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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Die Bedeutung der deutschen Heeresverstärkung

Einrichtung auch heute noch. Die Befürworter ihrer Wiedereinführung im
deutschen Heere gehen von der an sich zutreffenden Ansicht aus, es bedeute einen
erheblichen militärischen Borten, wenn die Ersatzreservisten eine, wenn auch stark
abgekürzte Ausbildungszeit im Frieden durchgemacht hätten und demnach im
Mobilmachungsfalle fofort in mobile Truppenteile eingestellt werden könnten, zum
mindesten aber bereits nach kurzer Frist volle Kriegsfertigkeit zu gewinnen vermöchten.
Demgegenüber sind aber zwei gewichtige Bedenken ins Treffen zu führen: einmal
die Frage des Ausbildungspersonals, sodann die Annäherung an das Milizsystem,
die meines Erachtens durch die "Krümperausbildung" der Ersatzreserve stattfindet.

Was die Frage des Ausbildungspersonals betrifft, so besteht wohl kein
Zweifel, daß bei den heutigen Anforderungen eine nennenswerte Heranziehung
von Offizieren und Unteroffizieren der bestehenden Einheiten zu jenem Sonder-
zweck unmöglich stattfinden kann: Das militärische Arbeitsjahr unterscheidet sich
heute in seinen verschiedenen Jahreszeiten nur durch die Art der Inanspruch¬
nahme aller Ausbildungsorgane, nicht mehr aber durch deren Umfang -- es
gibt keinen "Winterschlaf" mehr und auch keine "Sommerruhe". Selbst während
des Ernteurlaubs wird mit den nicht beurlaubten Mannschaften rastlos geübt.
Außerdem bedingen ohnehin die Übungen des Beurlaubtenstandcs -- die künstig
in stärkerem Umfange stattfinden werden, was an sich sehr zu begrüßen ist --
eine besondere Inanspruchnahme der Offiziere und Unteroffiziere. Eine Er¬
holungspause in der laufenden Heeresarbeit sind diese Übungen sür niemanden.
Die Übungen der Ersatzreserve würden besondere Ausbildungsorgane notwendig
machen, und zwar vor allem Unterorgane, Leutnants und Unteroffiziere. Für
die Leitung stehen ja in den Stabsoffizieren und Hauptleuten bei den Stäben
genügend Organe zur Verfügung. Wie für sie, so würde auch sür jene Unter¬
organe hinreichende Beschäftigungsmöglichkeit gegeben sein, auch außerhalb der
Übungstermine. Aber man würde durch Schaffung neuer Leutnants- und Unter¬
offiziersstellen neue Schwierigkeiten hinsichtlich der künftigen Verwertung des hier
investierten Menschenmaterials schaffen: Menschenwirtschaft ist nicht die gering¬
fügigste Seite der Heereswirtschaft. Wie aber soll man das Auslesematerial,
das namentlich die Offiziere darstellen, wirtschaftlich verwenden, wenn schon bei
den jetzigen Standesverhältnissen etwa 90 Prozent vorzeitig ausscheiden müssen
und nicht genügend für den Staatszweck ausgenutzt werden können? Solange
wir nicht zu einer anderen Organisation des Offizierkorps in der einen oder
anderen Form gelangen, die dem jetzigen Raubbau an dem wertvollsten Teil
unseres Volksganzen, nämlich an den nach Herkunft und Bildung zur Führer¬
schaft Berufenen, eine Ende und den Offizierberuf wieder für die große Mehr¬
zahl zu dem macht, was er heute nur für eine glückbesonnte Minderheit ist:
einen: Lebensberuf -- solange können wir uns den Luxus nicht leisten, Aus¬
bildungskaders der unteren Grade sür Krümperausbildung aufzustellen.

