Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vier Lel'ensromcmc

Geschlecht, durch die Mutter aber aus einer Familie, in der seit zwei Generationen
alles in griechischer Luft geatmet hat. Mit Homer, Äschylos, Sophokles sind
die Kinder erwachsen, und Daniel Achilles sühlt hinter seinem Leben ein zweites,
das eines griechischen Helden. Und diesem Unterbewußtsein fügt sich bei fort¬
schreitenden Schicksalen alles ein, was er erlebt: der Tod des Bruders durch
die Schuld des Vaters, der Ehebruch des Vaters, dem wie zur Strafe der der
Mutter mit einem durchaus unter ihr stehenden Menschen folgt, der Tod des
Vaters, den vielleicht die Mutter hätte abwenden können und das alles
bringt dann schließlich das Orestes-Bewußtsein in Daniel Achilles zum Ausbruch.
Aber nicht wie der unselige Held der Antike, den die Erunnien Hetzen, sondern
als Selbstbefreier endet er und geht sanft und heiter auf den: See, der den
Bruder und den Vater verschlungen hat, in den Tod.

Die Gefahr der Übertreibung liegt bei solch seltsamem Vorwurf sehr nahe,
Leonore Frei ist ihr aber fast überall entgangen. Wir glauben ihr diesen
Menschen mit dem zweiten Gesicht durchaus und meinen mit ihm im wirklichen
Leben zu stehen, wie wir seinen Träumen, seinen Parallelempfindungen aus
dem leuchtenden Reich folgen können. Wir empfinden bald die Lebensunfähigkeit
gegenüber den harten Wirklichkeiten eines nun einmal eng begrenzten Daseins
und gelangen deshalb mit Leonore Frei auf den gewünschten Endpunkt: den
Freitod des Daniel Achilles nicht als eine Katastrophe, sondern als einen
Übergang in sein eigentliches Reich anzusehen.

Aus phantastischen Reichen zur herbsten Wirklichkeit führt Johannes Höffner
mit seinem Roman "Gideon der Arzt" (F. Fontane u. Co., Berlin). Er behandelt
die Geschichte zweier Juden, eines Vaters und eines Sohnes. Der Vater, Kreisarzt
in einer kleinen pommerschen Stadt, hält sich äußerlich, jedoch ohne Befolgung
der Zeremonien, noch zum Judentum, hofft aber den Sohn allmählich zum
Christentum hinüberzuleiten. Die aufflammende antisemitische Bewegung aber
führt dessen zuerst schön emporgehendes Schicksal einem jähen Ende zu. Überall
stößt er an sein Judentum. Die Verehrung, die der Vater in der Heimat
genießt, schützt ihn nicht vor einer schweren Herzenserfahrung, und eine vom
Gymnasium her lodernde Todfeindschaft mit einem rohen Mitschüler bringt
schließlich für den Studenten früh das blutige Ende auf der Mensur in Berlin.
Eine tief ergreifende Erzählung, in der die Tendenz sich niemals unrein vordrängt.
Denn wir erleben nicht einen für politische oder religiöse Auseinandersetzungen
herbeigezogenen Schulfall, in dem alles nach bestimmtem Schema verläuft,
sondern die menschliche Geschichte des Sohnes und, worauf es Höffner wohl am
meisten ankam, des Vaters. Wir empfinden auch überall, daß das Menschliche
in den engsten Beziehungen des Einzelnen das Letzte und Wertvollste ist. Dabei
erfreut der intime Realismus, mit dem das Leben der Kleinstadt um 1380
gegeben ist, ihre Tagewerke und ihre Feste, das Leben der Kleinbürger und mit
echter poetischer Gerechtigkeit auch wiederum die Vielfältigkeit des jüdischen
Lebens -- das Haus des deutschen, Heimattreuen Arztes Gideon auf der einen,


