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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Die Not der Ärzte

entgehen. Die Ärzte, ohne Verbindung mit der Presse und persönlichen
Weiterungen abhold, schwiegen fast ausnahmslos, was als ein Eingeständnis
des Unrechts ausgelegt wurde. Die Regierungen traten, der sozialen Tendenz
entsprechend, fast immer auf Seite der Versicherungsorgane; nur ausnahmsweise,
z. B. in Sachsen. Württemberg, Thüringen, haben sie sich neutral gehalten und
unter Umständen, nach allerdings oft lange dauernden Ermittlungen, zugunsten
der Ärzte entschieden. Andernorts, also vor allem in Preußen, haben sich die
Beamten auf die stärkere Seite gestellt.

Vom Beginn der Sozialgesetzgebung an, also seit mehr als fünfundzwanzig
Jahren, hatte der Deutsche Ärztevereinsbund, der etwa 95 Prozent aller Ärzte
umfaßt und sich jährlich in wenigstens einer Versammlung zusammenfindet, den
Behörden eine Eingabe nach der anderen übersandt und um Gehör gebeten
in einer Materie, in der er sachverständig zu sein glaubte. Aber er hat
niemals etwas anderes erreicht als das bekannte höfliche, aber folgenlose
Wohlwollen. Schon sehr bald zeigten sich die großen Lücken und Ungleich¬
heiten der einschlägigen Gesetzgebung, bei der die Arzte nicht gehört worden
waren. Die nächste Folge war eine unter Umständen unerhörte Herabsetzung
der Honorare, die hier und da Dienstmannslöhnen nahe kamen; das Minimum
der Staatstaxen (in Preußen seit 1815 gültig) wurde fast nie erreicht. Als
nun hierzu noch die schlechte Behandlung durch die Kassengewaltigen kam, gegen
die keine Abhilfe zu Gebote stand, sahen die Ärzte langsam ein, daß für sie
nur auf dem Wege der Selbsthilfe etwas zu erreichen war. Diesen Weg haben
sie vor zehn Jahren mit der Gründung des Leipziger wirtschaftlichen Verbandes
(L. W. V.) betreten. -- Bei dieser Gelegenheit zeigte es sich deutlicher als wohl
jemals früher, wie groß die Unkenntnis nicht allein des großen Publikums,
sondern auch der anderen gelehrten Stände und besonders der Juristen betreffs
ärztlicher Dinge, ärztlichen Handelns war.

Die Medizin beruht auf einer ungeheuren Menge von zufälligen oder
absichtlich herbeigeführten Erfahrungen. Sie sucht sie zu Reihen zu ordnen und
leitet aus ihnen Regeln ab, die nur so weit und so lange Geltung haben, als
ihnen keine Erfahrungen widersprechen. Neue Methoden mit neuen Befunden
werfen daher nicht selten ältere Anschauungen über den Haufen, so daß im
ganzen systematische Ordnungen keinen großen Wert haben. Alle medizinische
Tätigkeit ist vielmehr auf Beobachtung der Tatsachen gerichtet und das ärztliche
Handeln trägt fast ausnahmslos den Charakter eines Versuchs, der sich freilich
auf ältere Tatsachen stützen muß. In ihm kommen mithin grundsätzliche Regeln
wenig zu Raum, die Anpassung älterer Erfahrungen an die jeweiligen Zustände
bildet vielmehr die Hauptsache. Demgemäß tritt die Persönlichkeit des Arztes,
der bis in die äußersten Kleinigkeiten hinein für alles haftet, in den Vorder¬
grund; darin ist seine Vertrauensstellung zu sehen, weit mehr als in der viel
besprochenen Geheimhaltung persönlicher Schäden. Das Verfahren des Arztes
ist im wesentlichen induktiv.


Die Not der Ärzte

entgehen. Die Ärzte, ohne Verbindung mit der Presse und persönlichen
Weiterungen abhold, schwiegen fast ausnahmslos, was als ein Eingeständnis
des Unrechts ausgelegt wurde. Die Regierungen traten, der sozialen Tendenz
entsprechend, fast immer auf Seite der Versicherungsorgane; nur ausnahmsweise,
z. B. in Sachsen. Württemberg, Thüringen, haben sie sich neutral gehalten und
unter Umständen, nach allerdings oft lange dauernden Ermittlungen, zugunsten
der Ärzte entschieden. Andernorts, also vor allem in Preußen, haben sich die
Beamten auf die stärkere Seite gestellt.

Vom Beginn der Sozialgesetzgebung an, also seit mehr als fünfundzwanzig
Jahren, hatte der Deutsche Ärztevereinsbund, der etwa 95 Prozent aller Ärzte
umfaßt und sich jährlich in wenigstens einer Versammlung zusammenfindet, den
Behörden eine Eingabe nach der anderen übersandt und um Gehör gebeten
in einer Materie, in der er sachverständig zu sein glaubte. Aber er hat
niemals etwas anderes erreicht als das bekannte höfliche, aber folgenlose
Wohlwollen. Schon sehr bald zeigten sich die großen Lücken und Ungleich¬
heiten der einschlägigen Gesetzgebung, bei der die Arzte nicht gehört worden
waren. Die nächste Folge war eine unter Umständen unerhörte Herabsetzung
der Honorare, die hier und da Dienstmannslöhnen nahe kamen; das Minimum
der Staatstaxen (in Preußen seit 1815 gültig) wurde fast nie erreicht. Als
nun hierzu noch die schlechte Behandlung durch die Kassengewaltigen kam, gegen
die keine Abhilfe zu Gebote stand, sahen die Ärzte langsam ein, daß für sie
nur auf dem Wege der Selbsthilfe etwas zu erreichen war. Diesen Weg haben
sie vor zehn Jahren mit der Gründung des Leipziger wirtschaftlichen Verbandes
(L. W. V.) betreten. — Bei dieser Gelegenheit zeigte es sich deutlicher als wohl
jemals früher, wie groß die Unkenntnis nicht allein des großen Publikums,
sondern auch der anderen gelehrten Stände und besonders der Juristen betreffs
ärztlicher Dinge, ärztlichen Handelns war.

