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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Aber es kam wieder ganz anders. Roosevelt suchte krampfhaft nach einem
durchschlagenden Wahlspruch für die Massen. Nachdem er sich der Werbung
mit dem Kampf gegen die Trusts begeben, bedürfte er eines solchen mehr als
je. Doch ging er nun so weit, wie es kein Mensch für möglich gehalten hätte.
Er sprach sich für die Abberufbarkeit der Beamten, einschließlich der Richter,
durch das "Volk", d. h. durch einen Beschluß der Wählerschaft aus. Vor dem
Urteil unbefangener, aber politisch durchgebildeter Leute mußte das dem Faß den
Boden ausschlagen, namentlich mußte das den Urheber dieses Gedankens bei allen
konservativen Kreisen unmöglich machen. Es sei hier bemerkt, daß die Vereinigten
Staaten nach England das erste Land gewesen sind, das die uns heute selbst¬
verständlich erscheinende Unabhängigkeit des Richters durchgeführt hat.

Die Verteidiger Roosevelts gingen von der Annahme aus, daß er die ihm
zugeschriebenen Absichten gar nicht haben könne. Aber die Gegner beriefen sich
auf seine klaren Worte in der Rede zu Osawatomie und auf Artikel im Outlook,
die noch radikaler gehalten waren. Roosevelt selber sprach kein Wort, um das
Gesagte richtig zu stellen; es ist daher nicht daran zu zweifeln, daß er sich mit
seinem Vorschlag an den im Westen vielverbreiteten, aber auch im Osten sehr
häufig vorkommenden Radikalismus hat wenden wollen. Man sagt, daß die
Einwanderer des letzten Jahrzehnts, unter denen Ost- und Südeuropäer vor¬
wiegen, seine Ansichten begünstigen. Und diesen Neulingen -- vier Jahre nach der
Einwanderung erlangt jeder Unbescholtene das Wahlrecht -- will Roosevelt eine
derart heikle Entscheidung überweisen!

Präsident Taft hat offenbar damit einen Trumpf in die Hand bekommen,
den er auszunutzen fucht. Er tritt für die Verfassung ein und bezeichnet die
Abberufbarkeit der Richter als Heraufbeschwörung eines Zeitalters nichtiger
Anarchie (bubblmZ anarcli^, d. h. buchstäblich: Wasserblasen aufsprudelnder
Anarchie). "Die Reformen mögen möglichst von Grund aus unternommen
werden, möge das Volk lernen, ehrenwerte Männer zu Abgeordneten zu erwählen;
möge es sich zunächst an der Gemeindepolitik hinreichend beteiligen, um die Lenkung
der Angelegenheiten durch bosssZ (Vereinsgewaltige) unmöglich zu machen. Die
Selbstsucht der einzelnen, dies zu ausschließliche Bemühen um das Goldmacher,
ist die Wurzel allen Übels gewesen. Möge das Volk solche Vertreter wählen,
die die guten Seiten des parlamentarischen Wesens erkennen lassen."

Allem Anschein nach sind Roosevelts Aussichten sehr verdüstert. Er hat
zwar in den Vorwahlen für die entscheidende Hauptversammlung der republika¬
nischen Partei einige Weststaaten mit geringer Wahlmacht gewonnen, aber im
Nordosten anscheinend allen Boden verloren. Der Staat New Uork, der mächtigste
von allen, hat in allen Bezirken, wo der Gegensatz Taft - Roosevelt entschied,
Anhänger Tafts gewählt. Danach sollte man annehmen, daß dieser zum Partei¬
kandidaten erkoren werde.

Ob er aber in der eigentlichen Präsidentenwahl im November den Sieg
erringt, das ist eine völlig andere Sache. Der eigentliche Gegner ist dann


Reichsspiegel

Aber es kam wieder ganz anders. Roosevelt suchte krampfhaft nach einem
durchschlagenden Wahlspruch für die Massen. Nachdem er sich der Werbung
mit dem Kampf gegen die Trusts begeben, bedürfte er eines solchen mehr als
je. Doch ging er nun so weit, wie es kein Mensch für möglich gehalten hätte.
Er sprach sich für die Abberufbarkeit der Beamten, einschließlich der Richter,
durch das „Volk", d. h. durch einen Beschluß der Wählerschaft aus. Vor dem
Urteil unbefangener, aber politisch durchgebildeter Leute mußte das dem Faß den
Boden ausschlagen, namentlich mußte das den Urheber dieses Gedankens bei allen
konservativen Kreisen unmöglich machen. Es sei hier bemerkt, daß die Vereinigten
Staaten nach England das erste Land gewesen sind, das die uns heute selbst¬
verständlich erscheinende Unabhängigkeit des Richters durchgeführt hat.

Die Verteidiger Roosevelts gingen von der Annahme aus, daß er die ihm
zugeschriebenen Absichten gar nicht haben könne. Aber die Gegner beriefen sich
auf seine klaren Worte in der Rede zu Osawatomie und auf Artikel im Outlook,
die noch radikaler gehalten waren. Roosevelt selber sprach kein Wort, um das
Gesagte richtig zu stellen; es ist daher nicht daran zu zweifeln, daß er sich mit
seinem Vorschlag an den im Westen vielverbreiteten, aber auch im Osten sehr
häufig vorkommenden Radikalismus hat wenden wollen. Man sagt, daß die
Einwanderer des letzten Jahrzehnts, unter denen Ost- und Südeuropäer vor¬
wiegen, seine Ansichten begünstigen. Und diesen Neulingen — vier Jahre nach der
Einwanderung erlangt jeder Unbescholtene das Wahlrecht — will Roosevelt eine
derart heikle Entscheidung überweisen!

