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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Die Not der Ärzte

Ganz anders, im wesentlichen deduktiv, verfährt der Jurist. In allen
seinen Geschäften bildet die logische Entwicklung und Einordnung, bei der alle
zugehörigen Vorgänge berücksichtigt sein wollen, die Hauptsache. Die strenge
Logik kennt keine Verschiedenheit der Personen, der Charaktere, der Tempera¬
mente. Der Richter wie der Gesetzgeber können mithin auf einzelne Personen
keine Rücksicht nehmen, ihre Entscheidung soll unparteiisch sein. Alle diese
Erfordernisse bedingen ein vorsichtiges, daher langsames Handeln, bei dem jeder
Fehler, jede Lücke wegen der vielleicht zu fürchtenden Folgen vermieden werden
müssen; um das zu erreichen ist Zeit, mitunter langes Studium der Rechts¬
quellen, Herbeiziehung aller bekannten Hilfsmittel und Hilfspersonen unerläßlich.
Dabei verschwindet die Person des Richters hinter den: Gesetz, persönliche An¬
schauungen darf er nicht bemerken lassen; völliges Nichtansehen der Person,
Gleichheit vor dem Gesetz ist eine der ersten Voraussetzungen moderner Justiz.

Die Unterschiede dieser beiden Gedankengänge liegen auf der Hand. Die
Person des Rechtsverständiger soll ganz zurücktreten, während die des Arztes
in dem Verhältnis zum Kranken eine wesentliche Rolle spielt. Aber der
Unterschied hat noch eine weitere Folge; die Versuche, in das ärztliche Gebiet
durch Gesetze einzugreifen, treffen auf besonders große Schwierigkeiten. Auf
medizinischem Gebiete ist alles in fortwährendem Flusse, fortwährend bringen
sich neue Beobachtungen, neue Anschauungen zur Geltung, welche sich dem Gesetze
von gestern nicht einfügen wollen. Daher haben die Gesetzgeber eine gewisse
Scheu vor dieser Materie gezeigt, daher hat auch die alles angreifende Statistik
auf ärztlichem Gebiete keine Lorbeeren gepflückt. Wird dieses, dem sozialen Drang
folgend, in die Gesetzgebung einbezogen, so melden sich sofort die Klippen. Es zeigt
sich dies z. B. in der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts, in der vielfach
Erwägungen von Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten oft entferntester Art, un¬
sichere Vorhersagen verwendet werden müssen, denen die zivile wie kriminelle
Rechtsprechung in weitem Bogen aus dem Wege geht.") Auch in der neuen
R. V. O. ist diese Schwierigkeit zu bemerken. In ihr finden sich zahlreiche
äußerst dehnbare Begriffe (z. B. der Ausdruck "wichtiger Grund"), und statt
scharfer Begrenzung der Instanzen ist auffallend oft durch das Wort "kann"
dem Ermessen der Behörde eine Ausdehnung gegeben, wie sie sonst möglichst
vermieden wird. Ebenso deutlich hat sich diese Schwierigkeit bei der Beratung
des Knrpfuschereigesctzes gezeigt.

In der Verschiedenheit des ärztlichen und juristischen Denkens und Handelns
ist einer der Hauptgründe zu sehen, denen so oft Mißverständnisse und Streit
entstammen. Hieraus folgt die Abneigung beider Berufsarten, miteinander in
Verbindung zu treten; die eine Seite fürchtet die formalen Einwände der Para¬
graphen, die andere die Tatsachen, die sich den Paragraphen nicht fügen wollen.
Darin wird auch der letzte Grund zu sehen sein, warum beim Erlaß der sozialen
Gesetze das Ersuchen der Ärzte um Gehör so ganz erfolglos blieb; man glaubte



") S, Friedensburg, Praxis der s. Gesetzgebung.
Die Not der Ärzte

Ganz anders, im wesentlichen deduktiv, verfährt der Jurist. In allen
seinen Geschäften bildet die logische Entwicklung und Einordnung, bei der alle
zugehörigen Vorgänge berücksichtigt sein wollen, die Hauptsache. Die strenge
Logik kennt keine Verschiedenheit der Personen, der Charaktere, der Tempera¬
mente. Der Richter wie der Gesetzgeber können mithin auf einzelne Personen
keine Rücksicht nehmen, ihre Entscheidung soll unparteiisch sein. Alle diese
Erfordernisse bedingen ein vorsichtiges, daher langsames Handeln, bei dem jeder
Fehler, jede Lücke wegen der vielleicht zu fürchtenden Folgen vermieden werden
müssen; um das zu erreichen ist Zeit, mitunter langes Studium der Rechts¬
quellen, Herbeiziehung aller bekannten Hilfsmittel und Hilfspersonen unerläßlich.
Dabei verschwindet die Person des Richters hinter den: Gesetz, persönliche An¬
schauungen darf er nicht bemerken lassen; völliges Nichtansehen der Person,
Gleichheit vor dem Gesetz ist eine der ersten Voraussetzungen moderner Justiz.

