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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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von alte" Liedern

Es ist der Vorklang zu unserem herrlichen "O Haupt voll Blut und
Wunden". Bei den Oster- wie bei den Weihnachtsspielen kommt das Volk zu
Wort; an tausend feinen menschlichen Zügen, mit denen es die heilige Handlung
ausstattet, erkennt man sein Werk. Von ganzem Herzen fühlte es die Leiden
der Karwoche mit, und der schlichten Erzähler sind viele, die sie uns wieder¬
geben, sei es als Lied, sei es als Text in einem der alten "Mysterien". Müh¬
selige Reime, ein stolperndes Versmas -- und doch von eigentümlicher Gewalt --,
denn hier und da bricht des Erzählers Stimme wie in einem Schluchzen, und
sein Schluchzen geht direkt ans Herz. Man glaubt ihm. Er klagt vor sich hin
wie ein Kind, dem Weh geschehen ist, leidvoll und leise.

O ir iöchter von Jerusalem
[Beginn Spaltensatz] lind Jesus gieng ein harten Gang
zu seiner Marter, die wehret lang. Zu seiner Marter, und der war vit,
sie hat gewehrt ein langes zik. Die Juden trieben ein großen gewillt,
sie marterten den Herrn in mancherley
gestalt. Sie banden jhm seine Hände,
der Herr stund je länger je mehre. Sie führten jhn aufs, sie führten jhn ab,
sein Marter gewehrt die ganze Nacht. Sie führten jhn hin, sie führten jhn her,
sie marterten den Herrn je länger je mehr. Sie zogen ihm da ab sein Gewand,
sie bunten jhn an ein sont hinan. Sie führten jhn von der Saul Hinwider,
sie setzten jhn in einen Sessel nieder. Was setztens jhn auss sein Haupt so rain?
wol von den scharpffen Dorn ein Kron. Sein Haupt war jhm umbfcmgen,
mit scharpffen Dorn der langen. Sie brachten vit falscher Zeugnusz dar,
und der war doch gar keines wahr. Sie führten jhn zum Statt Thor hinaus;,
wol zu den bösen Juden hinauß. [Spaltenumbruch] Das Kreuz war jhm gar Härte,
Die Jude warn sein Gefeiten. Was fand er bei dem Wege Stahr?
seine liebste Mutter, die Schawl er an. Die Frauen weinen hehre,
sein liebste Mutter noch mehre. O jhr Töchter von Jerusalem,
euer weinen soll über mich nicht gehn. Weint über euch und euer linde
über alle, die zu Jerusalem sindt. So ging er hin bis an die Statt
dn er uns all erlöset hatt. Die Nägel wurden von Blut so roth,
Herr Jesu, hilf uns aus aller not. Er starb für uns gar willichgleich
das wir all komen jn sein reich. -- -- Wol an dem Heilgen Ostertng
Erstand der Herr aus seinem Grab. Des sollt Kur alle froh sein
Christ wil unser tröst sein. Und wer er nit erstanden,
So wer die Welt zergangen. Seht das er erstanden ist
So loben wir den Herrn Jesum Christ. Durch seinen heiligen Namen,
So singen wir alle mit frewden Amen. [Ende Spaltensatz] Also hat es der Ruef ein End,
Gott sey bey uns bei unserm End.

Nicht nur Weihnachts- und Osterlieder sind einer Auferstehung wert (obgleich
sie nun einmal die schönsten von allen sind). Da ist z. B. ein altes Se. Georgs¬
lied, das Kindern Freude machen muß, wenn Kinder noch ebenso sind wie zu


Grenzboten II 1912 ö
von alte» Liedern

Es ist der Vorklang zu unserem herrlichen „O Haupt voll Blut und
Wunden". Bei den Oster- wie bei den Weihnachtsspielen kommt das Volk zu
Wort; an tausend feinen menschlichen Zügen, mit denen es die heilige Handlung
ausstattet, erkennt man sein Werk. Von ganzem Herzen fühlte es die Leiden
der Karwoche mit, und der schlichten Erzähler sind viele, die sie uns wieder¬
geben, sei es als Lied, sei es als Text in einem der alten „Mysterien". Müh¬
selige Reime, ein stolperndes Versmas — und doch von eigentümlicher Gewalt —,
denn hier und da bricht des Erzählers Stimme wie in einem Schluchzen, und
sein Schluchzen geht direkt ans Herz. Man glaubt ihm. Er klagt vor sich hin
wie ein Kind, dem Weh geschehen ist, leidvoll und leise.

O ir iöchter von Jerusalem
[Beginn Spaltensatz] lind Jesus gieng ein harten Gang
zu seiner Marter, die wehret lang. Zu seiner Marter, und der war vit,
sie hat gewehrt ein langes zik. Die Juden trieben ein großen gewillt,
sie marterten den Herrn in mancherley
gestalt. Sie banden jhm seine Hände,
der Herr stund je länger je mehre. Sie führten jhn aufs, sie führten jhn ab,
sein Marter gewehrt die ganze Nacht. Sie führten jhn hin, sie führten jhn her,
sie marterten den Herrn je länger je mehr. Sie zogen ihm da ab sein Gewand,
sie bunten jhn an ein sont hinan. Sie führten jhn von der Saul Hinwider,
sie setzten jhn in einen Sessel nieder. Was setztens jhn auss sein Haupt so rain?
wol von den scharpffen Dorn ein Kron. Sein Haupt war jhm umbfcmgen,
mit scharpffen Dorn der langen. Sie brachten vit falscher Zeugnusz dar,
und der war doch gar keines wahr. Sie führten jhn zum Statt Thor hinaus;,
wol zu den bösen Juden hinauß. [Spaltenumbruch] Das Kreuz war jhm gar Härte,
Die Jude warn sein Gefeiten. Was fand er bei dem Wege Stahr?
seine liebste Mutter, die Schawl er an. Die Frauen weinen hehre,
sein liebste Mutter noch mehre. O jhr Töchter von Jerusalem,
euer weinen soll über mich nicht gehn. Weint über euch und euer linde
über alle, die zu Jerusalem sindt. So ging er hin bis an die Statt
dn er uns all erlöset hatt. Die Nägel wurden von Blut so roth,
Herr Jesu, hilf uns aus aller not. Er starb für uns gar willichgleich
das wir all komen jn sein reich. — — Wol an dem Heilgen Ostertng
Erstand der Herr aus seinem Grab. Des sollt Kur alle froh sein
Christ wil unser tröst sein. Und wer er nit erstanden,
So wer die Welt zergangen. Seht das er erstanden ist
So loben wir den Herrn Jesum Christ. Durch seinen heiligen Namen,
So singen wir alle mit frewden Amen. [Ende Spaltensatz] Also hat es der Ruef ein End,
Gott sey bey uns bei unserm End.

Nicht nur Weihnachts- und Osterlieder sind einer Auferstehung wert (obgleich
sie nun einmal die schönsten von allen sind). Da ist z. B. ein altes Se. Georgs¬
lied, das Kindern Freude machen muß, wenn Kinder noch ebenso sind wie zu


Grenzboten II 1912 ö
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/45>, abgerufen am 22.07.2024.