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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Die Schicksalsstunde der deutschen Landwirtschaft

mehrungsziffer? Nur darum, weil sie Existenzmöglichkeiten, Arbeitsgelegenheiten
reichlich vor sich sehen. Geben wir dem deutschen Volke nur Arbeitsgelegenheit.
Aber die haben wir ja. Sichern wir ihm nur diese Arbeitsgelegenheit. Machen
wir die deutsche Arbeitsgelegenheit zum Rechte der Besitzlosen, zum Erbe der
Enterbten, sichern wir dem deutschen Arbeiter die Existenzmöglichkeiten, die wir
jetzt an Fremde verschenken, so werden die Vermehrungsziffern sofort anschwellen.

Zwar nimmt die Arbeiterbevölkerung in den großen Städten, besonders die
zweite Generation nach der Einwanderung vom Land, die in den Stand der
hoch bezahlten Arbeiter, der Schriftsetzer, Maschinenarbeiter und ähnlicher auf¬
gerückt ist, leicht die Sitten des besitzenden Bürgertums an. Sie beschränkt die
Kinderzahl; in den Familien der besser bezahlten großstädtischen Arbeiter findet
man sehr häufig nur ein oder zwei Kinder. Und das ist begreiflich. Denn es ist
nun einmal in den Großstädten schwierig und entmutigend, die bleiche Jugend
auf den Höfen groß zu ziehen. Kinderzucht gehört, wie Viehzucht, auf das Land;
das gilt mindestens von den untersten Ständen und also von der Masse des
Volkes. In den Städten kostet jedes Kind bares Geld und nimmt den anderen
Brot und Luft. Auf dem Lande aber, wenigstens wo es so ist wie es sein
soll, da ist die Hauswirtschaft der kleinen Leute nicht bloß Konsumtivwirtschaft,
sondern auch Produktivwirtschaft, wenigstens zu einem Teil. Die aufwachsenden
Kinder verzehren nicht nur, sie produzieren auch sehr bald mit in der kleinen
Viehwirtschaft. Mindestens aber kostet dort die frische Luft, welche für die
Kinderzucht noch wichtiger ist als das Brot, kein Geld. Darum hängt die
Vermehrungsfähigkeit hauptsächlich davon ab, wie viel Herdfeuer, wie viel
Familienstätten es auf dem Lande gibt. Also vermehren wir nur diese Herd¬
feuer auf dem Lande. Aber zunächst müssen wir einmal die bittere Wahrheit
erkennen, daß es in unseren östlichen Provinzen solcher Herdfeuer auf
dem Lande heute weniger gibt als vor hundert Jahren, vor der
Hardenbergifchen Agrarreform! Durch die ungewollten Wirkungen dieser
Reform sind die Wohnstätten der besitzarmen Bevölkerung in unserm Osten
verringert worden. Es ist gerade der Vorteil Posens und der Polen, daß dort
die agrarische Entwicklung nicht so mit dem kleinsten Besitz aufgeräumt hat,
wie in unseren Provinzen. Also sollten wir diesen Verlust erst einmal aus¬
gleichen, und dann darüber hinausgehen, diese Herdfeuer zu vermehren, dann
werden wir auch um diese Wohnstätten genug blondköpfige Jugend herum¬
springen sehen, nicht nur genug, um die Arbeit zu bewältigen, die die wachsende
Kultur dem deutschen Volke stellt, industrielle und landwirtschaftliche, sondern
darüber hinaus noch einen Überschuß, einen ver 8acrum, eine Jungmannschaft
erster Qualität, womit wir unseren Anteil an der Erde wirtschaftlich erobern
wollen. Der Reichtum und die Zukunftskraft eines Volkes liegt
nicht in Kolonien oder Bergwerken oder Fabriken oder Kapitalien, sondern im
Menschennachwuchs, in der lebendigen Menschensaat, welche es i"
die Äcker der Zukunft werfen kann.


