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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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August Stnndberg

Leidenschaft sind vor der zersetzenden Analyse dieser Selbstbeobachtung sicher.
Sie zerrt unbarmherzig an den Einschlagsfäden dieses wunderlichen Lebens¬
gewebes, um zu zeigen, wie sich die Kämpfe um eine Weltanschauung vor¬
bereiteten im unbewußten Fühlen frühester Jugendjahre und achtet nicht der
bitteren Schmerzen über Erinnerungen, die nicht sterben wollen. Das analytische
Ich sieht hohnlächelnd der Wandlung des Gottsuchers in den Atheisten zu, und
sein Kommentar begleitet die Gebetsinbrunst des Vaters, der heilende Hände
auf feines Kindes siechen Leib legt. Als endlich für eine Zeit die Kraft dieses
Geistes gebrochen ist und er mit Augen, die der Wahnsinn verdunkelt oder
hellsichtig gemacht hat, die Dämonen des Abgrunds um sich versammelt sieht,
ist der unzertrennliche Begleiter dennoch dort und zeichnet mit glühendem
Griffel die quälenden Erlebnisse des "Inferno" auf.

Hier liegt der tiefste Punkt auf dem langen Leidenswege eines Geistes,
der nicht vergessen kann. Wie getreulich bewahrt dies erbarmungslose Gedächtnis
jede geringfügige Kränkung oder Zurücksetzung während des Knabenalters, wie
intensiv läßt uns die glänzende Darstellungskunst des auf der Höhe der Reife
stehenden Schriftstellers jenes sich in Zuckungen vollziehende Wachstum mit
erleben. Der bittere Titel des ersten Teils der Autobiographie "Der Sohn
einer Magd" klingt wie ein Motto: die Enge des Elternhauses, dessen Wohl¬
stand gesunken war, um sich erst mählich wieder zu heben, die Verständnis-
losigkeit der dem dienenden Stande entsprossenen Mutter, die zur Erziehung
eines so gearteten Knaben ganz außerstande war und ihm doch mit ihrem vor¬
zeitigen Tode noch größeres Leid zufügte, denn die Wiederverheiratung des
Vaters raubt Strindberg die Zuflucht ins Elternhaus, das in ihm, der fo oft
vergebliche Anläufe zu einer seiner Individualität entsprechenden Lebensstellung
macht, mehr und mehr den verlorenen Sohn sieht. Er ist ganz führerlos, ganz
auf die eigene Kraft gestellt, aber, nachdem er einmal seinen eigentlichen Beruf
gefunden, seiner selbst so sicher, daß keine ablehnende Kritik ihm den Glauben
an den Wert seines ersten bedeutenden Werks erschüttern kann. Im zweiten
Teil der Autobiographie "Die Entwicklung einer Seele" hat Strindberg die
Entstehungsgeschichte dieses Prosadramas erzählt, eine Tragödie des Glaubens
und des Zweifels, in deren Mittelpunkt einer der Träger der schwedischen
Reformation, "Meister Olaf" steht. Den erstrebten Ruhm brachte ihm das Stück
nicht, wie er auch daran feilte und arbeitete; vielleicht aber wohl eine kleine
Zeit des Ausruhens, die gleichwohl bald von einer neuen Krisis abgelöst wurde.

In das Leben des Mannes, der sich seinen äußeren Verhältnissen gemäß,
den unteren Volksklassen zurechnet, tritt zum erstenmal das aristokratische Weib.
Sie achtet ihn vertrauten Umgangs würdig und ihre vornehmen Formen füllen
seine Seele mit reinster Schönheitssreude, denn da sie als junge Mutter
Trägerin der höchsten weiblichen Würde ist, scheint sie seinem Begehren entrückt
7" so lange, bis sie selbst den Bann bricht und sich mit Liebeslockungen zu
ihm neigt. "Die Beichte eines Toren" verzeichnet die unsauberen Einzelheiten


