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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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vier Lebonsromcnil'

das der fremden, nicht eingewurzelten, mißtrauischen Kleinjuden auf der anderen
Seite. Die Charakteristik ist überall knapp und fein, das Ganze in einem Zuge
heruntererzählt und so erzählt, daß im Grunde der Dichter nie herauszutreten
braucht, sondern die Menschen und Dinge ganz für sich sprechen lassen kann.

Die gehaltvollste von diesen vier Gaben hat uns Artur Brausewetter mit
seinem Roman "Stirb und werde" (Berlin, Otto Janke) gegeben. Es ist die
Geschichte eines Pfarrers, der nach schweren Kämpfen in demi Augenblick wie
ein Sieger stirbt, da der Unverstand der Menge ihn brutal fällt. Martin
Steppenreiter arbeitet zuerst in der kleinen Vaterstadt und gelangt hier nicht zu
rechter Wirkung, weil er ganz den ernstesten Pflichten seines Amtes lebt und
den gesellschaftlichen Verhältnissen, insbesondere auch seinem Patron nicht die
Einräumungen machen will, die man von ihm verlangt. In die Großstadt
berufen, erlebt er eine Umwandlung. Er gelangt durch einen Freund in die
Gesellschaft, er, der Musikalische, wird der "Herrgott der Großstadt", der gesuchte
Redner nicht nur auf der Kanzel, der mitschwimmt im Strome der Geselligkeit
und dem nun hier das rechte Maß verloren geht, bis er erkennt und umbiegt.
Von einer Hochzeitsfeier in eine Proletarierhütte berufen, sieht er auf den? nächt¬
lichen Gang den falschen Weg und geht nun einen anderen. Er entsinne sich
der letzten Forderungen des Amtes, er meidet jede Konzession und wird der
Geistliche der Elenden und Bedrängten. Aber auch hier erlebt er bitterste Ent¬
täuschung, als sein Vermögen vertan ist, seine materielle Hilfe den Bittenden
versagt werden muß. Und nun wagt er das Letzte und geht in die sozialdemo¬
kratische Versammlung, um dort über Sozialdemokratie und Christentum zu
sprechen. Zuerst wird ihm donnernder Beifall, dann aber, da er ganz anderes
sagt, als man von ihn: erwartet, tosender Widerspruch, bis er in dem Aufruhr
der beleidigten Genossen tot daniedergestreckt wird.

Es ist nicht etwa "der" Pfarrer, den uns Brausewetter hier zeichnet --
er stellt ihm einige ganz andere gegenüber, darunter eine sehr feine Gestalt, die
in der Gesellschaft lebt wie in seiner zweiten Periode Martin, und die doch
innerhalb dieser Gesellschaft ganz anders für das Evangelium zu wirken weiß.
Steppenreiter ist nicht ein Typus, sondern vielmehr ein Mensch, der immer nur
in sich wirken kann, wenn er ganz einer Überzeugung folgt, eine Natur, die sich
stets bis zum Letzten ausgeben muß, und für die es darum wirklich nur heißen
kann: Stirb und werde, noch in einem ganz anderen Sinn, als es für jeden
so heißt. Der demokratische Trotz des unkirchlichen Vaters und die vermittelnde
Demut der frommen Mutter haben seltsame Spuren in ihm hinterlassen; er
kann nur eins sein oder gar nichts sein, kann auch der geliebten Braut zuliebe
nicht um einen Schritt von der neu erkannten Wahrheit abweichen -- eine
durchaus tragische Natur, deren Untergang erschüttert und zugleich befreit, weil
wir empfinden, daß sie diesem Leben doch nicht gewachsen ist. Nichts von
modernen Kirchenstreitigkeiten, nichts von allem, was uns im letzten Jahr beschäftigt
hat, lebt hier, sondern es handelt sich um die immer wiederkehrenden Kämpfe


vier Lebonsromcnil'

das der fremden, nicht eingewurzelten, mißtrauischen Kleinjuden auf der anderen
Seite. Die Charakteristik ist überall knapp und fein, das Ganze in einem Zuge
heruntererzählt und so erzählt, daß im Grunde der Dichter nie herauszutreten
braucht, sondern die Menschen und Dinge ganz für sich sprechen lassen kann.

Die gehaltvollste von diesen vier Gaben hat uns Artur Brausewetter mit
seinem Roman „Stirb und werde" (Berlin, Otto Janke) gegeben. Es ist die
Geschichte eines Pfarrers, der nach schweren Kämpfen in demi Augenblick wie
ein Sieger stirbt, da der Unverstand der Menge ihn brutal fällt. Martin
Steppenreiter arbeitet zuerst in der kleinen Vaterstadt und gelangt hier nicht zu
rechter Wirkung, weil er ganz den ernstesten Pflichten seines Amtes lebt und
den gesellschaftlichen Verhältnissen, insbesondere auch seinem Patron nicht die
Einräumungen machen will, die man von ihm verlangt. In die Großstadt
berufen, erlebt er eine Umwandlung. Er gelangt durch einen Freund in die
Gesellschaft, er, der Musikalische, wird der „Herrgott der Großstadt", der gesuchte
Redner nicht nur auf der Kanzel, der mitschwimmt im Strome der Geselligkeit
und dem nun hier das rechte Maß verloren geht, bis er erkennt und umbiegt.
Von einer Hochzeitsfeier in eine Proletarierhütte berufen, sieht er auf den? nächt¬
lichen Gang den falschen Weg und geht nun einen anderen. Er entsinne sich
der letzten Forderungen des Amtes, er meidet jede Konzession und wird der
Geistliche der Elenden und Bedrängten. Aber auch hier erlebt er bitterste Ent¬
täuschung, als sein Vermögen vertan ist, seine materielle Hilfe den Bittenden
versagt werden muß. Und nun wagt er das Letzte und geht in die sozialdemo¬
kratische Versammlung, um dort über Sozialdemokratie und Christentum zu
sprechen. Zuerst wird ihm donnernder Beifall, dann aber, da er ganz anderes
sagt, als man von ihn: erwartet, tosender Widerspruch, bis er in dem Aufruhr
der beleidigten Genossen tot daniedergestreckt wird.

Es ist nicht etwa „der" Pfarrer, den uns Brausewetter hier zeichnet —
er stellt ihm einige ganz andere gegenüber, darunter eine sehr feine Gestalt, die
in der Gesellschaft lebt wie in seiner zweiten Periode Martin, und die doch
innerhalb dieser Gesellschaft ganz anders für das Evangelium zu wirken weiß.
Steppenreiter ist nicht ein Typus, sondern vielmehr ein Mensch, der immer nur
in sich wirken kann, wenn er ganz einer Überzeugung folgt, eine Natur, die sich
stets bis zum Letzten ausgeben muß, und für die es darum wirklich nur heißen
kann: Stirb und werde, noch in einem ganz anderen Sinn, als es für jeden
so heißt. Der demokratische Trotz des unkirchlichen Vaters und die vermittelnde
Demut der frommen Mutter haben seltsame Spuren in ihm hinterlassen; er
kann nur eins sein oder gar nichts sein, kann auch der geliebten Braut zuliebe
nicht um einen Schritt von der neu erkannten Wahrheit abweichen — eine
durchaus tragische Natur, deren Untergang erschüttert und zugleich befreit, weil
wir empfinden, daß sie diesem Leben doch nicht gewachsen ist. Nichts von
modernen Kirchenstreitigkeiten, nichts von allem, was uns im letzten Jahr beschäftigt
hat, lebt hier, sondern es handelt sich um die immer wiederkehrenden Kämpfe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/304>, abgerufen am 26.06.2024.