Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lhina, Rußland und Europa

Linie nach sich ziehen muß. Der ferne Osten wäre mit einem Schlage ein
Bindeglied zwischen der alten Welt und Australien, das es erst rechtfertigte, wenn
die Chinesen ihr Land das Land der Mitte nennen. Der ferne Osten, den
wir gegenwärtig nur erreichen können entweder auf dem langwierigen Wege
über Sibirien mit seinem fast zweitausend Kilometer großem Umwege über
Tschita oder Chardin, der ferne Osten, den wir vor nicht langer Zeit nur
erreichen konnten nach einer beschwerlichen Fahrt durch die Siedeglut des
Roten Meers, um ganz Asten herum, mit den Schrecknissen des Taifun im
Gelben Meere, der ferne Osten wäre uns Westeuropäern näher gerückt, als
die Vereinigten Staaten von Nordamerika, und Reisen, die heute noch
vierzehn und mehr Tage in Anspruch nehmen, und Gütertransporte, die fünf¬
undvierzig Tage brauchen, um von Hamburg nach Shanghai zu gelangen,
würden von Hamburg, Rotterdam, London und Paris nur sechs bis sieben,
höchstens zehn Tage brauchen. Die neue Bahn und damit China und Rußland
würden den Durchgangsverkehr zwischen Europa und dem gesamten fernen Osten
an sich reißen. Ein großer Teil des Frachtenverkehrs mit Japan, den
Philippinen, den östlichen Sundainseln, mit Polynesien und Australien würden
unzweifelhaft diesen Weg zu Lande suchen, da die Verpackung der Waren, wie
etwa des Fleisches und der Butter, die Australien gegenwärtig durch das Rote
Meer zu uns kommen läßt, so teuer ist, daß dafür der an sich kostspieligere Land¬
verkehr bezahlt werden könnte. Hinzu träte noch der Postbetrieb, der der See¬
beförderung vollständig entzogen würde; es läßt sich sogar denken, daß die Post
Zwischen China und den Oststaaten Amerikas den Weg schneller über Europa
zurücklegen könnte, als über den Stillen Ozean.

Vierhundert Millionen Europäer würden in nahe Verbindung gebracht
mit vierhundert Millionen fleißigen nach Fortschritt strebenden Asiaten. Was
allein dieser Umstand für eine ungeheure Bedeutung für die ganze Erde
und ihre Kultur haben muß, kann hier leider auch andeutungsweise nicht
dargetan werden. Hervorgehoben sei nur die durch die Bahn geschaffene
Interessengemeinschaft unter den Völkern der alten Welt, das sicherste Mittel,
blutige, Kultur vernichtende Kriege zu verhindern. Denn wo eine Interessen¬
gemeinschaft besteht, da kommt auch der Wille leichter zum Vorschein, sich auf
friedlichem Wege über strittige Punkte zu einigen.

Die wahrscheinliche Rentabilität der Bahn kann hier im einzelnen nicht nach¬
gewiesen werden. Ganz abgesehen davon, daß die genauen Grundlagen dazu fehlen,
ist es auch nicht unsere Absicht gewesen dies zu tun. Um aber das Werk durch diese
Unterlassung in den Augen der Leser in seiner Bedeutung nicht zu schmälern, sei auf
die Entwicklung der Nikolaibahn und der amerikanischen Eisenbahnen hingewiesen.
Auch sie wurden einst durch menschenleere Gebiete und durch Urwald und Steppen
geführt; aber sie verbanden nicht zwei Wohn- und Produktionsstätten mit
je vierhundert Millionen Menschen, sondern nur immer je zwei aufstrebende
Städte mit Einwohnerzahlen von weniger als einer Million. Und doch stellen