Die vorgeschlagene Ausbildung der Ersatzreservisten im Frieden ist tatsächlich
nichts anderes als eine Wiederbelebung der vor hundert Jahren von Scharnhorst ins


Die Bedeutung der deutschen Heeresverstärkung

Einrichtung auch heute noch. Die Befürworter ihrer Wiedereinführung im
deutschen Heere gehen von der an sich zutreffenden Ansicht aus, es bedeute einen
erheblichen militärischen Borten, wenn die Ersatzreservisten eine, wenn auch stark
abgekürzte Ausbildungszeit im Frieden durchgemacht hätten und demnach im
Mobilmachungsfalle fofort in mobile Truppenteile eingestellt werden könnten, zum
mindesten aber bereits nach kurzer Frist volle Kriegsfertigkeit zu gewinnen vermöchten.
Demgegenüber sind aber zwei gewichtige Bedenken ins Treffen zu führen: einmal
die Frage des Ausbildungspersonals, sodann die Annäherung an das Milizsystem,
die meines Erachtens durch die „Krümperausbildung" der Ersatzreserve stattfindet.

Was die Frage des Ausbildungspersonals betrifft, so besteht wohl kein
Zweifel, daß bei den heutigen Anforderungen eine nennenswerte Heranziehung
von Offizieren und Unteroffizieren der bestehenden Einheiten zu jenem Sonder-
zweck unmöglich stattfinden kann: Das militärische Arbeitsjahr unterscheidet sich
heute in seinen verschiedenen Jahreszeiten nur durch die Art der Inanspruch¬
nahme aller Ausbildungsorgane, nicht mehr aber durch deren Umfang — es
gibt keinen „Winterschlaf" mehr und auch keine „Sommerruhe". Selbst während
des Ernteurlaubs wird mit den nicht beurlaubten Mannschaften rastlos geübt.
Außerdem bedingen ohnehin die Übungen des Beurlaubtenstandcs — die künstig
in stärkerem Umfange stattfinden werden, was an sich sehr zu begrüßen ist —
eine besondere Inanspruchnahme der Offiziere und Unteroffiziere. Eine Er¬
holungspause in der laufenden Heeresarbeit sind diese Übungen sür niemanden.
Die Übungen der Ersatzreserve würden besondere Ausbildungsorgane notwendig
machen, und zwar vor allem Unterorgane, Leutnants und Unteroffiziere. Für
die Leitung stehen ja in den Stabsoffizieren und Hauptleuten bei den Stäben
genügend Organe zur Verfügung. Wie für sie, so würde auch sür jene Unter¬
organe hinreichende Beschäftigungsmöglichkeit gegeben sein, auch außerhalb der
Übungstermine. Aber man würde durch Schaffung neuer Leutnants- und Unter¬
offiziersstellen neue Schwierigkeiten hinsichtlich der künftigen Verwertung des hier
investierten Menschenmaterials schaffen: Menschenwirtschaft ist nicht die gering¬
fügigste Seite der Heereswirtschaft. Wie aber soll man das Auslesematerial,
das namentlich die Offiziere darstellen, wirtschaftlich verwenden, wenn schon bei
den jetzigen Standesverhältnissen etwa 90 Prozent vorzeitig ausscheiden müssen
und nicht genügend für den Staatszweck ausgenutzt werden können? Solange
wir nicht zu einer anderen Organisation des Offizierkorps in der einen oder
anderen Form gelangen, die dem jetzigen Raubbau an dem wertvollsten Teil
unseres Volksganzen, nämlich an den nach Herkunft und Bildung zur Führer¬
schaft Berufenen, eine Ende und den Offizierberuf wieder für die große Mehr¬
zahl zu dem macht, was er heute nur für eine glückbesonnte Minderheit ist:
einen: Lebensberuf — solange können wir uns den Luxus nicht leisten, Aus¬
bildungskaders der unteren Grade sür Krümperausbildung aufzustellen.