Präsident Taft hat offenbar damit einen Trumpf in die Hand bekommen,
den er auszunutzen fucht. Er tritt für die Verfassung ein und bezeichnet die
Abberufbarkeit der Richter als Heraufbeschwörung eines Zeitalters nichtiger
Anarchie (bubblmZ anarcli^, d. h. buchstäblich: Wasserblasen aufsprudelnder
Anarchie). „Die Reformen mögen möglichst von Grund aus unternommen
werden, möge das Volk lernen, ehrenwerte Männer zu Abgeordneten zu erwählen;
möge es sich zunächst an der Gemeindepolitik hinreichend beteiligen, um die Lenkung
der Angelegenheiten durch bosssZ (Vereinsgewaltige) unmöglich zu machen. Die
Selbstsucht der einzelnen, dies zu ausschließliche Bemühen um das Goldmacher,
ist die Wurzel allen Übels gewesen. Möge das Volk solche Vertreter wählen,
die die guten Seiten des parlamentarischen Wesens erkennen lassen."

Allem Anschein nach sind Roosevelts Aussichten sehr verdüstert. Er hat
zwar in den Vorwahlen für die entscheidende Hauptversammlung der republika¬
nischen Partei einige Weststaaten mit geringer Wahlmacht gewonnen, aber im
Nordosten anscheinend allen Boden verloren. Der Staat New Uork, der mächtigste
von allen, hat in allen Bezirken, wo der Gegensatz Taft - Roosevelt entschied,
Anhänger Tafts gewählt. Danach sollte man annehmen, daß dieser zum Partei¬
kandidaten erkoren werde.

Ob er aber in der eigentlichen Präsidentenwahl im November den Sieg
erringt, das ist eine völlig andere Sache. Der eigentliche Gegner ist dann


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[0315] Reichsspiegel Aber es kam wieder ganz anders. Roosevelt suchte krampfhaft nach einem durchschlagenden Wahlspruch für die Massen. Nachdem er sich der Werbung mit dem Kampf gegen die Trusts begeben, bedürfte er eines solchen mehr als je. Doch ging er nun so weit, wie es kein Mensch für möglich gehalten hätte. Er sprach sich für die Abberufbarkeit der Beamten, einschließlich der Richter, durch das „Volk", d. h. durch einen Beschluß der Wählerschaft aus. Vor dem Urteil unbefangener, aber politisch durchgebildeter Leute mußte das dem Faß den Boden ausschlagen, namentlich mußte das den Urheber dieses Gedankens bei allen konservativen Kreisen unmöglich machen. Es sei hier bemerkt, daß die Vereinigten Staaten nach England das erste Land gewesen sind, das die uns heute selbst¬ verständlich erscheinende Unabhängigkeit des Richters durchgeführt hat. Die Verteidiger Roosevelts gingen von der Annahme aus, daß er die ihm zugeschriebenen Absichten gar nicht haben könne. Aber die Gegner beriefen sich auf seine klaren Worte in der Rede zu Osawatomie und auf Artikel im Outlook, die noch radikaler gehalten waren. Roosevelt selber sprach kein Wort, um das Gesagte richtig zu stellen; es ist daher nicht daran zu zweifeln, daß er sich mit seinem Vorschlag an den im Westen vielverbreiteten, aber auch im Osten sehr häufig vorkommenden Radikalismus hat wenden wollen. Man sagt, daß die Einwanderer des letzten Jahrzehnts, unter denen Ost- und Südeuropäer vor¬ wiegen, seine Ansichten begünstigen. Und diesen Neulingen — vier Jahre nach der Einwanderung erlangt jeder Unbescholtene das Wahlrecht — will Roosevelt eine derart heikle Entscheidung überweisen! Präsident Taft hat offenbar damit einen Trumpf in die Hand bekommen, den er auszunutzen fucht. Er tritt für die Verfassung ein und bezeichnet die Abberufbarkeit der Richter als Heraufbeschwörung eines Zeitalters nichtiger Anarchie (bubblmZ anarcli^, d. h. buchstäblich: Wasserblasen aufsprudelnder Anarchie). „Die Reformen mögen möglichst von Grund aus unternommen werden, möge das Volk lernen, ehrenwerte Männer zu Abgeordneten zu erwählen; möge es sich zunächst an der Gemeindepolitik hinreichend beteiligen, um die Lenkung der Angelegenheiten durch bosssZ (Vereinsgewaltige) unmöglich zu machen. Die Selbstsucht der einzelnen, dies zu ausschließliche Bemühen um das Goldmacher, ist die Wurzel allen Übels gewesen. Möge das Volk solche Vertreter wählen, die die guten Seiten des parlamentarischen Wesens erkennen lassen." Allem Anschein nach sind Roosevelts Aussichten sehr verdüstert. Er hat zwar in den Vorwahlen für die entscheidende Hauptversammlung der republika¬ nischen Partei einige Weststaaten mit geringer Wahlmacht gewonnen, aber im Nordosten anscheinend allen Boden verloren. Der Staat New Uork, der mächtigste von allen, hat in allen Bezirken, wo der Gegensatz Taft - Roosevelt entschied, Anhänger Tafts gewählt. Danach sollte man annehmen, daß dieser zum Partei¬ kandidaten erkoren werde. Ob er aber in der eigentlichen Präsidentenwahl im November den Sieg erringt, das ist eine völlig andere Sache. Der eigentliche Gegner ist dann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/315>, abgerufen am 26.06.2024.