Grenzboten II 1912 5i)
Lhina, Rußland und Europa

Linie nach sich ziehen muß. Der ferne Osten wäre mit einem Schlage ein
Bindeglied zwischen der alten Welt und Australien, das es erst rechtfertigte, wenn
die Chinesen ihr Land das Land der Mitte nennen. Der ferne Osten, den
wir gegenwärtig nur erreichen können entweder auf dem langwierigen Wege
über Sibirien mit seinem fast zweitausend Kilometer großem Umwege über
Tschita oder Chardin, der ferne Osten, den wir vor nicht langer Zeit nur
erreichen konnten nach einer beschwerlichen Fahrt durch die Siedeglut des
Roten Meers, um ganz Asten herum, mit den Schrecknissen des Taifun im
Gelben Meere, der ferne Osten wäre uns Westeuropäern näher gerückt, als
die Vereinigten Staaten von Nordamerika, und Reisen, die heute noch
vierzehn und mehr Tage in Anspruch nehmen, und Gütertransporte, die fünf¬
undvierzig Tage brauchen, um von Hamburg nach Shanghai zu gelangen,
würden von Hamburg, Rotterdam, London und Paris nur sechs bis sieben,
höchstens zehn Tage brauchen. Die neue Bahn und damit China und Rußland
würden den Durchgangsverkehr zwischen Europa und dem gesamten fernen Osten
an sich reißen. Ein großer Teil des Frachtenverkehrs mit Japan, den
Philippinen, den östlichen Sundainseln, mit Polynesien und Australien würden
unzweifelhaft diesen Weg zu Lande suchen, da die Verpackung der Waren, wie
etwa des Fleisches und der Butter, die Australien gegenwärtig durch das Rote
Meer zu uns kommen läßt, so teuer ist, daß dafür der an sich kostspieligere Land¬
verkehr bezahlt werden könnte. Hinzu träte noch der Postbetrieb, der der See¬
beförderung vollständig entzogen würde; es läßt sich sogar denken, daß die Post
Zwischen China und den Oststaaten Amerikas den Weg schneller über Europa
zurücklegen könnte, als über den Stillen Ozean.

Vierhundert Millionen Europäer würden in nahe Verbindung gebracht
mit vierhundert Millionen fleißigen nach Fortschritt strebenden Asiaten. Was
allein dieser Umstand für eine ungeheure Bedeutung für die ganze Erde
und ihre Kultur haben muß, kann hier leider auch andeutungsweise nicht
dargetan werden. Hervorgehoben sei nur die durch die Bahn geschaffene
Interessengemeinschaft unter den Völkern der alten Welt, das sicherste Mittel,
blutige, Kultur vernichtende Kriege zu verhindern. Denn wo eine Interessen¬
gemeinschaft besteht, da kommt auch der Wille leichter zum Vorschein, sich auf
friedlichem Wege über strittige Punkte zu einigen.

Die wahrscheinliche Rentabilität der Bahn kann hier im einzelnen nicht nach¬
gewiesen werden. Ganz abgesehen davon, daß die genauen Grundlagen dazu fehlen,
ist es auch nicht unsere Absicht gewesen dies zu tun. Um aber das Werk durch diese
Unterlassung in den Augen der Leser in seiner Bedeutung nicht zu schmälern, sei auf
die Entwicklung der Nikolaibahn und der amerikanischen Eisenbahnen hingewiesen.
Auch sie wurden einst durch menschenleere Gebiete und durch Urwald und Steppen
geführt; aber sie verbanden nicht zwei Wohn- und Produktionsstätten mit
je vierhundert Millionen Menschen, sondern nur immer je zwei aufstrebende
Städte mit Einwohnerzahlen von weniger als einer Million. Und doch stellen