Grenzboten II 1912 49
August Stnndberg

Leidenschaft sind vor der zersetzenden Analyse dieser Selbstbeobachtung sicher.
Sie zerrt unbarmherzig an den Einschlagsfäden dieses wunderlichen Lebens¬
gewebes, um zu zeigen, wie sich die Kämpfe um eine Weltanschauung vor¬
bereiteten im unbewußten Fühlen frühester Jugendjahre und achtet nicht der
bitteren Schmerzen über Erinnerungen, die nicht sterben wollen. Das analytische
Ich sieht hohnlächelnd der Wandlung des Gottsuchers in den Atheisten zu, und
sein Kommentar begleitet die Gebetsinbrunst des Vaters, der heilende Hände
auf feines Kindes siechen Leib legt. Als endlich für eine Zeit die Kraft dieses
Geistes gebrochen ist und er mit Augen, die der Wahnsinn verdunkelt oder
hellsichtig gemacht hat, die Dämonen des Abgrunds um sich versammelt sieht,
ist der unzertrennliche Begleiter dennoch dort und zeichnet mit glühendem
Griffel die quälenden Erlebnisse des „Inferno" auf.

Hier liegt der tiefste Punkt auf dem langen Leidenswege eines Geistes,
der nicht vergessen kann. Wie getreulich bewahrt dies erbarmungslose Gedächtnis
jede geringfügige Kränkung oder Zurücksetzung während des Knabenalters, wie
intensiv läßt uns die glänzende Darstellungskunst des auf der Höhe der Reife
stehenden Schriftstellers jenes sich in Zuckungen vollziehende Wachstum mit
erleben. Der bittere Titel des ersten Teils der Autobiographie „Der Sohn
einer Magd" klingt wie ein Motto: die Enge des Elternhauses, dessen Wohl¬
stand gesunken war, um sich erst mählich wieder zu heben, die Verständnis-
losigkeit der dem dienenden Stande entsprossenen Mutter, die zur Erziehung
eines so gearteten Knaben ganz außerstande war und ihm doch mit ihrem vor¬
zeitigen Tode noch größeres Leid zufügte, denn die Wiederverheiratung des
Vaters raubt Strindberg die Zuflucht ins Elternhaus, das in ihm, der fo oft
vergebliche Anläufe zu einer seiner Individualität entsprechenden Lebensstellung
macht, mehr und mehr den verlorenen Sohn sieht. Er ist ganz führerlos, ganz
auf die eigene Kraft gestellt, aber, nachdem er einmal seinen eigentlichen Beruf
gefunden, seiner selbst so sicher, daß keine ablehnende Kritik ihm den Glauben
an den Wert seines ersten bedeutenden Werks erschüttern kann. Im zweiten
Teil der Autobiographie „Die Entwicklung einer Seele" hat Strindberg die
Entstehungsgeschichte dieses Prosadramas erzählt, eine Tragödie des Glaubens
und des Zweifels, in deren Mittelpunkt einer der Träger der schwedischen
Reformation, „Meister Olaf" steht. Den erstrebten Ruhm brachte ihm das Stück
nicht, wie er auch daran feilte und arbeitete; vielleicht aber wohl eine kleine
Zeit des Ausruhens, die gleichwohl bald von einer neuen Krisis abgelöst wurde.

In das Leben des Mannes, der sich seinen äußeren Verhältnissen gemäß,
den unteren Volksklassen zurechnet, tritt zum erstenmal das aristokratische Weib.
Sie achtet ihn vertrauten Umgangs würdig und ihre vornehmen Formen füllen
seine Seele mit reinster Schönheitssreude, denn da sie als junge Mutter
Trägerin der höchsten weiblichen Würde ist, scheint sie seinem Begehren entrückt
7" so lange, bis sie selbst den Bann bricht und sich mit Liebeslockungen zu
ihm neigt. „Die Beichte eines Toren" verzeichnet die unsauberen Einzelheiten


