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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Türkische Richtlinien

in Tripolis richtet: gegen das angebliche Ultimatum, gegen die Art der Kriegs¬
erklärung, gegen die Form des Annexionsdekretes. Aber ebenso ist gewiß, daß
Italiens Imperialismus politischen und demographischen Gründen entspringt,
die eine Existenzberechtigung") beibringen können. Historisch betrachtet, ist
Italien zum Dreibunde gekommen, um sich gegen Frankreichs tunesischen Streich
zu schützen und um unter Deutschlands und Österreichs Schutz als Mittel¬
meermacht zu wachsen. Diplomatisch gesehen, hat Italien sich in seine "Extra¬
tour" mit England eingelassen, um als Morgengabe Tripolis zu erhalten. Und
England hat mit seinem Freibrief den Versuch wiederholt, der ihm in Bosnien
mißlungen ist: die deutsch-österreichisch-italienische Allianz oder die deutsch¬
türkische Entente durch den Tripoliskonflikt zu sprengen.

So erhob sich die Frage: gerät Italien jetzt in die Abhängigkeit von Eng¬
land und Frankreich, also in eine uns gegnerische Mittelmeerkombination? Man
weiß heute, daß diejenigen Recht behielten, die von Anfang an rechneten: Italien
wird in Tripolis Grenznachbar von Frankreich und von England und gerät in
Reibung mit seinen neuen Grenznachbarn. Die Zwischenfälle im französischen
Tunesien (mit seinen dreimal soviel Italienern als Franzosen) und der
Manubakonflikt haben die neue Situation so grell und so deutlich beleuchtet wie
die englische Besetzung des bisher tripolitanischen solum oder die jetzige Malta¬
konferenz Lord Kitcheners mit dem englischen Marineminister. Eine künftige
italienisch-österreichische Flottenkorporation im Mittelmeer schwächt die Triple-
entente und stärkt den Dreibund und -- zieht die türkische Entwicklung in
ihren Interessenkreis.

Zu Land liegt die türkische Sicherheit auf der Linie der deutsch-österreichisch¬
türkischen Interessengemeinschaft; zur See wird der Kampf ums Mittelmeer auch
die Türkei einmal wählen lassen müssen zwischen Abhängigkeit von England
und Frankreich, oder Gleichberechtigung neben und mit Osterreich und Italien.
Die Antithese des Krieges wird -- wie Nußland und Japan nach einem weit
mörderischeren und verlustreicheren Ringen -- auch Italien und Türkei zur Synthese
einer Verständigung und Versöhnung führen müssen, im gemeinsamen Interesse
beider Völker, die eine Reihe gleicher Aufgaben zu lösen haben.

Der Tripoliskrieg ist schon als Produkt des deutsch-englischen Gegensatzes
bezeichnet worden, der in der Orientpolitik schon so oft kulturhemmend gewirkt
hat und der auch das türkische Pendel bisher nicht in das Gleichgewicht ziel¬
sicherer Ruhe hat kommen lassen. Vor wenigen Jahren noch galt es in
Konstantinopel als politische Weisheit, balanzieren zu wollen: ein jungtürkischer
Senatsdirektor suchte mir das einmal einzureden. Dann kam die türkische
Studienreise durch Deutschland, mit dem Ergebnis, daß ein vorher frankophiler
Jungtürke das stolze Urteil veröffentlichte: "Wenn heute die ganze europäische
Kultur durch irgendeine Katastrophe vernichtet würde und die deutsche Eigenart



*) Vgl, R. Michels "Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien";
im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, XXXIV, 1. und 2,
Türkische Richtlinien

in Tripolis richtet: gegen das angebliche Ultimatum, gegen die Art der Kriegs¬
erklärung, gegen die Form des Annexionsdekretes. Aber ebenso ist gewiß, daß
Italiens Imperialismus politischen und demographischen Gründen entspringt,
die eine Existenzberechtigung") beibringen können. Historisch betrachtet, ist
Italien zum Dreibunde gekommen, um sich gegen Frankreichs tunesischen Streich
zu schützen und um unter Deutschlands und Österreichs Schutz als Mittel¬
meermacht zu wachsen. Diplomatisch gesehen, hat Italien sich in seine „Extra¬
tour" mit England eingelassen, um als Morgengabe Tripolis zu erhalten. Und
England hat mit seinem Freibrief den Versuch wiederholt, der ihm in Bosnien
mißlungen ist: die deutsch-österreichisch-italienische Allianz oder die deutsch¬
türkische Entente durch den Tripoliskonflikt zu sprengen.

So erhob sich die Frage: gerät Italien jetzt in die Abhängigkeit von Eng¬
land und Frankreich, also in eine uns gegnerische Mittelmeerkombination? Man
weiß heute, daß diejenigen Recht behielten, die von Anfang an rechneten: Italien
wird in Tripolis Grenznachbar von Frankreich und von England und gerät in
Reibung mit seinen neuen Grenznachbarn. Die Zwischenfälle im französischen
Tunesien (mit seinen dreimal soviel Italienern als Franzosen) und der
Manubakonflikt haben die neue Situation so grell und so deutlich beleuchtet wie
die englische Besetzung des bisher tripolitanischen solum oder die jetzige Malta¬
konferenz Lord Kitcheners mit dem englischen Marineminister. Eine künftige
italienisch-österreichische Flottenkorporation im Mittelmeer schwächt die Triple-
entente und stärkt den Dreibund und — zieht die türkische Entwicklung in
ihren Interessenkreis.

