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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Von alten Liedern

meiner Zeit. Daß ich es nicht als Kind gekannt habe, ist ein Schmerz, zumal
Se. Jörg der einzige Heilige war, zu dem ich persönliche Beziehungen hatte.
Er hing an der Uhrkette meiner Onkel auf den dicken Reitertalern und ritt
Pferde, die eines Heiligen wert waren. Und er war so schön! "Der heilige
Ritter Se. Görg ritt daher --" das wäre einem als Kind durch und durch
gegangen, und man hätte es nie wieder vergessen.

Se. Georg
[Beginn Spaltensatz] Mit Gott so wollen wir heben an:
vom Ritter Se. Görg, dem vieledlen Mann. Es hat ein König ein Drachen im Land,
er mußt haben alle Tag ein Lainb. Und wenn der Lemmer nimmer sind,
alle Tage mußt er haben ein Rind.
Und wenn der Rinder nimmer sind,
alle Tag mußt er haben ein Kind.
Der König allda Rathes Mag,
daß alle Tag einer ein Kind hergab.
Und da es heit nun gewehret lang,
da kam er an Königs sein Tochter an.
Der König hett gern erhalten beym Leben
seyn Tochter, wolt groß Gut um sie geben
Das Königreich wolls auch nicht them,
sein Tochter, die mußt selbst daran. Er legt ihr königliche Kleyder an,
Er führets wol von der Statt hin dan. Sie kniet nieder aufs einen Stein,
jhr Gebete war lautier und auch rein. Der heylig Ritter Se. Görg ritt daher
in seiner Hand führet er einen Speer. "Jungkfrau, was thut jhr hie allein
aufs diesem harten Marmelstein?" [Spaltenumbruch] "Ich warte da nuff ein wildes Thier,
daß mich zu verzehren wirbt kommen schier. Jüngling, rcyt hintan von mir,
daß Dich das wildtThier nicht auch verzehr." -- "Jungkfrau, fürchtet euch nicht zu sehr,
das wilde Thier tut euch nichts mehr." Er sah herüber wol über den See
da gieng der wilde Drach daher. Da warff er für sich sein scharpffes Speer
und ritt den-Drachen zu der Erd. Er zog auch auß sein Schärpen Degen
und stach dein Drachen nach seinem leben. "Jungkfrau, gebt mir cor Gürtelband,
darmit gib ich euch den Drachen an die Hand." Da führt sie jn hinfür aufs den Man,
da flohen darvon Weib und Mann. Sie führt jhn dem Vatter für den Tisch,
"Herr Vatter, hie bring ich euch ein Fisch." -- "O Tochter, wer hatt das Wunder gethan?" --
"Der Ritter S. Görg, der heilig Mann." Da ließ er anspannen Rinder und Roß
Und ließ ihn fortführen ins wilde Mooß. Also hat dieser Ruf ein End,
Gott der Herr sey selbst bey unserm End. [Ende Spaltensatz]

Nichts können unsere alten Lieder weniger vertragen als eine künstliche
Belebung. Es ist gewiß nicht meine Ansicht, daß sie "galvanisiert" werden
sollen. Man soll keinen "Verein zur Wiederbelebung usw. usw." gründen.
Wenn zwei Deutschen etwas gemeinsam gefällt, gründen sie bekanntlich einen
Verein. Bewahre uns der Himmel. Es gibt einen einfachen, viel sichereren
Weg. Die Mütter sollten ihn gehen. Sie sollten wieder mit ihren Kindern
singen. Das sollte nicht fremden Leuten überlassen werden. Ich kenne Land¬
güter, wo wöchentlich der Herr Lehrer mit seiner Geige unter dem Arm aufs
Schloß kommt, um die Kinder "singen" zu lehren. Sein Fidelbogen jammert
die alten wohl abgeleierten "Volksmelodien" (die keine sind) wie "Heiden-


Von alten Liedern

meiner Zeit. Daß ich es nicht als Kind gekannt habe, ist ein Schmerz, zumal
Se. Jörg der einzige Heilige war, zu dem ich persönliche Beziehungen hatte.
Er hing an der Uhrkette meiner Onkel auf den dicken Reitertalern und ritt
Pferde, die eines Heiligen wert waren. Und er war so schön! „Der heilige
Ritter Se. Görg ritt daher —" das wäre einem als Kind durch und durch
gegangen, und man hätte es nie wieder vergessen.

Se. Georg
[Beginn Spaltensatz] Mit Gott so wollen wir heben an:
vom Ritter Se. Görg, dem vieledlen Mann. Es hat ein König ein Drachen im Land,
er mußt haben alle Tag ein Lainb. Und wenn der Lemmer nimmer sind,
alle Tage mußt er haben ein Rind.
Und wenn der Rinder nimmer sind,
alle Tag mußt er haben ein Kind.
Der König allda Rathes Mag,
daß alle Tag einer ein Kind hergab.
Und da es heit nun gewehret lang,
da kam er an Königs sein Tochter an.
Der König hett gern erhalten beym Leben
seyn Tochter, wolt groß Gut um sie geben
Das Königreich wolls auch nicht them,
sein Tochter, die mußt selbst daran. Er legt ihr königliche Kleyder an,
Er führets wol von der Statt hin dan. Sie kniet nieder aufs einen Stein,
jhr Gebete war lautier und auch rein. Der heylig Ritter Se. Görg ritt daher
in seiner Hand führet er einen Speer. „Jungkfrau, was thut jhr hie allein
aufs diesem harten Marmelstein?" [Spaltenumbruch] „Ich warte da nuff ein wildes Thier,
daß mich zu verzehren wirbt kommen schier. Jüngling, rcyt hintan von mir,
daß Dich das wildtThier nicht auch verzehr." — „Jungkfrau, fürchtet euch nicht zu sehr,
das wilde Thier tut euch nichts mehr." Er sah herüber wol über den See
da gieng der wilde Drach daher. Da warff er für sich sein scharpffes Speer
und ritt den-Drachen zu der Erd. Er zog auch auß sein Schärpen Degen
und stach dein Drachen nach seinem leben. „Jungkfrau, gebt mir cor Gürtelband,
darmit gib ich euch den Drachen an die Hand." Da führt sie jn hinfür aufs den Man,
da flohen darvon Weib und Mann. Sie führt jhn dem Vatter für den Tisch,
„Herr Vatter, hie bring ich euch ein Fisch." — „O Tochter, wer hatt das Wunder gethan?" —
„Der Ritter S. Görg, der heilig Mann." Da ließ er anspannen Rinder und Roß
Und ließ ihn fortführen ins wilde Mooß. Also hat dieser Ruf ein End,
Gott der Herr sey selbst bey unserm End. [Ende Spaltensatz]