vier Lel'ensromcmc

Geschlecht, durch die Mutter aber aus einer Familie, in der seit zwei Generationen
alles in griechischer Luft geatmet hat. Mit Homer, Äschylos, Sophokles sind
die Kinder erwachsen, und Daniel Achilles sühlt hinter seinem Leben ein zweites,
das eines griechischen Helden. Und diesem Unterbewußtsein fügt sich bei fort¬
schreitenden Schicksalen alles ein, was er erlebt: der Tod des Bruders durch
die Schuld des Vaters, der Ehebruch des Vaters, dem wie zur Strafe der der
Mutter mit einem durchaus unter ihr stehenden Menschen folgt, der Tod des
Vaters, den vielleicht die Mutter hätte abwenden können und das alles
bringt dann schließlich das Orestes-Bewußtsein in Daniel Achilles zum Ausbruch.
Aber nicht wie der unselige Held der Antike, den die Erunnien Hetzen, sondern
als Selbstbefreier endet er und geht sanft und heiter auf den: See, der den
Bruder und den Vater verschlungen hat, in den Tod.

Die Gefahr der Übertreibung liegt bei solch seltsamem Vorwurf sehr nahe,
Leonore Frei ist ihr aber fast überall entgangen. Wir glauben ihr diesen
Menschen mit dem zweiten Gesicht durchaus und meinen mit ihm im wirklichen
Leben zu stehen, wie wir seinen Träumen, seinen Parallelempfindungen aus
dem leuchtenden Reich folgen können. Wir empfinden bald die Lebensunfähigkeit
gegenüber den harten Wirklichkeiten eines nun einmal eng begrenzten Daseins
und gelangen deshalb mit Leonore Frei auf den gewünschten Endpunkt: den
Freitod des Daniel Achilles nicht als eine Katastrophe, sondern als einen
Übergang in sein eigentliches Reich anzusehen.

