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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Zur Vardcrnellenfrage

und die Schiffahrt von und nach dem Schwarzen Meer lahmlegte und den
Handel- und schiffahrttreibenden Angehörigen einer Reihe von Staaten einen
Schaden zufügte, der sich auf viele Millionen beziffert.

Allen voran dürfte Rußland durch die Dardanellensperre betroffen sein,
und es ist verständlich, wenn man dort die Vorgänge der jüngsten Zeit zum
Anlaß nimmt, die Meerengenfrage auf ihre wirtschaftliche Bedeutung hin zu
prüfen, wobei der militärische Gesichtspunkt im Augenblick durchaus in den
Hintergrund tritt. Vor allem ist es der südrussische Getreidehandel, der seine
Interessen ernstlich gefährdet sieht. Südrußland, die Kornkammer Rußlands,
ist auf die Ausfuhr seiner reichen Getreideschätze unbedingt 'angewiesen und jede
längere Zeit anhaltende Störung des Exportes ist geeignet, das südrussische
Wirtschaftsleben in empfindlicher Weise zu beeinträchtigen. Es ist eine immerhin
günstige Fügung, daß die Sperre zu einer Zeit geschah, in der das Export¬
bedürfnis weniger lebhaft hervortritt als es einige Monate später, sobald die
neue Ernte eingebracht ist, der Fall sein wird. Indessen ist der Schaden
angesichts der Bedeutung des Getreidehandels für Südrußland schon jetzt außer¬
ordentlich beträchtlich. Außer ihm sind es namentlich die südrussische Schiffahrt
und der Levantehandel, die besonders in Mitleidenschaft gezogen werden. --
In zweiter Linie sind es wohl England und Deutschland, die beide einen aus¬
gedehnten Schiffs- und Handelsverkehr mit den: Schwarzen Meer unterhalten,
auf deren Wirtschaftsleben die Sperre einen nachteiligen Einfluß ausgeübt
hat; ihnen folgen Österreich, Rumänien, Griechenland usw.

In Rußland sowohl wie in England ist die Frage aufgeworfen worden,
ob und wieweit die Türkei für den Schaden, den die Sperre verursacht hat,
ersatzpflichtig gemacht werden könne. Soweit bekannt, hat der russische Bot¬
schafter in Konstantinopel in der Tat die Frage des Schadenersatzes zur Sprache
gebracht, wenngleich die Hoffnung, mit einer derartigen Forderung durchzuringen,
bei der russischen Regierung selbst nicht besonders groß zu sein scheint.

Zur Beantwortung der Frage ist davon auszugehen, daß die die Darda¬
nellen betreffenden Verträge die Türkei an keiner Stelle exx>ressi8 verbig ver¬
pflichten, die Dardanellen unter keinen Umständen zu sperren. Ja mehr noch!
In keinem der Verträge wird ausdrücklich ausgesprochen, daß die Handelsschiffe
zu jeder Zeit die Meerengen passieren können und dürfen. Da besondere inter¬
nationale Vereinbarungen in bezug auf die Handelsschiffahrt in den Dardanellen
usw. nicht bestehen, so sind auf sie in dieser Hinsicht die allgemeinen Grund¬
sätze des Völkerrechts anzuwenden. Nach den Regeln des Völkerrechts sind
aber Meerengen, die zwei offene Meere miteinander verbinden, soweit nicht
ausdrücklich etwas anderes vereinbart ist, ebenso frei wie das Weltmeer selber;
sind diese Meerengen von den Territorien nur eines Staates eingeschlossen und
können sie von ihm von den Ufern aus beherrscht werden, so stehen sie zwar
unter der Herrschaft dieses Staates, er hat aber nicht das Recht, unter nor¬
malen Verhältnissen den Handelsverkehr und die Schiffahrt einzuschränken. Es


Zur Vardcrnellenfrage

und die Schiffahrt von und nach dem Schwarzen Meer lahmlegte und den
Handel- und schiffahrttreibenden Angehörigen einer Reihe von Staaten einen
Schaden zufügte, der sich auf viele Millionen beziffert.

Allen voran dürfte Rußland durch die Dardanellensperre betroffen sein,
und es ist verständlich, wenn man dort die Vorgänge der jüngsten Zeit zum
Anlaß nimmt, die Meerengenfrage auf ihre wirtschaftliche Bedeutung hin zu
prüfen, wobei der militärische Gesichtspunkt im Augenblick durchaus in den
Hintergrund tritt. Vor allem ist es der südrussische Getreidehandel, der seine
Interessen ernstlich gefährdet sieht. Südrußland, die Kornkammer Rußlands,
ist auf die Ausfuhr seiner reichen Getreideschätze unbedingt 'angewiesen und jede
längere Zeit anhaltende Störung des Exportes ist geeignet, das südrussische
Wirtschaftsleben in empfindlicher Weise zu beeinträchtigen. Es ist eine immerhin
günstige Fügung, daß die Sperre zu einer Zeit geschah, in der das Export¬
bedürfnis weniger lebhaft hervortritt als es einige Monate später, sobald die
neue Ernte eingebracht ist, der Fall sein wird. Indessen ist der Schaden
angesichts der Bedeutung des Getreidehandels für Südrußland schon jetzt außer¬
ordentlich beträchtlich. Außer ihm sind es namentlich die südrussische Schiffahrt
und der Levantehandel, die besonders in Mitleidenschaft gezogen werden. —
In zweiter Linie sind es wohl England und Deutschland, die beide einen aus¬
gedehnten Schiffs- und Handelsverkehr mit den: Schwarzen Meer unterhalten,
auf deren Wirtschaftsleben die Sperre einen nachteiligen Einfluß ausgeübt
hat; ihnen folgen Österreich, Rumänien, Griechenland usw.