Grenzboten II 1912 5i)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0473" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321556"/>
          <fw type="header" place="top"> Lhina, Rußland und Europa</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2016" prev="#ID_2015"> Linie nach sich ziehen muß. Der ferne Osten wäre mit einem Schlage ein<lb/>
Bindeglied zwischen der alten Welt und Australien, das es erst rechtfertigte, wenn<lb/>
die Chinesen ihr Land das Land der Mitte nennen. Der ferne Osten, den<lb/>
wir gegenwärtig nur erreichen können entweder auf dem langwierigen Wege<lb/>
über Sibirien mit seinem fast zweitausend Kilometer großem Umwege über<lb/>
Tschita oder Chardin, der ferne Osten, den wir vor nicht langer Zeit nur<lb/>
erreichen konnten nach einer beschwerlichen Fahrt durch die Siedeglut des<lb/>
Roten Meers, um ganz Asten herum, mit den Schrecknissen des Taifun im<lb/>
Gelben Meere, der ferne Osten wäre uns Westeuropäern näher gerückt, als<lb/>
die Vereinigten Staaten von Nordamerika, und Reisen, die heute noch<lb/>
vierzehn und mehr Tage in Anspruch nehmen, und Gütertransporte, die fünf¬<lb/>
undvierzig Tage brauchen, um von Hamburg nach Shanghai zu gelangen,<lb/>
würden von Hamburg, Rotterdam, London und Paris nur sechs bis sieben,<lb/>
höchstens zehn Tage brauchen. Die neue Bahn und damit China und Rußland<lb/>
würden den Durchgangsverkehr zwischen Europa und dem gesamten fernen Osten<lb/>
an sich reißen. Ein großer Teil des Frachtenverkehrs mit Japan, den<lb/>
Philippinen, den östlichen Sundainseln, mit Polynesien und Australien würden<lb/>
unzweifelhaft diesen Weg zu Lande suchen, da die Verpackung der Waren, wie<lb/>
etwa des Fleisches und der Butter, die Australien gegenwärtig durch das Rote<lb/>
Meer zu uns kommen läßt, so teuer ist, daß dafür der an sich kostspieligere Land¬<lb/>
verkehr bezahlt werden könnte. Hinzu träte noch der Postbetrieb, der der See¬<lb/>
beförderung vollständig entzogen würde; es läßt sich sogar denken, daß die Post<lb/>
Zwischen China und den Oststaaten Amerikas den Weg schneller über Europa<lb/>
zurücklegen könnte, als über den Stillen Ozean.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2017"> Vierhundert Millionen Europäer würden in nahe Verbindung gebracht<lb/>
mit vierhundert Millionen fleißigen nach Fortschritt strebenden Asiaten. Was<lb/>
allein dieser Umstand für eine ungeheure Bedeutung für die ganze Erde<lb/>
und ihre Kultur haben muß, kann hier leider auch andeutungsweise nicht<lb/>
dargetan werden. Hervorgehoben sei nur die durch die Bahn geschaffene<lb/>
Interessengemeinschaft unter den Völkern der alten Welt, das sicherste Mittel,<lb/>
blutige, Kultur vernichtende Kriege zu verhindern. Denn wo eine Interessen¬<lb/>
gemeinschaft besteht, da kommt auch der Wille leichter zum Vorschein, sich auf<lb/>
friedlichem Wege über strittige Punkte zu einigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2018" next="#ID_2019"> Die wahrscheinliche Rentabilität der Bahn kann hier im einzelnen nicht nach¬<lb/>
gewiesen werden. Ganz abgesehen davon, daß die genauen Grundlagen dazu fehlen,<lb/>
ist es auch nicht unsere Absicht gewesen dies zu tun. Um aber das Werk durch diese<lb/>
Unterlassung in den Augen der Leser in seiner Bedeutung nicht zu schmälern, sei auf<lb/>
die Entwicklung der Nikolaibahn und der amerikanischen Eisenbahnen hingewiesen.<lb/>
Auch sie wurden einst durch menschenleere Gebiete und durch Urwald und Steppen<lb/>
geführt; aber sie verbanden nicht zwei Wohn- und Produktionsstätten mit<lb/>
