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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Aus dem Reiche der modernen Musik

wird ein geübter Klavierspieler auch Liederübertragungen und Liederphantasien
vornehmen, namentlich wenn ihm die Gabe des Gesanges versagt ist, und hier
bieten die von Liszt (Peters, Breitkopf u. Härtel), E. Schütt (Simrock), Mertke und
Jos. Weiß (Steingräber) eine ebenso reichhaltige als glänzende Literatur. Freilich
muß er neben großer Technik auch Gesang in den Fingern haben, denn die ganze
Gattung ist nach jeder Richtung hin sehr anspruchsvoll aber sehr lohnend.

Wenn hier der Versuch gemacht worden ist, einem großen Leserkreise
einen Überblick über die Klaviermusik unserer Tage zu geben, so konnte es bei
einem möglichst weitgespannten Rahmen nur in flüchtigem Überblick geschehen
und unter Heranziehung eines Materials von verschiedenartigstem Gehalt.
Manches davon wird von einem rein kritischen Standpunkt als epigonenhaft
bezeichnet werden müssen. Aber es galt bei der zugrunde liegenden tendenziösen
Absicht eines Kampfes gegen den musikalischen Schund den auseinandergehendsten
Geschmacksrichtungen Rechnung zu tragen und unsere jeweiligen Stimmungen
zu berücksichtigen. Man liest auch mitunter gern einen leichten Roman, ohne
daran zu denken, ihn mit kritischem Maßstabe messen zu wollen. Und schließlich
braucht das, was den Zug des Epigonenhaften an sich trägt, darum noch nicht
minderwertig oder gar schlecht zu sein. Auf der andern Seite mußte vieles
wegbleiben, was gut hätte genannt werden können: die musikalische Literatur
ist eben zu groß. Jährlich erscheinen im Durchschnitt etwa fünfzehnhundert
Klavierhefte. Wer soll das alles kennen? W. Niemanns "Klavierbuch" und
Proßnitz "Handbuch der Klavierliteratur" geben bereitwillig weitere Auskunft,
Und wenn, wie anzunehmen, der Verfasser mit seiner Ansicht hier und da auf
Widerspruch stoßen sollte, so nimmt er das Recht der Subjektivität seines Urteils,
das sich aus erlebten Eindrücken gebildet hat, eben so voll für sich in Anspruch,
wie Leitzmann, der Liszt und Wagner für die eigentlichen Verderber des Geschmacks
erklärt"), oder Max Graf, der in Schumann nur den "Liebling des musikalischen
Philistertums" (I) sehen kann""), dem dann anzugehören der Verfasser übrigens
ohne jede Scham bekennt. Von keinem Kunstwerk gilt so sehr wie von dem
musikalischen das Wort Fausts:


Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen!




*) Briefe Hans von Bülows; besprochen von A. Leitzmann in der Deutschen Literatur-
Zeitung, 1903, Ur. 11.
**) "Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts". Berlin 1898. Vgl. dazu die warm¬
herzige Würdigung Schumanns durch Jstel, "Die Blütezeit der musikalischen Romantik in
Deutschland", ("Aus Natur und Geisteswelt" 239, Verlag von B. G, Teubner in Leipzig,
Aus dem Reiche der modernen Musik

wird ein geübter Klavierspieler auch Liederübertragungen und Liederphantasien
vornehmen, namentlich wenn ihm die Gabe des Gesanges versagt ist, und hier
bieten die von Liszt (Peters, Breitkopf u. Härtel), E. Schütt (Simrock), Mertke und
Jos. Weiß (Steingräber) eine ebenso reichhaltige als glänzende Literatur. Freilich
muß er neben großer Technik auch Gesang in den Fingern haben, denn die ganze
Gattung ist nach jeder Richtung hin sehr anspruchsvoll aber sehr lohnend.

Wenn hier der Versuch gemacht worden ist, einem großen Leserkreise
einen Überblick über die Klaviermusik unserer Tage zu geben, so konnte es bei
einem möglichst weitgespannten Rahmen nur in flüchtigem Überblick geschehen
und unter Heranziehung eines Materials von verschiedenartigstem Gehalt.
Manches davon wird von einem rein kritischen Standpunkt als epigonenhaft
bezeichnet werden müssen. Aber es galt bei der zugrunde liegenden tendenziösen
Absicht eines Kampfes gegen den musikalischen Schund den auseinandergehendsten
Geschmacksrichtungen Rechnung zu tragen und unsere jeweiligen Stimmungen
zu berücksichtigen. Man liest auch mitunter gern einen leichten Roman, ohne
daran zu denken, ihn mit kritischem Maßstabe messen zu wollen. Und schließlich
braucht das, was den Zug des Epigonenhaften an sich trägt, darum noch nicht
minderwertig oder gar schlecht zu sein. Auf der andern Seite mußte vieles
wegbleiben, was gut hätte genannt werden können: die musikalische Literatur
ist eben zu groß. Jährlich erscheinen im Durchschnitt etwa fünfzehnhundert
Klavierhefte. Wer soll das alles kennen? W. Niemanns „Klavierbuch" und
Proßnitz „Handbuch der Klavierliteratur" geben bereitwillig weitere Auskunft,
Und wenn, wie anzunehmen, der Verfasser mit seiner Ansicht hier und da auf
Widerspruch stoßen sollte, so nimmt er das Recht der Subjektivität seines Urteils,
das sich aus erlebten Eindrücken gebildet hat, eben so voll für sich in Anspruch,
wie Leitzmann, der Liszt und Wagner für die eigentlichen Verderber des Geschmacks
erklärt"), oder Max Graf, der in Schumann nur den „Liebling des musikalischen
Philistertums" (I) sehen kann""), dem dann anzugehören der Verfasser übrigens
ohne jede Scham bekennt. Von keinem Kunstwerk gilt so sehr wie von dem
musikalischen das Wort Fausts:


Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen!




*) Briefe Hans von Bülows; besprochen von A. Leitzmann in der Deutschen Literatur-
Zeitung, 1903, Ur. 11.
**) „Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts". Berlin 1898. Vgl. dazu die warm¬
herzige Würdigung Schumanns durch Jstel, „Die Blütezeit der musikalischen Romantik in
Deutschland", („Aus Natur und Geisteswelt" 239, Verlag von B. G, Teubner in Leipzig,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/335>, abgerufen am 22.07.2024.