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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Aus dem Reiche der modernen Musik

"Idyllen" und "Romanzen". Georg Schumanns "Phantasien", "Traumbilder"
(Simrock). Auch ein Teil der schönsten Poesien Liszts, besonders die /an6<Z8
ac peI6rinaZe (Schott) gehören hierher, desgleichen Hans Huber, W. Kienzl,
der elegante Moczkowski und der ihm wesensverwandte W. Sapellnikow (Andre)
mit ihren gehaltvollen und klangschönen "Morceaux", ferner Korse. Bürzels
"Singen und Sagen" (Simrock), G. Lewins Abendbilver (Forberg), Leander
Schlegel (Kistner), A. Streletzki (Hainauer), Sjögrens Erotikon (Hainauer) und
viele andere, die hier aufzuzählen unmöglich wäre. Es sind das alles Namen
größtenteils noch lebender Tondichter, also verharrt auch die Musik der jüngsten
Zeit noch in der Romantik, aber es ist auch hier "ein neues Wissen um die
blaue Blume". Dem bei unserem gesteigerten Nervenleben erhöhten Verlangen
nach stärkeren Reizen und Spannungsgefühlen entspricht die häufige Verwendung
dissonnierender Elemente, frappanter Modulationen und Kombinationen,
schwebender Meeren, scheinbare Verwischung des tonalen Charakters usw. Aus
der ungeheuren Bereicherung der harmonischen und dynamischen Ausdrucksmittel
durch Liszt und Wagner werden die äußersten Folgerungen gezogen, kurz die
ganze Musik wird nervenhafter, nervöser wenn man will. Um sich das zu
verdeutlichen, braucht man bloß die Phantasiestücke Robert und Georg Schumanns
miteinander zu vergleichen oder noch besser etwa die "Colombine" Cyrill Scotts,
des "Modernsten" und Originellsten unter den Modernen, mit dem gleichnamigen
Stück aus Schumanns Carneval. Scotts Musik mag zunächst befremden, aber
sie interessiert sehr bald (Werke bei Schott). Dazu kommt noch bei den
Skandinaviern, besonders bei Grieg, und bei den Slawen, wie Suk, Nowak,
Juon, Röbikoff, ein starker nationaler Einschlag und ein an die norddeutsche
Art erinnernder grüblerischer Zug, ein fast pessimistisch zu nennender Unterton,
der dieser Musik einen herben, fremdartigen, aber eben darum reizvollen
Charakter verleiht. Die Musik der eben genannten Slawen namentlich ist
durchweg schwer, inhaltlich und technisch, aber gedankenreich, koloristisch und von
heißem inneren Erleben zeugend (Werke bei Simrock u. Schlestnger).

Aber auch bei Meistern, die in gewissem Sinne noch durch Schumann und
Chopin beeinflußt sind, zeigt sich unverkennbar jenes Neue. So bei dem schon
erwähnten Mac Dowell und Eduard Schütt, der in seiner Frühzeit Chopin
ziemlich nahesteht. Schütt ist eine der Sympathischsten und liebenswürdigsten
Erscheinungen der neueren Musikgeschichte, schönheitstrunken, heiter, empfindungs¬
tief. Man mag bei ihm an Peter Cornelius denken, mit dem er den gemütvollen
Humor gemein hat, und an Gustav Falke: es ist dieselbe abgeklärte Schönheit,
derselbe sonnige Glanz, wie er über den Falkeschen Gedichten liegt, der gleiche
Reichtum der Ausdrucksmittel und die Hinneigung zum Impressionismus. Wie
jener verdichtet auch er die durch physiologischen oder psychologischen Eindruck
gewonnene Stimmung durch weite Schwebungen von Spannungsgefühlen, ohne
kaum jemals in Gesuchtheit zu verfallen. Einem warmen Gemüt entquollen,
wirkt seine Musik mit ihrer blühend schönen Melodik wohltuend wie die Sonnen-