Die Schicksalsstunde der deutschen Landwirtschaft

mehrungsziffer? Nur darum, weil sie Existenzmöglichkeiten, Arbeitsgelegenheiten
reichlich vor sich sehen. Geben wir dem deutschen Volke nur Arbeitsgelegenheit.
Aber die haben wir ja. Sichern wir ihm nur diese Arbeitsgelegenheit. Machen
wir die deutsche Arbeitsgelegenheit zum Rechte der Besitzlosen, zum Erbe der
Enterbten, sichern wir dem deutschen Arbeiter die Existenzmöglichkeiten, die wir
jetzt an Fremde verschenken, so werden die Vermehrungsziffern sofort anschwellen.

Zwar nimmt die Arbeiterbevölkerung in den großen Städten, besonders die
zweite Generation nach der Einwanderung vom Land, die in den Stand der
hoch bezahlten Arbeiter, der Schriftsetzer, Maschinenarbeiter und ähnlicher auf¬
gerückt ist, leicht die Sitten des besitzenden Bürgertums an. Sie beschränkt die
Kinderzahl; in den Familien der besser bezahlten großstädtischen Arbeiter findet
man sehr häufig nur ein oder zwei Kinder. Und das ist begreiflich. Denn es ist
nun einmal in den Großstädten schwierig und entmutigend, die bleiche Jugend
auf den Höfen groß zu ziehen. Kinderzucht gehört, wie Viehzucht, auf das Land;
das gilt mindestens von den untersten Ständen und also von der Masse des
Volkes. In den Städten kostet jedes Kind bares Geld und nimmt den anderen
Brot und Luft. Auf dem Lande aber, wenigstens wo es so ist wie es sein
soll, da ist die Hauswirtschaft der kleinen Leute nicht bloß Konsumtivwirtschaft,
sondern auch Produktivwirtschaft, wenigstens zu einem Teil. Die aufwachsenden
Kinder verzehren nicht nur, sie produzieren auch sehr bald mit in der kleinen
Viehwirtschaft. Mindestens aber kostet dort die frische Luft, welche für die
Kinderzucht noch wichtiger ist als das Brot, kein Geld. Darum hängt die
Vermehrungsfähigkeit hauptsächlich davon ab, wie viel Herdfeuer, wie viel
Familienstätten es auf dem Lande gibt. Also vermehren wir nur diese Herd¬
feuer auf dem Lande. Aber zunächst müssen wir einmal die bittere Wahrheit
erkennen, daß es in unseren östlichen Provinzen solcher Herdfeuer auf
dem Lande heute weniger gibt als vor hundert Jahren, vor der
Hardenbergifchen Agrarreform! Durch die ungewollten Wirkungen dieser
Reform sind die Wohnstätten der besitzarmen Bevölkerung in unserm Osten
verringert worden. Es ist gerade der Vorteil Posens und der Polen, daß dort
die agrarische Entwicklung nicht so mit dem kleinsten Besitz aufgeräumt hat,
wie in unseren Provinzen. Also sollten wir diesen Verlust erst einmal aus¬
gleichen, und dann darüber hinausgehen, diese Herdfeuer zu vermehren, dann
werden wir auch um diese Wohnstätten genug blondköpfige Jugend herum¬
springen sehen, nicht nur genug, um die Arbeit zu bewältigen, die die wachsende
Kultur dem deutschen Volke stellt, industrielle und landwirtschaftliche, sondern
darüber hinaus noch einen Überschuß, einen ver 8acrum, eine Jungmannschaft
erster Qualität, womit wir unseren Anteil an der Erde wirtschaftlich erobern
wollen. Der Reichtum und die Zukunftskraft eines Volkes liegt
nicht in Kolonien oder Bergwerken oder Fabriken oder Kapitalien, sondern im
Menschennachwuchs, in der lebendigen Menschensaat, welche es i»
die Äcker der Zukunft werfen kann.