In Rußland sowohl wie in England ist die Frage aufgeworfen worden,
ob und wieweit die Türkei für den Schaden, den die Sperre verursacht hat,
ersatzpflichtig gemacht werden könne. Soweit bekannt, hat der russische Bot¬
schafter in Konstantinopel in der Tat die Frage des Schadenersatzes zur Sprache
gebracht, wenngleich die Hoffnung, mit einer derartigen Forderung durchzuringen,
bei der russischen Regierung selbst nicht besonders groß zu sein scheint.

Zur Beantwortung der Frage ist davon auszugehen, daß die die Darda¬
nellen betreffenden Verträge die Türkei an keiner Stelle exx>ressi8 verbig ver¬
pflichten, die Dardanellen unter keinen Umständen zu sperren. Ja mehr noch!
In keinem der Verträge wird ausdrücklich ausgesprochen, daß die Handelsschiffe
zu jeder Zeit die Meerengen passieren können und dürfen. Da besondere inter¬
nationale Vereinbarungen in bezug auf die Handelsschiffahrt in den Dardanellen
usw. nicht bestehen, so sind auf sie in dieser Hinsicht die allgemeinen Grund¬
sätze des Völkerrechts anzuwenden. Nach den Regeln des Völkerrechts sind
aber Meerengen, die zwei offene Meere miteinander verbinden, soweit nicht
ausdrücklich etwas anderes vereinbart ist, ebenso frei wie das Weltmeer selber;
sind diese Meerengen von den Territorien nur eines Staates eingeschlossen und
können sie von ihm von den Ufern aus beherrscht werden, so stehen sie zwar
unter der Herrschaft dieses Staates, er hat aber nicht das Recht, unter nor¬
malen Verhältnissen den Handelsverkehr und die Schiffahrt einzuschränken. Es


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[0431] Zur Vardcrnellenfrage und die Schiffahrt von und nach dem Schwarzen Meer lahmlegte und den Handel- und schiffahrttreibenden Angehörigen einer Reihe von Staaten einen Schaden zufügte, der sich auf viele Millionen beziffert. Allen voran dürfte Rußland durch die Dardanellensperre betroffen sein, und es ist verständlich, wenn man dort die Vorgänge der jüngsten Zeit zum Anlaß nimmt, die Meerengenfrage auf ihre wirtschaftliche Bedeutung hin zu prüfen, wobei der militärische Gesichtspunkt im Augenblick durchaus in den Hintergrund tritt. Vor allem ist es der südrussische Getreidehandel, der seine Interessen ernstlich gefährdet sieht. Südrußland, die Kornkammer Rußlands, ist auf die Ausfuhr seiner reichen Getreideschätze unbedingt 'angewiesen und jede längere Zeit anhaltende Störung des Exportes ist geeignet, das südrussische Wirtschaftsleben in empfindlicher Weise zu beeinträchtigen. Es ist eine immerhin günstige Fügung, daß die Sperre zu einer Zeit geschah, in der das Export¬ bedürfnis weniger lebhaft hervortritt als es einige Monate später, sobald die neue Ernte eingebracht ist, der Fall sein wird. Indessen ist der Schaden angesichts der Bedeutung des Getreidehandels für Südrußland schon jetzt außer¬ ordentlich beträchtlich. Außer ihm sind es namentlich die südrussische Schiffahrt und der Levantehandel, die besonders in Mitleidenschaft gezogen werden. — In zweiter Linie sind es wohl England und Deutschland, die beide einen aus¬ gedehnten Schiffs- und Handelsverkehr mit den: Schwarzen Meer unterhalten, auf deren Wirtschaftsleben die Sperre einen nachteiligen Einfluß ausgeübt hat; ihnen folgen Österreich, Rumänien, Griechenland usw. In Rußland sowohl wie in England ist die Frage aufgeworfen worden, ob und wieweit die Türkei für den Schaden, den die Sperre verursacht hat, ersatzpflichtig gemacht werden könne. Soweit bekannt, hat der russische Bot¬ schafter in Konstantinopel in der Tat die Frage des Schadenersatzes zur Sprache gebracht, wenngleich die Hoffnung, mit einer derartigen Forderung durchzuringen, bei der russischen Regierung selbst nicht besonders groß zu sein scheint. Zur Beantwortung der Frage ist davon auszugehen, daß die die Darda¬ nellen betreffenden Verträge die Türkei an keiner Stelle exx>ressi8 verbig ver¬ pflichten, die Dardanellen unter keinen Umständen zu sperren. Ja mehr noch! In keinem der Verträge wird ausdrücklich ausgesprochen, daß die Handelsschiffe zu jeder Zeit die Meerengen passieren können und dürfen. Da besondere inter¬ nationale Vereinbarungen in bezug auf die Handelsschiffahrt in den Dardanellen usw. nicht bestehen, so sind auf sie in dieser Hinsicht die allgemeinen Grund¬ sätze des Völkerrechts anzuwenden. Nach den Regeln des Völkerrechts sind aber Meerengen, die zwei offene Meere miteinander verbinden, soweit nicht ausdrücklich etwas anderes vereinbart ist, ebenso frei wie das Weltmeer selber; sind diese Meerengen von den Territorien nur eines Staates eingeschlossen und können sie von ihm von den Ufern aus beherrscht werden, so stehen sie zwar unter der Herrschaft dieses Staates, er hat aber nicht das Recht, unter nor¬ malen Verhältnissen den Handelsverkehr und die Schiffahrt einzuschränken. Es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/431>, abgerufen am 23.07.2024.