Nichts können unsere alten Lieder weniger vertragen als eine künstliche
Belebung. Es ist gewiß nicht meine Ansicht, daß sie „galvanisiert" werden
sollen. Man soll keinen „Verein zur Wiederbelebung usw. usw." gründen.
Wenn zwei Deutschen etwas gemeinsam gefällt, gründen sie bekanntlich einen
Verein. Bewahre uns der Himmel. Es gibt einen einfachen, viel sichereren
Weg. Die Mütter sollten ihn gehen. Sie sollten wieder mit ihren Kindern
singen. Das sollte nicht fremden Leuten überlassen werden. Ich kenne Land¬
güter, wo wöchentlich der Herr Lehrer mit seiner Geige unter dem Arm aufs
Schloß kommt, um die Kinder „singen" zu lehren. Sein Fidelbogen jammert
die alten wohl abgeleierten „Volksmelodien" (die keine sind) wie „Heiden-


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[0046] Von alten Liedern meiner Zeit. Daß ich es nicht als Kind gekannt habe, ist ein Schmerz, zumal Se. Jörg der einzige Heilige war, zu dem ich persönliche Beziehungen hatte. Er hing an der Uhrkette meiner Onkel auf den dicken Reitertalern und ritt Pferde, die eines Heiligen wert waren. Und er war so schön! „Der heilige Ritter Se. Görg ritt daher —" das wäre einem als Kind durch und durch gegangen, und man hätte es nie wieder vergessen. Se. Georg Mit Gott so wollen wir heben an: vom Ritter Se. Görg, dem vieledlen Mann. Es hat ein König ein Drachen im Land, er mußt haben alle Tag ein Lainb. Und wenn der Lemmer nimmer sind, alle Tage mußt er haben ein Rind. Und wenn der Rinder nimmer sind, alle Tag mußt er haben ein Kind. Der König allda Rathes Mag, daß alle Tag einer ein Kind hergab. Und da es heit nun gewehret lang, da kam er an Königs sein Tochter an. Der König hett gern erhalten beym Leben seyn Tochter, wolt groß Gut um sie geben Das Königreich wolls auch nicht them, sein Tochter, die mußt selbst daran. Er legt ihr königliche Kleyder an, Er führets wol von der Statt hin dan. Sie kniet nieder aufs einen Stein, jhr Gebete war lautier und auch rein. Der heylig Ritter Se. Görg ritt daher in seiner Hand führet er einen Speer. „Jungkfrau, was thut jhr hie allein aufs diesem harten Marmelstein?" „Ich warte da nuff ein wildes Thier, daß mich zu verzehren wirbt kommen schier. Jüngling, rcyt hintan von mir, daß Dich das wildtThier nicht auch verzehr." — „Jungkfrau, fürchtet euch nicht zu sehr, das wilde Thier tut euch nichts mehr." Er sah herüber wol über den See da gieng der wilde Drach daher. Da warff er für sich sein scharpffes Speer und ritt den-Drachen zu der Erd. Er zog auch auß sein Schärpen Degen und stach dein Drachen nach seinem leben. „Jungkfrau, gebt mir cor Gürtelband, darmit gib ich euch den Drachen an die Hand." Da führt sie jn hinfür aufs den Man, da flohen darvon Weib und Mann. Sie führt jhn dem Vatter für den Tisch, „Herr Vatter, hie bring ich euch ein Fisch." — „O Tochter, wer hatt das Wunder gethan?" — „Der Ritter S. Görg, der heilig Mann." Da ließ er anspannen Rinder und Roß Und ließ ihn fortführen ins wilde Mooß. Also hat dieser Ruf ein End, Gott der Herr sey selbst bey unserm End. Nichts können unsere alten Lieder weniger vertragen als eine künstliche Belebung. Es ist gewiß nicht meine Ansicht, daß sie „galvanisiert" werden sollen. Man soll keinen „Verein zur Wiederbelebung usw. usw." gründen. Wenn zwei Deutschen etwas gemeinsam gefällt, gründen sie bekanntlich einen Verein. Bewahre uns der Himmel. Es gibt einen einfachen, viel sichereren Weg. Die Mütter sollten ihn gehen. Sie sollten wieder mit ihren Kindern singen. Das sollte nicht fremden Leuten überlassen werden. Ich kenne Land¬ güter, wo wöchentlich der Herr Lehrer mit seiner Geige unter dem Arm aufs Schloß kommt, um die Kinder „singen" zu lehren. Sein Fidelbogen jammert die alten wohl abgeleierten „Volksmelodien" (die keine sind) wie „Heiden-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/46>, abgerufen am 22.07.2024.