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[0424] Die Schicksalsstunde der deutschen Landwirtschaft mehrungsziffer? Nur darum, weil sie Existenzmöglichkeiten, Arbeitsgelegenheiten reichlich vor sich sehen. Geben wir dem deutschen Volke nur Arbeitsgelegenheit. Aber die haben wir ja. Sichern wir ihm nur diese Arbeitsgelegenheit. Machen wir die deutsche Arbeitsgelegenheit zum Rechte der Besitzlosen, zum Erbe der Enterbten, sichern wir dem deutschen Arbeiter die Existenzmöglichkeiten, die wir jetzt an Fremde verschenken, so werden die Vermehrungsziffern sofort anschwellen. Zwar nimmt die Arbeiterbevölkerung in den großen Städten, besonders die zweite Generation nach der Einwanderung vom Land, die in den Stand der hoch bezahlten Arbeiter, der Schriftsetzer, Maschinenarbeiter und ähnlicher auf¬ gerückt ist, leicht die Sitten des besitzenden Bürgertums an. Sie beschränkt die Kinderzahl; in den Familien der besser bezahlten großstädtischen Arbeiter findet man sehr häufig nur ein oder zwei Kinder. Und das ist begreiflich. Denn es ist nun einmal in den Großstädten schwierig und entmutigend, die bleiche Jugend auf den Höfen groß zu ziehen. Kinderzucht gehört, wie Viehzucht, auf das Land; das gilt mindestens von den untersten Ständen und also von der Masse des Volkes. In den Städten kostet jedes Kind bares Geld und nimmt den anderen Brot und Luft. Auf dem Lande aber, wenigstens wo es so ist wie es sein soll, da ist die Hauswirtschaft der kleinen Leute nicht bloß Konsumtivwirtschaft, sondern auch Produktivwirtschaft, wenigstens zu einem Teil. Die aufwachsenden Kinder verzehren nicht nur, sie produzieren auch sehr bald mit in der kleinen Viehwirtschaft. Mindestens aber kostet dort die frische Luft, welche für die Kinderzucht noch wichtiger ist als das Brot, kein Geld. Darum hängt die Vermehrungsfähigkeit hauptsächlich davon ab, wie viel Herdfeuer, wie viel Familienstätten es auf dem Lande gibt. Also vermehren wir nur diese Herd¬ feuer auf dem Lande. Aber zunächst müssen wir einmal die bittere Wahrheit erkennen, daß es in unseren östlichen Provinzen solcher Herdfeuer auf dem Lande heute weniger gibt als vor hundert Jahren, vor der Hardenbergifchen Agrarreform! Durch die ungewollten Wirkungen dieser Reform sind die Wohnstätten der besitzarmen Bevölkerung in unserm Osten verringert worden. Es ist gerade der Vorteil Posens und der Polen, daß dort die agrarische Entwicklung nicht so mit dem kleinsten Besitz aufgeräumt hat, wie in unseren Provinzen. Also sollten wir diesen Verlust erst einmal aus¬ gleichen, und dann darüber hinausgehen, diese Herdfeuer zu vermehren, dann werden wir auch um diese Wohnstätten genug blondköpfige Jugend herum¬ springen sehen, nicht nur genug, um die Arbeit zu bewältigen, die die wachsende Kultur dem deutschen Volke stellt, industrielle und landwirtschaftliche, sondern darüber hinaus noch einen Überschuß, einen ver 8acrum, eine Jungmannschaft erster Qualität, womit wir unseren Anteil an der Erde wirtschaftlich erobern wollen. Der Reichtum und die Zukunftskraft eines Volkes liegt nicht in Kolonien oder Bergwerken oder Fabriken oder Kapitalien, sondern im Menschennachwuchs, in der lebendigen Menschensaat, welche es i» die Äcker der Zukunft werfen kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/424>, abgerufen am 03.07.2024.