Aus dem Reiche der modernen Musik

„Idyllen" und „Romanzen". Georg Schumanns „Phantasien", „Traumbilder"
(Simrock). Auch ein Teil der schönsten Poesien Liszts, besonders die /an6<Z8
ac peI6rinaZe (Schott) gehören hierher, desgleichen Hans Huber, W. Kienzl,
der elegante Moczkowski und der ihm wesensverwandte W. Sapellnikow (Andre)
mit ihren gehaltvollen und klangschönen „Morceaux", ferner Korse. Bürzels
„Singen und Sagen" (Simrock), G. Lewins Abendbilver (Forberg), Leander
Schlegel (Kistner), A. Streletzki (Hainauer), Sjögrens Erotikon (Hainauer) und
viele andere, die hier aufzuzählen unmöglich wäre. Es sind das alles Namen
größtenteils noch lebender Tondichter, also verharrt auch die Musik der jüngsten
Zeit noch in der Romantik, aber es ist auch hier „ein neues Wissen um die
blaue Blume". Dem bei unserem gesteigerten Nervenleben erhöhten Verlangen
nach stärkeren Reizen und Spannungsgefühlen entspricht die häufige Verwendung
dissonnierender Elemente, frappanter Modulationen und Kombinationen,
schwebender Meeren, scheinbare Verwischung des tonalen Charakters usw. Aus
der ungeheuren Bereicherung der harmonischen und dynamischen Ausdrucksmittel
durch Liszt und Wagner werden die äußersten Folgerungen gezogen, kurz die
ganze Musik wird nervenhafter, nervöser wenn man will. Um sich das zu
verdeutlichen, braucht man bloß die Phantasiestücke Robert und Georg Schumanns
miteinander zu vergleichen oder noch besser etwa die „Colombine" Cyrill Scotts,
des „Modernsten" und Originellsten unter den Modernen, mit dem gleichnamigen
Stück aus Schumanns Carneval. Scotts Musik mag zunächst befremden, aber
sie interessiert sehr bald (Werke bei Schott). Dazu kommt noch bei den
Skandinaviern, besonders bei Grieg, und bei den Slawen, wie Suk, Nowak,
Juon, Röbikoff, ein starker nationaler Einschlag und ein an die norddeutsche
Art erinnernder grüblerischer Zug, ein fast pessimistisch zu nennender Unterton,
der dieser Musik einen herben, fremdartigen, aber eben darum reizvollen
Charakter verleiht. Die Musik der eben genannten Slawen namentlich ist
durchweg schwer, inhaltlich und technisch, aber gedankenreich, koloristisch und von
heißem inneren Erleben zeugend (Werke bei Simrock u. Schlestnger).

Aber auch bei Meistern, die in gewissem Sinne noch durch Schumann und
Chopin beeinflußt sind, zeigt sich unverkennbar jenes Neue. So bei dem schon
erwähnten Mac Dowell und Eduard Schütt, der in seiner Frühzeit Chopin
ziemlich nahesteht. Schütt ist eine der Sympathischsten und liebenswürdigsten
Erscheinungen der neueren Musikgeschichte, schönheitstrunken, heiter, empfindungs¬
tief. Man mag bei ihm an Peter Cornelius denken, mit dem er den gemütvollen
Humor gemein hat, und an Gustav Falke: es ist dieselbe abgeklärte Schönheit,
derselbe sonnige Glanz, wie er über den Falkeschen Gedichten liegt, der gleiche
Reichtum der Ausdrucksmittel und die Hinneigung zum Impressionismus. Wie
jener verdichtet auch er die durch physiologischen oder psychologischen Eindruck
gewonnene Stimmung durch weite Schwebungen von Spannungsgefühlen, ohne
kaum jemals in Gesuchtheit zu verfallen. Einem warmen Gemüt entquollen,
wirkt seine Musik mit ihrer blühend schönen Melodik wohltuend wie die Sonnen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/332>, abgerufen am 23.07.2024.