Aus phantastischen Reichen zur herbsten Wirklichkeit führt Johannes Höffner
mit seinem Roman „Gideon der Arzt" (F. Fontane u. Co., Berlin). Er behandelt
die Geschichte zweier Juden, eines Vaters und eines Sohnes. Der Vater, Kreisarzt
in einer kleinen pommerschen Stadt, hält sich äußerlich, jedoch ohne Befolgung
der Zeremonien, noch zum Judentum, hofft aber den Sohn allmählich zum
Christentum hinüberzuleiten. Die aufflammende antisemitische Bewegung aber
führt dessen zuerst schön emporgehendes Schicksal einem jähen Ende zu. Überall
stößt er an sein Judentum. Die Verehrung, die der Vater in der Heimat
genießt, schützt ihn nicht vor einer schweren Herzenserfahrung, und eine vom
Gymnasium her lodernde Todfeindschaft mit einem rohen Mitschüler bringt
schließlich für den Studenten früh das blutige Ende auf der Mensur in Berlin.
Eine tief ergreifende Erzählung, in der die Tendenz sich niemals unrein vordrängt.
Denn wir erleben nicht einen für politische oder religiöse Auseinandersetzungen
herbeigezogenen Schulfall, in dem alles nach bestimmtem Schema verläuft,
sondern die menschliche Geschichte des Sohnes und, worauf es Höffner wohl am
meisten ankam, des Vaters. Wir empfinden auch überall, daß das Menschliche
in den engsten Beziehungen des Einzelnen das Letzte und Wertvollste ist. Dabei
erfreut der intime Realismus, mit dem das Leben der Kleinstadt um 1380
gegeben ist, ihre Tagewerke und ihre Feste, das Leben der Kleinbürger und mit
echter poetischer Gerechtigkeit auch wiederum die Vielfältigkeit des jüdischen
Lebens — das Haus des deutschen, Heimattreuen Arztes Gideon auf der einen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0303" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321386"/>
          <fw type="header" place="top"> vier Lel'ensromcmc</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1269" prev="#ID_1268"> Geschlecht, durch die Mutter aber aus einer Familie, in der seit zwei Generationen<lb/>
alles in griechischer Luft geatmet hat. Mit Homer, Äschylos, Sophokles sind<lb/>
die Kinder erwachsen, und Daniel Achilles sühlt hinter seinem Leben ein zweites,<lb/>
das eines griechischen Helden. Und diesem Unterbewußtsein fügt sich bei fort¬<lb/>
schreitenden Schicksalen alles ein, was er erlebt: der Tod des Bruders durch<lb/>
die Schuld des Vaters, der Ehebruch des Vaters, dem wie zur Strafe der der<lb/>
Mutter mit einem durchaus unter ihr stehenden Menschen folgt, der Tod des<lb/>
Vaters, den vielleicht die Mutter hätte abwenden können und das alles<lb/>
bringt dann schließlich das Orestes-Bewußtsein in Daniel Achilles zum Ausbruch.<lb/>
Aber nicht wie der unselige Held der Antike, den die Erunnien Hetzen, sondern<lb/>
als Selbstbefreier endet er und geht sanft und heiter auf den: See, der den<lb/>
Bruder und den Vater verschlungen hat, in den Tod.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1270"> Die Gefahr der Übertreibung liegt bei solch seltsamem Vorwurf sehr nahe,<lb/>
Leonore Frei ist ihr aber fast überall entgangen. Wir glauben ihr diesen<lb/>
Menschen mit dem zweiten Gesicht durchaus und meinen mit ihm im wirklichen<lb/>
Leben zu stehen, wie wir seinen Träumen, seinen Parallelempfindungen aus<lb/>
dem leuchtenden Reich folgen können. Wir empfinden bald die Lebensunfähigkeit<lb/>
gegenüber den harten Wirklichkeiten eines nun einmal eng begrenzten Daseins<lb/>
und gelangen deshalb mit Leonore Frei auf den gewünschten Endpunkt: den<lb/>
Freitod des Daniel Achilles nicht als eine Katastrophe, sondern als einen<lb/>
Übergang in sein eigentliches Reich anzusehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1271" next="#ID_1272"> Aus phantastischen Reichen zur herbsten Wirklichkeit führt Johannes Höffner<lb/>
mit seinem Roman &#x201E;Gideon der Arzt" (F. Fontane u. Co., Berlin). Er behandelt<lb/>
die Geschichte zweier Juden, eines Vaters und eines Sohnes. Der Vater, Kreisarzt<lb/>
in einer kleinen pommerschen Stadt, hält sich äußerlich, jedoch ohne Befolgung<lb/>
der Zeremonien, noch zum Judentum, hofft aber den Sohn allmählich zum<lb/>
Christentum hinüberzuleiten. Die aufflammende antisemitische Bewegung aber<lb/>
führt dessen zuerst schön emporgehendes Schicksal einem jähen Ende zu. Überall<lb/>
stößt er an sein Judentum. Die Verehrung, die der Vater in der Heimat<lb/>
genießt, schützt ihn nicht vor einer schweren Herzenserfahrung, und eine vom<lb/>
