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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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August Strindberg

stören. Oft umkleidet sie diese geheimnisvolle Mission mit düsterer Hoheit
("Nach Damaskus"); dann nähern sie sich dem Erinnyentypus der Antike. Aber
es fehlt sast überall eine befriedigende logische Begründung ihrer Wesensart
und ihres Handelns. Laura im "Vater" treibt den Gatten in Wahnsinn und
Tod, nur um über ihrer Tochter Erziehung verfügen zu können. Die Genußgier
der Mutter im "Scheiterhaufen" wird zwar mehrfach von den Mitspielern
besprochen, aber nicht lebendig vor unseren Augen charakterisiert. Der Haß des
Fanatikers ist in diese künstlerischen Formen gegossen, der durch die um jene
Zeit in Schweden lebhaft einsetzende Frauenbewegung noch unmäßig gereizt
war. Was dort als Programm aufgestellt wurde, widersprach so schneidend
seinen eigenen Erlebnissen; aus ihnen hat der sonst so gerechte Mann niemals
loslösen können, was eigenes Verschulden und Torheit hineingewoben hatte. Die
Wunde war zu tief, als daß sie je hätte heilen können.

Sonst aber vollzieht sich mit dem Näherrücken der Jahrhundertwende bei
Strindberg ein langsames Genesen, das sich schon in den biographischen Schriften
vorbereitet. Da hemmt der Wanderer zuweilen den Schritt, um den zurück¬
gelegten Weg zu überblicken und sich von seinem jeweiligen Standort zu
orientieren: "Hatte er nun sein Ich gefunden während dieser langen, trüben
Wanderung im Schattenreich der Erinnerungen? Nein! zu antworten hätte ihm
früher Verlegenheit bereitet, denn ein persönlicher Gott verlangt eine verant¬
wortliche Persönlichkeit; jetzt aber kümmert ihn das weniger, da er weiß, daß
das Ich die sehr gebrechliche Form einer kleinen in Bewegung befindlichen
Quantität Kraft ist, oder Materie, die sich unter den und den gegebenen Ver¬
hältnissen so und so entwickelt. Aber was hatte er damit gewonnen, da das
ihn ebensowenig anging wie die Fragen, ob es einen Gott gibt, ob die Sterne
leuchtende Punkte sind? Fand er nicht direkt, was er suchte, so entdeckte er auf
dem Wege andere unerwartete Dinge, die er vielleicht nicht gewünscht, auf die
ihn aber seine blinde Leidenschaft, den wahren Sachverhalt zu suchen, geführt hatte.
Aber das Ergebnis? fragt man. Wo liegt die Wahrheit, die er suchte? Die liegt
hier und dort in den tausend gedruckten Seiten; such sie auf, sammle sie und sieh
nach, ob sie zusammengefaßt werden kann; sieh nach, ob sie länger gültig ist als
ein Jahr, fünf Jahre____ Und vergiß nicht, daß die Wahrheit deshalb nicht zu
finden ist, weil sie sich, wie alles, in einer beständigen Entwicklung befindet."

"In einer beständigen Entwicklung!" Sollte diese im kleinen Menschen¬
leben wie im All wirklich nur das Spiel blinder Kräfte sein? Das war ein
Standpunkt, auf dem der unerschrockene Wahrheitsucher nicht lange beharren
konnte. Am Anfang der naturwissenschaftlichen Essays "Sylva S^lvarum",
deren Vorwort noch den Stempel der schweren Nervenkrankheit trägt, erzählt
Strindberg, wie ihm die vorübergehende Erkenntnis, die Wissenschaft habe alle
Rätsel des Universums gelöst, die tiefste Verzweiflung gebracht habe. Es gab
für ihn nichts mehr in der Welt zu tun, und er beschloß, sich mit Blausäure-
dämpfen zu vergiften. Aber als er sich über die Retorte beugte, stieg mit dem


August Strindberg

stören. Oft umkleidet sie diese geheimnisvolle Mission mit düsterer Hoheit
(„Nach Damaskus"); dann nähern sie sich dem Erinnyentypus der Antike. Aber
es fehlt sast überall eine befriedigende logische Begründung ihrer Wesensart
und ihres Handelns. Laura im „Vater" treibt den Gatten in Wahnsinn und
Tod, nur um über ihrer Tochter Erziehung verfügen zu können. Die Genußgier
der Mutter im „Scheiterhaufen" wird zwar mehrfach von den Mitspielern
besprochen, aber nicht lebendig vor unseren Augen charakterisiert. Der Haß des
Fanatikers ist in diese künstlerischen Formen gegossen, der durch die um jene
Zeit in Schweden lebhaft einsetzende Frauenbewegung noch unmäßig gereizt
war. Was dort als Programm aufgestellt wurde, widersprach so schneidend
seinen eigenen Erlebnissen; aus ihnen hat der sonst so gerechte Mann niemals
loslösen können, was eigenes Verschulden und Torheit hineingewoben hatte. Die
Wunde war zu tief, als daß sie je hätte heilen können.