je vierhundert Millionen Menschen, sondern nur immer je zwei aufstrebende<lb/>
Städte mit Einwohnerzahlen von weniger als einer Million. Und doch stellen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1912 5i)</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0473] Lhina, Rußland und Europa Linie nach sich ziehen muß. Der ferne Osten wäre mit einem Schlage ein Bindeglied zwischen der alten Welt und Australien, das es erst rechtfertigte, wenn die Chinesen ihr Land das Land der Mitte nennen. Der ferne Osten, den wir gegenwärtig nur erreichen können entweder auf dem langwierigen Wege über Sibirien mit seinem fast zweitausend Kilometer großem Umwege über Tschita oder Chardin, der ferne Osten, den wir vor nicht langer Zeit nur erreichen konnten nach einer beschwerlichen Fahrt durch die Siedeglut des Roten Meers, um ganz Asten herum, mit den Schrecknissen des Taifun im Gelben Meere, der ferne Osten wäre uns Westeuropäern näher gerückt, als die Vereinigten Staaten von Nordamerika, und Reisen, die heute noch vierzehn und mehr Tage in Anspruch nehmen, und Gütertransporte, die fünf¬ undvierzig Tage brauchen, um von Hamburg nach Shanghai zu gelangen, würden von Hamburg, Rotterdam, London und Paris nur sechs bis sieben, höchstens zehn Tage brauchen. Die neue Bahn und damit China und Rußland würden den Durchgangsverkehr zwischen Europa und dem gesamten fernen Osten an sich reißen. Ein großer Teil des Frachtenverkehrs mit Japan, den Philippinen, den östlichen Sundainseln, mit Polynesien und Australien würden unzweifelhaft diesen Weg zu Lande suchen, da die Verpackung der Waren, wie etwa des Fleisches und der Butter, die Australien gegenwärtig durch das Rote Meer zu uns kommen läßt, so teuer ist, daß dafür der an sich kostspieligere Land¬ verkehr bezahlt werden könnte. Hinzu träte noch der Postbetrieb, der der See¬ beförderung vollständig entzogen würde; es läßt sich sogar denken, daß die Post Zwischen China und den Oststaaten Amerikas den Weg schneller über Europa zurücklegen könnte, als über den Stillen Ozean. Vierhundert Millionen Europäer würden in nahe Verbindung gebracht mit vierhundert Millionen fleißigen nach Fortschritt strebenden Asiaten. Was allein dieser Umstand für eine ungeheure Bedeutung für die ganze Erde und ihre Kultur haben muß, kann hier leider auch andeutungsweise nicht dargetan werden. Hervorgehoben sei nur die durch die Bahn geschaffene Interessengemeinschaft unter den Völkern der alten Welt, das sicherste Mittel, blutige, Kultur vernichtende Kriege zu verhindern. Denn wo eine Interessen¬ gemeinschaft besteht, da kommt auch der Wille leichter zum Vorschein, sich auf friedlichem Wege über strittige Punkte zu einigen. Die wahrscheinliche Rentabilität der Bahn kann hier im einzelnen nicht nach¬ gewiesen werden. Ganz abgesehen davon, daß die genauen Grundlagen dazu fehlen, ist es auch nicht unsere Absicht gewesen dies zu tun. Um aber das Werk durch diese Unterlassung in den Augen der Leser in seiner Bedeutung nicht zu schmälern, sei auf die Entwicklung der Nikolaibahn und der amerikanischen Eisenbahnen hingewiesen. Auch sie wurden einst durch menschenleere Gebiete und durch Urwald und Steppen geführt; aber sie verbanden nicht zwei Wohn- und Produktionsstätten mit je vierhundert Millionen Menschen, sondern nur immer je zwei aufstrebende Städte mit Einwohnerzahlen von weniger als einer Million. Und doch stellen Grenzboten II 1912 5i)

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/473
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/473>, abgerufen am 28.09.2024.