Die Unterschiede dieser beiden Gedankengänge liegen auf der Hand. Die
Person des Rechtsverständiger soll ganz zurücktreten, während die des Arztes
in dem Verhältnis zum Kranken eine wesentliche Rolle spielt. Aber der
Unterschied hat noch eine weitere Folge; die Versuche, in das ärztliche Gebiet
durch Gesetze einzugreifen, treffen auf besonders große Schwierigkeiten. Auf
medizinischem Gebiete ist alles in fortwährendem Flusse, fortwährend bringen
sich neue Beobachtungen, neue Anschauungen zur Geltung, welche sich dem Gesetze
von gestern nicht einfügen wollen. Daher haben die Gesetzgeber eine gewisse
Scheu vor dieser Materie gezeigt, daher hat auch die alles angreifende Statistik
auf ärztlichem Gebiete keine Lorbeeren gepflückt. Wird dieses, dem sozialen Drang
folgend, in die Gesetzgebung einbezogen, so melden sich sofort die Klippen. Es zeigt
sich dies z. B. in der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts, in der vielfach
Erwägungen von Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten oft entferntester Art, un¬
sichere Vorhersagen verwendet werden müssen, denen die zivile wie kriminelle
Rechtsprechung in weitem Bogen aus dem Wege geht.") Auch in der neuen
R. V. O. ist diese Schwierigkeit zu bemerken. In ihr finden sich zahlreiche
äußerst dehnbare Begriffe (z. B. der Ausdruck „wichtiger Grund"), und statt
scharfer Begrenzung der Instanzen ist auffallend oft durch das Wort „kann"
dem Ermessen der Behörde eine Ausdehnung gegeben, wie sie sonst möglichst
vermieden wird. Ebenso deutlich hat sich diese Schwierigkeit bei der Beratung
des Knrpfuschereigesctzes gezeigt.

In der Verschiedenheit des ärztlichen und juristischen Denkens und Handelns
ist einer der Hauptgründe zu sehen, denen so oft Mißverständnisse und Streit
entstammen. Hieraus folgt die Abneigung beider Berufsarten, miteinander in
Verbindung zu treten; die eine Seite fürchtet die formalen Einwände der Para¬
graphen, die andere die Tatsachen, die sich den Paragraphen nicht fügen wollen.
Darin wird auch der letzte Grund zu sehen sein, warum beim Erlaß der sozialen
Gesetze das Ersuchen der Ärzte um Gehör so ganz erfolglos blieb; man glaubte



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[0384] Die Not der Ärzte Ganz anders, im wesentlichen deduktiv, verfährt der Jurist. In allen seinen Geschäften bildet die logische Entwicklung und Einordnung, bei der alle zugehörigen Vorgänge berücksichtigt sein wollen, die Hauptsache. Die strenge Logik kennt keine Verschiedenheit der Personen, der Charaktere, der Tempera¬ mente. Der Richter wie der Gesetzgeber können mithin auf einzelne Personen keine Rücksicht nehmen, ihre Entscheidung soll unparteiisch sein. Alle diese Erfordernisse bedingen ein vorsichtiges, daher langsames Handeln, bei dem jeder Fehler, jede Lücke wegen der vielleicht zu fürchtenden Folgen vermieden werden müssen; um das zu erreichen ist Zeit, mitunter langes Studium der Rechts¬ quellen, Herbeiziehung aller bekannten Hilfsmittel und Hilfspersonen unerläßlich. Dabei verschwindet die Person des Richters hinter den: Gesetz, persönliche An¬ schauungen darf er nicht bemerken lassen; völliges Nichtansehen der Person, Gleichheit vor dem Gesetz ist eine der ersten Voraussetzungen moderner Justiz. Die Unterschiede dieser beiden Gedankengänge liegen auf der Hand. Die Person des Rechtsverständiger soll ganz zurücktreten, während die des Arztes in dem Verhältnis zum Kranken eine wesentliche Rolle spielt. Aber der Unterschied hat noch eine weitere Folge; die Versuche, in das ärztliche Gebiet durch Gesetze einzugreifen, treffen auf besonders große Schwierigkeiten. Auf medizinischem Gebiete ist alles in fortwährendem Flusse, fortwährend bringen sich neue Beobachtungen, neue Anschauungen zur Geltung, welche sich dem Gesetze von gestern nicht einfügen wollen. Daher haben die Gesetzgeber eine gewisse Scheu vor dieser Materie gezeigt, daher hat auch die alles angreifende Statistik auf ärztlichem Gebiete keine Lorbeeren gepflückt. Wird dieses, dem sozialen Drang folgend, in die Gesetzgebung einbezogen, so melden sich sofort die Klippen. Es zeigt sich dies z. B. in der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts, in der vielfach Erwägungen von Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten oft entferntester Art, un¬ sichere Vorhersagen verwendet werden müssen, denen die zivile wie kriminelle Rechtsprechung in weitem Bogen aus dem Wege geht.") Auch in der neuen R. V. O. ist diese Schwierigkeit zu bemerken. In ihr finden sich zahlreiche äußerst dehnbare Begriffe (z. B. der Ausdruck „wichtiger Grund"), und statt scharfer Begrenzung der Instanzen ist auffallend oft durch das Wort „kann" dem Ermessen der Behörde eine Ausdehnung gegeben, wie sie sonst möglichst vermieden wird. Ebenso deutlich hat sich diese Schwierigkeit bei der Beratung des Knrpfuschereigesctzes gezeigt. In der Verschiedenheit des ärztlichen und juristischen Denkens und Handelns ist einer der Hauptgründe zu sehen, denen so oft Mißverständnisse und Streit entstammen. Hieraus folgt die Abneigung beider Berufsarten, miteinander in Verbindung zu treten; die eine Seite fürchtet die formalen Einwände der Para¬ graphen, die andere die Tatsachen, die sich den Paragraphen nicht fügen wollen. Darin wird auch der letzte Grund zu sehen sein, warum beim Erlaß der sozialen Gesetze das Ersuchen der Ärzte um Gehör so ganz erfolglos blieb; man glaubte ") S, Friedensburg, Praxis der s. Gesetzgebung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/384>, abgerufen am 29.06.2024.