Sonst aber vollzieht sich mit dem Näherrücken der Jahrhundertwende bei
Strindberg ein langsames Genesen, das sich schon in den biographischen Schriften
vorbereitet. Da hemmt der Wanderer zuweilen den Schritt, um den zurück¬
gelegten Weg zu überblicken und sich von seinem jeweiligen Standort zu
orientieren: „Hatte er nun sein Ich gefunden während dieser langen, trüben
Wanderung im Schattenreich der Erinnerungen? Nein! zu antworten hätte ihm
früher Verlegenheit bereitet, denn ein persönlicher Gott verlangt eine verant¬
wortliche Persönlichkeit; jetzt aber kümmert ihn das weniger, da er weiß, daß
das Ich die sehr gebrechliche Form einer kleinen in Bewegung befindlichen
Quantität Kraft ist, oder Materie, die sich unter den und den gegebenen Ver¬
hältnissen so und so entwickelt. Aber was hatte er damit gewonnen, da das
ihn ebensowenig anging wie die Fragen, ob es einen Gott gibt, ob die Sterne
leuchtende Punkte sind? Fand er nicht direkt, was er suchte, so entdeckte er auf
dem Wege andere unerwartete Dinge, die er vielleicht nicht gewünscht, auf die
ihn aber seine blinde Leidenschaft, den wahren Sachverhalt zu suchen, geführt hatte.
Aber das Ergebnis? fragt man. Wo liegt die Wahrheit, die er suchte? Die liegt
hier und dort in den tausend gedruckten Seiten; such sie auf, sammle sie und sieh
nach, ob sie zusammengefaßt werden kann; sieh nach, ob sie länger gültig ist als
ein Jahr, fünf Jahre____ Und vergiß nicht, daß die Wahrheit deshalb nicht zu
finden ist, weil sie sich, wie alles, in einer beständigen Entwicklung befindet."

„In einer beständigen Entwicklung!" Sollte diese im kleinen Menschen¬
leben wie im All wirklich nur das Spiel blinder Kräfte sein? Das war ein
Standpunkt, auf dem der unerschrockene Wahrheitsucher nicht lange beharren
konnte. Am Anfang der naturwissenschaftlichen Essays „Sylva S^lvarum",
deren Vorwort noch den Stempel der schweren Nervenkrankheit trägt, erzählt
Strindberg, wie ihm die vorübergehende Erkenntnis, die Wissenschaft habe alle
Rätsel des Universums gelöst, die tiefste Verzweiflung gebracht habe. Es gab
für ihn nichts mehr in der Welt zu tun, und er beschloß, sich mit Blausäure-
dämpfen zu vergiften. Aber als er sich über die Retorte beugte, stieg mit dem


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[0395] August Strindberg stören. Oft umkleidet sie diese geheimnisvolle Mission mit düsterer Hoheit („Nach Damaskus"); dann nähern sie sich dem Erinnyentypus der Antike. Aber es fehlt sast überall eine befriedigende logische Begründung ihrer Wesensart und ihres Handelns. Laura im „Vater" treibt den Gatten in Wahnsinn und Tod, nur um über ihrer Tochter Erziehung verfügen zu können. Die Genußgier der Mutter im „Scheiterhaufen" wird zwar mehrfach von den Mitspielern besprochen, aber nicht lebendig vor unseren Augen charakterisiert. Der Haß des Fanatikers ist in diese künstlerischen Formen gegossen, der durch die um jene Zeit in Schweden lebhaft einsetzende Frauenbewegung noch unmäßig gereizt war. Was dort als Programm aufgestellt wurde, widersprach so schneidend seinen eigenen Erlebnissen; aus ihnen hat der sonst so gerechte Mann niemals loslösen können, was eigenes Verschulden und Torheit hineingewoben hatte. Die Wunde war zu tief, als daß sie je hätte heilen können. Sonst aber vollzieht sich mit dem Näherrücken der Jahrhundertwende bei Strindberg ein langsames Genesen, das sich schon in den biographischen Schriften vorbereitet. Da hemmt der Wanderer zuweilen den Schritt, um den zurück¬ gelegten Weg zu überblicken und sich von seinem jeweiligen Standort zu orientieren: „Hatte er nun sein Ich gefunden während dieser langen, trüben Wanderung im Schattenreich der Erinnerungen? Nein! zu antworten hätte ihm früher Verlegenheit bereitet, denn ein persönlicher Gott verlangt eine verant¬ wortliche Persönlichkeit; jetzt aber kümmert ihn das weniger, da er weiß, daß das Ich die sehr gebrechliche Form einer kleinen in Bewegung befindlichen Quantität Kraft ist, oder Materie, die sich unter den und den gegebenen Ver¬ hältnissen so und so entwickelt. Aber was hatte er damit gewonnen, da das ihn ebensowenig anging wie die Fragen, ob es einen Gott gibt, ob die Sterne leuchtende Punkte sind? Fand er nicht direkt, was er suchte, so entdeckte er auf dem Wege andere unerwartete Dinge, die er vielleicht nicht gewünscht, auf die ihn aber seine blinde Leidenschaft, den wahren Sachverhalt zu suchen, geführt hatte. Aber das Ergebnis? fragt man. Wo liegt die Wahrheit, die er suchte? Die liegt hier und dort in den tausend gedruckten Seiten; such sie auf, sammle sie und sieh nach, ob sie zusammengefaßt werden kann; sieh nach, ob sie länger gültig ist als ein Jahr, fünf Jahre____ Und vergiß nicht, daß die Wahrheit deshalb nicht zu finden ist, weil sie sich, wie alles, in einer beständigen Entwicklung befindet." „In einer beständigen Entwicklung!" Sollte diese im kleinen Menschen¬ leben wie im All wirklich nur das Spiel blinder Kräfte sein? Das war ein Standpunkt, auf dem der unerschrockene Wahrheitsucher nicht lange beharren konnte. Am Anfang der naturwissenschaftlichen Essays „Sylva S^lvarum", deren Vorwort noch den Stempel der schweren Nervenkrankheit trägt, erzählt Strindberg, wie ihm die vorübergehende Erkenntnis, die Wissenschaft habe alle Rätsel des Universums gelöst, die tiefste Verzweiflung gebracht habe. Es gab für ihn nichts mehr in der Welt zu tun, und er beschloß, sich mit Blausäure- dämpfen zu vergiften. Aber als er sich über die Retorte beugte, stieg mit dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/395>, abgerufen am 01.07.2024.