Die vorgeschlagene Ausbildung der Ersatzreservisten im Frieden ist tatsächlich
nichts anderes als eine Wiederbelebung der vor hundert Jahren von Scharnhorst ins


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[0563] Die Bedeutung der deutschen Heeresverstärkung Einrichtung auch heute noch. Die Befürworter ihrer Wiedereinführung im deutschen Heere gehen von der an sich zutreffenden Ansicht aus, es bedeute einen erheblichen militärischen Borten, wenn die Ersatzreservisten eine, wenn auch stark abgekürzte Ausbildungszeit im Frieden durchgemacht hätten und demnach im Mobilmachungsfalle fofort in mobile Truppenteile eingestellt werden könnten, zum mindesten aber bereits nach kurzer Frist volle Kriegsfertigkeit zu gewinnen vermöchten. Demgegenüber sind aber zwei gewichtige Bedenken ins Treffen zu führen: einmal die Frage des Ausbildungspersonals, sodann die Annäherung an das Milizsystem, die meines Erachtens durch die „Krümperausbildung" der Ersatzreserve stattfindet. Was die Frage des Ausbildungspersonals betrifft, so besteht wohl kein Zweifel, daß bei den heutigen Anforderungen eine nennenswerte Heranziehung von Offizieren und Unteroffizieren der bestehenden Einheiten zu jenem Sonder- zweck unmöglich stattfinden kann: Das militärische Arbeitsjahr unterscheidet sich heute in seinen verschiedenen Jahreszeiten nur durch die Art der Inanspruch¬ nahme aller Ausbildungsorgane, nicht mehr aber durch deren Umfang — es gibt keinen „Winterschlaf" mehr und auch keine „Sommerruhe". Selbst während des Ernteurlaubs wird mit den nicht beurlaubten Mannschaften rastlos geübt. Außerdem bedingen ohnehin die Übungen des Beurlaubtenstandcs — die künstig in stärkerem Umfange stattfinden werden, was an sich sehr zu begrüßen ist — eine besondere Inanspruchnahme der Offiziere und Unteroffiziere. Eine Er¬ holungspause in der laufenden Heeresarbeit sind diese Übungen sür niemanden. Die Übungen der Ersatzreserve würden besondere Ausbildungsorgane notwendig machen, und zwar vor allem Unterorgane, Leutnants und Unteroffiziere. Für die Leitung stehen ja in den Stabsoffizieren und Hauptleuten bei den Stäben genügend Organe zur Verfügung. Wie für sie, so würde auch sür jene Unter¬ organe hinreichende Beschäftigungsmöglichkeit gegeben sein, auch außerhalb der Übungstermine. Aber man würde durch Schaffung neuer Leutnants- und Unter¬ offiziersstellen neue Schwierigkeiten hinsichtlich der künftigen Verwertung des hier investierten Menschenmaterials schaffen: Menschenwirtschaft ist nicht die gering¬ fügigste Seite der Heereswirtschaft. Wie aber soll man das Auslesematerial, das namentlich die Offiziere darstellen, wirtschaftlich verwenden, wenn schon bei den jetzigen Standesverhältnissen etwa 90 Prozent vorzeitig ausscheiden müssen und nicht genügend für den Staatszweck ausgenutzt werden können? Solange wir nicht zu einer anderen Organisation des Offizierkorps in der einen oder anderen Form gelangen, die dem jetzigen Raubbau an dem wertvollsten Teil unseres Volksganzen, nämlich an den nach Herkunft und Bildung zur Führer¬ schaft Berufenen, eine Ende und den Offizierberuf wieder für die große Mehr¬ zahl zu dem macht, was er heute nur für eine glückbesonnte Minderheit ist: einen: Lebensberuf — solange können wir uns den Luxus nicht leisten, Aus¬ bildungskaders der unteren Grade sür Krümperausbildung aufzustellen. Die vorgeschlagene Ausbildung der Ersatzreservisten im Frieden ist tatsächlich nichts anderes als eine Wiederbelebung der vor hundert Jahren von Scharnhorst ins

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/563>, abgerufen am 26.06.2024.