Zu Land liegt die türkische Sicherheit auf der Linie der deutsch-österreichisch¬
türkischen Interessengemeinschaft; zur See wird der Kampf ums Mittelmeer auch
die Türkei einmal wählen lassen müssen zwischen Abhängigkeit von England
und Frankreich, oder Gleichberechtigung neben und mit Osterreich und Italien.
Die Antithese des Krieges wird — wie Nußland und Japan nach einem weit
mörderischeren und verlustreicheren Ringen — auch Italien und Türkei zur Synthese
einer Verständigung und Versöhnung führen müssen, im gemeinsamen Interesse
beider Völker, die eine Reihe gleicher Aufgaben zu lösen haben.

Der Tripoliskrieg ist schon als Produkt des deutsch-englischen Gegensatzes
bezeichnet worden, der in der Orientpolitik schon so oft kulturhemmend gewirkt
hat und der auch das türkische Pendel bisher nicht in das Gleichgewicht ziel¬
sicherer Ruhe hat kommen lassen. Vor wenigen Jahren noch galt es in
Konstantinopel als politische Weisheit, balanzieren zu wollen: ein jungtürkischer
Senatsdirektor suchte mir das einmal einzureden. Dann kam die türkische
Studienreise durch Deutschland, mit dem Ergebnis, daß ein vorher frankophiler
Jungtürke das stolze Urteil veröffentlichte: „Wenn heute die ganze europäische
Kultur durch irgendeine Katastrophe vernichtet würde und die deutsche Eigenart



*) Vgl, R. Michels „Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien";
im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, XXXIV, 1. und 2,
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[0522] Türkische Richtlinien in Tripolis richtet: gegen das angebliche Ultimatum, gegen die Art der Kriegs¬ erklärung, gegen die Form des Annexionsdekretes. Aber ebenso ist gewiß, daß Italiens Imperialismus politischen und demographischen Gründen entspringt, die eine Existenzberechtigung") beibringen können. Historisch betrachtet, ist Italien zum Dreibunde gekommen, um sich gegen Frankreichs tunesischen Streich zu schützen und um unter Deutschlands und Österreichs Schutz als Mittel¬ meermacht zu wachsen. Diplomatisch gesehen, hat Italien sich in seine „Extra¬ tour" mit England eingelassen, um als Morgengabe Tripolis zu erhalten. Und England hat mit seinem Freibrief den Versuch wiederholt, der ihm in Bosnien mißlungen ist: die deutsch-österreichisch-italienische Allianz oder die deutsch¬ türkische Entente durch den Tripoliskonflikt zu sprengen. So erhob sich die Frage: gerät Italien jetzt in die Abhängigkeit von Eng¬ land und Frankreich, also in eine uns gegnerische Mittelmeerkombination? Man weiß heute, daß diejenigen Recht behielten, die von Anfang an rechneten: Italien wird in Tripolis Grenznachbar von Frankreich und von England und gerät in Reibung mit seinen neuen Grenznachbarn. Die Zwischenfälle im französischen Tunesien (mit seinen dreimal soviel Italienern als Franzosen) und der Manubakonflikt haben die neue Situation so grell und so deutlich beleuchtet wie die englische Besetzung des bisher tripolitanischen solum oder die jetzige Malta¬ konferenz Lord Kitcheners mit dem englischen Marineminister. Eine künftige italienisch-österreichische Flottenkorporation im Mittelmeer schwächt die Triple- entente und stärkt den Dreibund und — zieht die türkische Entwicklung in ihren Interessenkreis. Zu Land liegt die türkische Sicherheit auf der Linie der deutsch-österreichisch¬ türkischen Interessengemeinschaft; zur See wird der Kampf ums Mittelmeer auch die Türkei einmal wählen lassen müssen zwischen Abhängigkeit von England und Frankreich, oder Gleichberechtigung neben und mit Osterreich und Italien. Die Antithese des Krieges wird — wie Nußland und Japan nach einem weit mörderischeren und verlustreicheren Ringen — auch Italien und Türkei zur Synthese einer Verständigung und Versöhnung führen müssen, im gemeinsamen Interesse beider Völker, die eine Reihe gleicher Aufgaben zu lösen haben. Der Tripoliskrieg ist schon als Produkt des deutsch-englischen Gegensatzes bezeichnet worden, der in der Orientpolitik schon so oft kulturhemmend gewirkt hat und der auch das türkische Pendel bisher nicht in das Gleichgewicht ziel¬ sicherer Ruhe hat kommen lassen. Vor wenigen Jahren noch galt es in Konstantinopel als politische Weisheit, balanzieren zu wollen: ein jungtürkischer Senatsdirektor suchte mir das einmal einzureden. Dann kam die türkische Studienreise durch Deutschland, mit dem Ergebnis, daß ein vorher frankophiler Jungtürke das stolze Urteil veröffentlichte: „Wenn heute die ganze europäische Kultur durch irgendeine Katastrophe vernichtet würde und die deutsche Eigenart *) Vgl, R. Michels „Elemente zur Entstehungsgeschichte des Imperialismus in Italien"; im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, XXXIV, 1. und 2,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/522>, abgerufen am 26.06.2024.