Gymnasium her lodernde Todfeindschaft mit einem rohen Mitschüler bringt<lb/>
schließlich für den Studenten früh das blutige Ende auf der Mensur in Berlin.<lb/>
Eine tief ergreifende Erzählung, in der die Tendenz sich niemals unrein vordrängt.<lb/>
Denn wir erleben nicht einen für politische oder religiöse Auseinandersetzungen<lb/>
herbeigezogenen Schulfall, in dem alles nach bestimmtem Schema verläuft,<lb/>
sondern die menschliche Geschichte des Sohnes und, worauf es Höffner wohl am<lb/>
meisten ankam, des Vaters. Wir empfinden auch überall, daß das Menschliche<lb/>
in den engsten Beziehungen des Einzelnen das Letzte und Wertvollste ist. Dabei<lb/>
erfreut der intime Realismus, mit dem das Leben der Kleinstadt um 1380<lb/>
gegeben ist, ihre Tagewerke und ihre Feste, das Leben der Kleinbürger und mit<lb/>
echter poetischer Gerechtigkeit auch wiederum die Vielfältigkeit des jüdischen<lb/>
Lebens &#x2014; das Haus des deutschen, Heimattreuen Arztes Gideon auf der einen,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0303] vier Lel'ensromcmc Geschlecht, durch die Mutter aber aus einer Familie, in der seit zwei Generationen alles in griechischer Luft geatmet hat. Mit Homer, Äschylos, Sophokles sind die Kinder erwachsen, und Daniel Achilles sühlt hinter seinem Leben ein zweites, das eines griechischen Helden. Und diesem Unterbewußtsein fügt sich bei fort¬ schreitenden Schicksalen alles ein, was er erlebt: der Tod des Bruders durch die Schuld des Vaters, der Ehebruch des Vaters, dem wie zur Strafe der der Mutter mit einem durchaus unter ihr stehenden Menschen folgt, der Tod des Vaters, den vielleicht die Mutter hätte abwenden können und das alles bringt dann schließlich das Orestes-Bewußtsein in Daniel Achilles zum Ausbruch. Aber nicht wie der unselige Held der Antike, den die Erunnien Hetzen, sondern als Selbstbefreier endet er und geht sanft und heiter auf den: See, der den Bruder und den Vater verschlungen hat, in den Tod. Die Gefahr der Übertreibung liegt bei solch seltsamem Vorwurf sehr nahe, Leonore Frei ist ihr aber fast überall entgangen. Wir glauben ihr diesen Menschen mit dem zweiten Gesicht durchaus und meinen mit ihm im wirklichen Leben zu stehen, wie wir seinen Träumen, seinen Parallelempfindungen aus dem leuchtenden Reich folgen können. Wir empfinden bald die Lebensunfähigkeit gegenüber den harten Wirklichkeiten eines nun einmal eng begrenzten Daseins und gelangen deshalb mit Leonore Frei auf den gewünschten Endpunkt: den Freitod des Daniel Achilles nicht als eine Katastrophe, sondern als einen Übergang in sein eigentliches Reich anzusehen. Aus phantastischen Reichen zur herbsten Wirklichkeit führt Johannes Höffner mit seinem Roman „Gideon der Arzt" (F. Fontane u. Co., Berlin). Er behandelt die Geschichte zweier Juden, eines Vaters und eines Sohnes. Der Vater, Kreisarzt in einer kleinen pommerschen Stadt, hält sich äußerlich, jedoch ohne Befolgung der Zeremonien, noch zum Judentum, hofft aber den Sohn allmählich zum Christentum hinüberzuleiten. Die aufflammende antisemitische Bewegung aber führt dessen zuerst schön emporgehendes Schicksal einem jähen Ende zu. Überall stößt er an sein Judentum. Die Verehrung, die der Vater in der Heimat genießt, schützt ihn nicht vor einer schweren Herzenserfahrung, und eine vom Gymnasium her lodernde Todfeindschaft mit einem rohen Mitschüler bringt schließlich für den Studenten früh das blutige Ende auf der Mensur in Berlin. Eine tief ergreifende Erzählung, in der die Tendenz sich niemals unrein vordrängt. Denn wir erleben nicht einen für politische oder religiöse Auseinandersetzungen herbeigezogenen Schulfall, in dem alles nach bestimmtem Schema verläuft, sondern die menschliche Geschichte des Sohnes und, worauf es Höffner wohl am meisten ankam, des Vaters. Wir empfinden auch überall, daß das Menschliche in den engsten Beziehungen des Einzelnen das Letzte und Wertvollste ist. Dabei erfreut der intime Realismus, mit dem das Leben der Kleinstadt um 1380 gegeben ist, ihre Tagewerke und ihre Feste, das Leben der Kleinbürger und mit echter poetischer Gerechtigkeit auch wiederum die Vielfältigkeit des jüdischen Lebens — das Haus des deutschen, Heimattreuen Arztes Gideon auf der einen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/303
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/303>, abgerufen am 28.09.2024.