von der Preiserteilung die Idee mit neuer Stärke
in ihm aufgeweckt hätte. Wenn man ihm aber daraus den Vorwurf gemacht
hat, daß es zum guten Teile Ruhmsucht und Eitelkeit gewesen wären, die ihn
die Rolle eines Weltverbesserers hätten spielen lassen, so bedenkt man nicht, daß
es bei einem so sprunghaft-ideenhaften Denken immer eines gewissen Anstoßes
von außen bedarf, um es in die eingeschlagene Richtung zu bannen.

Um nun Rousseaus Anklagen in der Abhandlung zu verstehen und um
Zugleich die Erklärung für deren ungeheueren Erfolg zu finden, ist es not¬
wendig, daß man sich den Zustand der damaligen französischen Gesellschaft ver¬
gegenwärtige, die eine Art Kultus mit all dem trieb, was doch nur als reine
Blüte aus ernster Arbeit hervorsprießen darf, wenn es einen inneren Wert haben
soll, nämlich mit den Künsten und Wissenschaften. Nun trügt aber jede Zeit
einer gewissen Überkultur auch zugleich das geheime Bewußtsein des Un¬
genügenden des Bestehenden in sich selbst, ja der in ihr sich immer breit-
machende Skeptizismus und der mit diesem verbundene Pessimismus sind im


Grenzboten II 1912 77
I, Rousseau als Erzieher

ventionelle Lüge um sich her gewahrend, zieht er sich in seinem Subjektivismus
immer mehr in sich selbst zurück, lebt sich selbst und seinen oft der Wirklichkeit
völlig abgekehrten Gedanken, die schließlich in Zeiten des Übermaßes der Em¬
pfindungen die Fähigkeit zu einer objektiven Betrachtung geradezu verlieren,
und findet in einen: solchen Leben Ersatz für einen ihm angeborenen Mangel an
Aktivität. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in einem derartigen Leben, das ja
sehr wohl einen gefährlichen Einfluß auf die ganze Charakterentwicklung haben
kann, eine der Ursachen zu den, später hervortretenden Verfolgungswahn sieht.
Von seinen Beschäftigungen sind sowohl die botanischen, als auch die musika¬
lischen unzertrennlich von jenem reichen Empfindungsleben, entstammen ihni
wohl unmittelbar, und sind also auch zur positiven Vorbereitung zu zählen, da¬
gegen hat seine praktische Erziehertätigkeit keine, oder doch nur ganz unter¬
geordnete Bedeutung in dieser Beziehung.

So findet man denn schon in der Art, wie er jene Preisfrage in dem
denkwürdigen Momente erfaßt, diesen Rousseau wieder. Ganz den über¬
wältigenden Empfindungen des Augenblicks hingegeben, erschließt sich ihm ideell
der Weg, der die Menschheit in die Irre geführt hat und der, der sie wiederum
zu wahrer Gesittung, zu Freiheit und Tagend zurückzuführen vermag. Sein
Denken ist das des Künstlers: er schaut, er schöpft intuitio aus sich heraus.
Diderot, der schärfere, systematischere Denker, muß einige Ordnung in die Ge¬
danken bringen, und trotzdem gesteht er selbst ein, daß es der Abhandlung noch
durchaus an Ordnung und Logik fehle. Aber Rousseau hat seinen Beruf gefunden.

Freilich hatte er vorher schon einige Male geglaubt, durch Verfolgung
ideeller Einfälle zu einem Berufe gekommen zu fein, wie man das häufig bei
Leuten ohne sicheren Beruf erfährt, und man hat auch hier den Eindruck, daß
er erst durch den Erfolg auf der nun gewählten Bahn festgehalten worden sei. Er
gesteht, daß er die Arbeit nach ihrer Ablieferung beinahe vergessen gehabt und
daß erst die freudige Nachricht von der Preiserteilung die Idee mit neuer Stärke
in ihm aufgeweckt hätte. Wenn man ihm aber daraus den Vorwurf gemacht
hat, daß es zum guten Teile Ruhmsucht und Eitelkeit gewesen wären, die ihn
die Rolle eines Weltverbesserers hätten spielen lassen, so bedenkt man nicht, daß
es bei einem so sprunghaft-ideenhaften Denken immer eines gewissen Anstoßes
von außen bedarf, um es in die eingeschlagene Richtung zu bannen.