Die Medizin beruht auf einer ungeheuren Menge von zufälligen oder
absichtlich herbeigeführten Erfahrungen. Sie sucht sie zu Reihen zu ordnen und
leitet aus ihnen Regeln ab, die nur so weit und so lange Geltung haben, als
ihnen keine Erfahrungen widersprechen. Neue Methoden mit neuen Befunden
werfen daher nicht selten ältere Anschauungen über den Haufen, so daß im
ganzen systematische Ordnungen keinen großen Wert haben. Alle medizinische
Tätigkeit ist vielmehr auf Beobachtung der Tatsachen gerichtet und das ärztliche
Handeln trägt fast ausnahmslos den Charakter eines Versuchs, der sich freilich
auf ältere Tatsachen stützen muß. In ihm kommen mithin grundsätzliche Regeln
wenig zu Raum, die Anpassung älterer Erfahrungen an die jeweiligen Zustände
bildet vielmehr die Hauptsache. Demgemäß tritt die Persönlichkeit des Arztes,
der bis in die äußersten Kleinigkeiten hinein für alles haftet, in den Vorder¬
grund; darin ist seine Vertrauensstellung zu sehen, weit mehr als in der viel
besprochenen Geheimhaltung persönlicher Schäden. Das Verfahren des Arztes
ist im wesentlichen induktiv.


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[0383] Die Not der Ärzte entgehen. Die Ärzte, ohne Verbindung mit der Presse und persönlichen Weiterungen abhold, schwiegen fast ausnahmslos, was als ein Eingeständnis des Unrechts ausgelegt wurde. Die Regierungen traten, der sozialen Tendenz entsprechend, fast immer auf Seite der Versicherungsorgane; nur ausnahmsweise, z. B. in Sachsen. Württemberg, Thüringen, haben sie sich neutral gehalten und unter Umständen, nach allerdings oft lange dauernden Ermittlungen, zugunsten der Ärzte entschieden. Andernorts, also vor allem in Preußen, haben sich die Beamten auf die stärkere Seite gestellt. Vom Beginn der Sozialgesetzgebung an, also seit mehr als fünfundzwanzig Jahren, hatte der Deutsche Ärztevereinsbund, der etwa 95 Prozent aller Ärzte umfaßt und sich jährlich in wenigstens einer Versammlung zusammenfindet, den Behörden eine Eingabe nach der anderen übersandt und um Gehör gebeten in einer Materie, in der er sachverständig zu sein glaubte. Aber er hat niemals etwas anderes erreicht als das bekannte höfliche, aber folgenlose Wohlwollen. Schon sehr bald zeigten sich die großen Lücken und Ungleich¬ heiten der einschlägigen Gesetzgebung, bei der die Arzte nicht gehört worden waren. Die nächste Folge war eine unter Umständen unerhörte Herabsetzung der Honorare, die hier und da Dienstmannslöhnen nahe kamen; das Minimum der Staatstaxen (in Preußen seit 1815 gültig) wurde fast nie erreicht. Als nun hierzu noch die schlechte Behandlung durch die Kassengewaltigen kam, gegen die keine Abhilfe zu Gebote stand, sahen die Ärzte langsam ein, daß für sie nur auf dem Wege der Selbsthilfe etwas zu erreichen war. Diesen Weg haben sie vor zehn Jahren mit der Gründung des Leipziger wirtschaftlichen Verbandes (L. W. V.) betreten. — Bei dieser Gelegenheit zeigte es sich deutlicher als wohl jemals früher, wie groß die Unkenntnis nicht allein des großen Publikums, sondern auch der anderen gelehrten Stände und besonders der Juristen betreffs ärztlicher Dinge, ärztlichen Handelns war. Die Medizin beruht auf einer ungeheuren Menge von zufälligen oder absichtlich herbeigeführten Erfahrungen. Sie sucht sie zu Reihen zu ordnen und leitet aus ihnen Regeln ab, die nur so weit und so lange Geltung haben, als ihnen keine Erfahrungen widersprechen. Neue Methoden mit neuen Befunden werfen daher nicht selten ältere Anschauungen über den Haufen, so daß im ganzen systematische Ordnungen keinen großen Wert haben. Alle medizinische Tätigkeit ist vielmehr auf Beobachtung der Tatsachen gerichtet und das ärztliche Handeln trägt fast ausnahmslos den Charakter eines Versuchs, der sich freilich auf ältere Tatsachen stützen muß. In ihm kommen mithin grundsätzliche Regeln wenig zu Raum, die Anpassung älterer Erfahrungen an die jeweiligen Zustände bildet vielmehr die Hauptsache. Demgemäß tritt die Persönlichkeit des Arztes, der bis in die äußersten Kleinigkeiten hinein für alles haftet, in den Vorder¬ grund; darin ist seine Vertrauensstellung zu sehen, weit mehr als in der viel besprochenen Geheimhaltung persönlicher Schäden. Das Verfahren des Arztes ist im wesentlichen induktiv.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/383>, abgerufen am 26.06.2024.