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[0393] August Stnndberg Leidenschaft sind vor der zersetzenden Analyse dieser Selbstbeobachtung sicher. Sie zerrt unbarmherzig an den Einschlagsfäden dieses wunderlichen Lebens¬ gewebes, um zu zeigen, wie sich die Kämpfe um eine Weltanschauung vor¬ bereiteten im unbewußten Fühlen frühester Jugendjahre und achtet nicht der bitteren Schmerzen über Erinnerungen, die nicht sterben wollen. Das analytische Ich sieht hohnlächelnd der Wandlung des Gottsuchers in den Atheisten zu, und sein Kommentar begleitet die Gebetsinbrunst des Vaters, der heilende Hände auf feines Kindes siechen Leib legt. Als endlich für eine Zeit die Kraft dieses Geistes gebrochen ist und er mit Augen, die der Wahnsinn verdunkelt oder hellsichtig gemacht hat, die Dämonen des Abgrunds um sich versammelt sieht, ist der unzertrennliche Begleiter dennoch dort und zeichnet mit glühendem Griffel die quälenden Erlebnisse des „Inferno" auf. Hier liegt der tiefste Punkt auf dem langen Leidenswege eines Geistes, der nicht vergessen kann. Wie getreulich bewahrt dies erbarmungslose Gedächtnis jede geringfügige Kränkung oder Zurücksetzung während des Knabenalters, wie intensiv läßt uns die glänzende Darstellungskunst des auf der Höhe der Reife stehenden Schriftstellers jenes sich in Zuckungen vollziehende Wachstum mit erleben. Der bittere Titel des ersten Teils der Autobiographie „Der Sohn einer Magd" klingt wie ein Motto: die Enge des Elternhauses, dessen Wohl¬ stand gesunken war, um sich erst mählich wieder zu heben, die Verständnis- losigkeit der dem dienenden Stande entsprossenen Mutter, die zur Erziehung eines so gearteten Knaben ganz außerstande war und ihm doch mit ihrem vor¬ zeitigen Tode noch größeres Leid zufügte, denn die Wiederverheiratung des Vaters raubt Strindberg die Zuflucht ins Elternhaus, das in ihm, der fo oft vergebliche Anläufe zu einer seiner Individualität entsprechenden Lebensstellung macht, mehr und mehr den verlorenen Sohn sieht. Er ist ganz führerlos, ganz auf die eigene Kraft gestellt, aber, nachdem er einmal seinen eigentlichen Beruf gefunden, seiner selbst so sicher, daß keine ablehnende Kritik ihm den Glauben an den Wert seines ersten bedeutenden Werks erschüttern kann. Im zweiten Teil der Autobiographie „Die Entwicklung einer Seele" hat Strindberg die Entstehungsgeschichte dieses Prosadramas erzählt, eine Tragödie des Glaubens und des Zweifels, in deren Mittelpunkt einer der Träger der schwedischen Reformation, „Meister Olaf" steht. Den erstrebten Ruhm brachte ihm das Stück nicht, wie er auch daran feilte und arbeitete; vielleicht aber wohl eine kleine Zeit des Ausruhens, die gleichwohl bald von einer neuen Krisis abgelöst wurde. In das Leben des Mannes, der sich seinen äußeren Verhältnissen gemäß, den unteren Volksklassen zurechnet, tritt zum erstenmal das aristokratische Weib. Sie achtet ihn vertrauten Umgangs würdig und ihre vornehmen Formen füllen seine Seele mit reinster Schönheitssreude, denn da sie als junge Mutter Trägerin der höchsten weiblichen Würde ist, scheint sie seinem Begehren entrückt 7" so lange, bis sie selbst den Bann bricht und sich mit Liebeslockungen zu ihm neigt. „Die Beichte eines Toren" verzeichnet die unsauberen Einzelheiten Grenzboten II 1912 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/393>, abgerufen am 26.06.2024.