Um nun Rousseaus Anklagen in der Abhandlung zu verstehen und um
Zugleich die Erklärung für deren ungeheueren Erfolg zu finden, ist es not¬
wendig, daß man sich den Zustand der damaligen französischen Gesellschaft ver¬
gegenwärtige, die eine Art Kultus mit all dem trieb, was doch nur als reine
Blüte aus ernster Arbeit hervorsprießen darf, wenn es einen inneren Wert haben
soll, nämlich mit den Künsten und Wissenschaften. Nun trügt aber jede Zeit
einer gewissen Überkultur auch zugleich das geheime Bewußtsein des Un¬
genügenden des Bestehenden in sich selbst, ja der in ihr sich immer breit-
machende Skeptizismus und der mit diesem verbundene Pessimismus sind im


Grenzboten II 1912 77
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[0617] I, Rousseau als Erzieher ventionelle Lüge um sich her gewahrend, zieht er sich in seinem Subjektivismus immer mehr in sich selbst zurück, lebt sich selbst und seinen oft der Wirklichkeit völlig abgekehrten Gedanken, die schließlich in Zeiten des Übermaßes der Em¬ pfindungen die Fähigkeit zu einer objektiven Betrachtung geradezu verlieren, und findet in einen: solchen Leben Ersatz für einen ihm angeborenen Mangel an Aktivität. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in einem derartigen Leben, das ja sehr wohl einen gefährlichen Einfluß auf die ganze Charakterentwicklung haben kann, eine der Ursachen zu den, später hervortretenden Verfolgungswahn sieht. Von seinen Beschäftigungen sind sowohl die botanischen, als auch die musika¬ lischen unzertrennlich von jenem reichen Empfindungsleben, entstammen ihni wohl unmittelbar, und sind also auch zur positiven Vorbereitung zu zählen, da¬ gegen hat seine praktische Erziehertätigkeit keine, oder doch nur ganz unter¬ geordnete Bedeutung in dieser Beziehung. So findet man denn schon in der Art, wie er jene Preisfrage in dem denkwürdigen Momente erfaßt, diesen Rousseau wieder. Ganz den über¬ wältigenden Empfindungen des Augenblicks hingegeben, erschließt sich ihm ideell der Weg, der die Menschheit in die Irre geführt hat und der, der sie wiederum zu wahrer Gesittung, zu Freiheit und Tagend zurückzuführen vermag. Sein Denken ist das des Künstlers: er schaut, er schöpft intuitio aus sich heraus. Diderot, der schärfere, systematischere Denker, muß einige Ordnung in die Ge¬ danken bringen, und trotzdem gesteht er selbst ein, daß es der Abhandlung noch durchaus an Ordnung und Logik fehle. Aber Rousseau hat seinen Beruf gefunden. Freilich hatte er vorher schon einige Male geglaubt, durch Verfolgung ideeller Einfälle zu einem Berufe gekommen zu fein, wie man das häufig bei Leuten ohne sicheren Beruf erfährt, und man hat auch hier den Eindruck, daß er erst durch den Erfolg auf der nun gewählten Bahn festgehalten worden sei. Er gesteht, daß er die Arbeit nach ihrer Ablieferung beinahe vergessen gehabt und daß erst die freudige Nachricht von der Preiserteilung die Idee mit neuer Stärke in ihm aufgeweckt hätte. Wenn man ihm aber daraus den Vorwurf gemacht hat, daß es zum guten Teile Ruhmsucht und Eitelkeit gewesen wären, die ihn die Rolle eines Weltverbesserers hätten spielen lassen, so bedenkt man nicht, daß es bei einem so sprunghaft-ideenhaften Denken immer eines gewissen Anstoßes von außen bedarf, um es in die eingeschlagene Richtung zu bannen. Um nun Rousseaus Anklagen in der Abhandlung zu verstehen und um Zugleich die Erklärung für deren ungeheueren Erfolg zu finden, ist es not¬ wendig, daß man sich den Zustand der damaligen französischen Gesellschaft ver¬ gegenwärtige, die eine Art Kultus mit all dem trieb, was doch nur als reine Blüte aus ernster Arbeit hervorsprießen darf, wenn es einen inneren Wert haben soll, nämlich mit den Künsten und Wissenschaften. Nun trügt aber jede Zeit einer gewissen Überkultur auch zugleich das geheime Bewußtsein des Un¬ genügenden des Bestehenden in sich selbst, ja der in ihr sich immer breit- machende Skeptizismus und der mit diesem verbundene Pessimismus sind im Grenzboten II 1912 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/617>, abgerufen am 23.07.2024.