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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Der Wiesenzaun

Und als er sich nach einiger Zeit empfahl, geschah es scheinbar im besten
Einvernehmen, wobei die uralte Lüge von Mensch zu Mensch, zuweilen auch
Höflichkeit genannt, auf gute Rechnung gekommen war.




Felicitas war an jenem Abend atemlos heimgekehrt und hatte gehofft, der
Vater werde sie nicht vermissen. Sie wurde aber nicht nur in ärgerlicher
Ungeduld von ihm selbst erwartet; es saß noch ein anderer da, der sie mit
vorwurfsvoll besorgten Blicken empfing. Das war Hans Scherlin, ein junger
Bäckergeselle aus der Nachbarschaft, der sich seit ewiger Zeit in entschiedener
Weise um sie bemühte.

Felicitas verstand es, das Marienbild, das sie noch in der Hand trug,
geschickt hinter ihrer Schürze zu verbergen, und sagte dem Vater, sie habe sich
im Krämerladen, wo sie ein Stück Wollzeug gekauft, im Geplauder mit einer
Nachbarin verspätet. Und wirklich trug sie auch das Wollzeug in der Hand,
das sie sich auf dem Heimwege verschafft hatte.

Der Blinde aber begann nunmehr zu jammern und zu klagen, wie ihn
sein einzig Kind in all seinen: Elend lieblos verlasse, und als Felicitas, im
Unmut über des Scherlins Anwesenheit, in trotzigem Schweigen verharrte,
wurde er von heftigem Zorne ergriffen und fing ein so wüstes Geschimpfe und
Gefluche an, daß die Leute auf der Gasse sich sammelten und Meister Unfug
besorgt aus der Werkstatt heraufgesprungen kam.

Felicitas aber war in ihre Kammer gegangen und hatte sich weinend aufs
Lager geworfen. Nach einiger Zeit, als es draußen wieder ruhig geworden,
vernahm sie die schlürfenden Schritte des Vaters und hörte, wie er sich ängstlich
nach ihrer Tür tappte.

Da stand sie auf und öffnete ihn: und strich ihm mit ihren linden Händen
leise übers Antlitz, wobei der Blinde ganz stille hielt, als käme es wie ein
Segen über ihn, den er sich lang ersehnt.

Felicitas aber fragte den Vater, ob der Scherlin fort sei, denn sie wolle'
ihn heute uicht mehr sehen.

Er sagte, der Geselle sei traurig weggegangen, und es sei nicht schön von
ihr, den guten Knaben, mit dem er sich besser verstehe als mit irgendeinem,
so schnöde zu behandeln.

Felicitas preßte die Lippen zusammen und schwieg. Was sollte dieser
fremde Geselle in ihrem armen Leben, das ganz nur dem einen, großen, ein¬
samen Traume gehörte?

Der Scherlin hatte es wunderlicherweise verstanden, sich in des Vaters
Gunst zu setzen, was seit dessen Erblinden sonst noch keinem gelungen war.
Er wußte dem Vater, dem er sich einst in einer Schenke mit dem vollen Wein¬
kruge genähert, mit kluger Neugier immer wieder nach seinen alten Kriegs¬
fahrten auszufragen, und hatte sich damit seiner schwächsten Seite versichert.


Der Wiesenzaun

Und als er sich nach einiger Zeit empfahl, geschah es scheinbar im besten
Einvernehmen, wobei die uralte Lüge von Mensch zu Mensch, zuweilen auch
Höflichkeit genannt, auf gute Rechnung gekommen war.




Felicitas war an jenem Abend atemlos heimgekehrt und hatte gehofft, der
Vater werde sie nicht vermissen. Sie wurde aber nicht nur in ärgerlicher
Ungeduld von ihm selbst erwartet; es saß noch ein anderer da, der sie mit
vorwurfsvoll besorgten Blicken empfing. Das war Hans Scherlin, ein junger
Bäckergeselle aus der Nachbarschaft, der sich seit ewiger Zeit in entschiedener
Weise um sie bemühte.

Felicitas verstand es, das Marienbild, das sie noch in der Hand trug,
geschickt hinter ihrer Schürze zu verbergen, und sagte dem Vater, sie habe sich
im Krämerladen, wo sie ein Stück Wollzeug gekauft, im Geplauder mit einer
Nachbarin verspätet. Und wirklich trug sie auch das Wollzeug in der Hand,
das sie sich auf dem Heimwege verschafft hatte.

Der Blinde aber begann nunmehr zu jammern und zu klagen, wie ihn
sein einzig Kind in all seinen: Elend lieblos verlasse, und als Felicitas, im
Unmut über des Scherlins Anwesenheit, in trotzigem Schweigen verharrte,
wurde er von heftigem Zorne ergriffen und fing ein so wüstes Geschimpfe und
Gefluche an, daß die Leute auf der Gasse sich sammelten und Meister Unfug
besorgt aus der Werkstatt heraufgesprungen kam.

Felicitas aber war in ihre Kammer gegangen und hatte sich weinend aufs
Lager geworfen. Nach einiger Zeit, als es draußen wieder ruhig geworden,
vernahm sie die schlürfenden Schritte des Vaters und hörte, wie er sich ängstlich
nach ihrer Tür tappte.

Da stand sie auf und öffnete ihn: und strich ihm mit ihren linden Händen
leise übers Antlitz, wobei der Blinde ganz stille hielt, als käme es wie ein
Segen über ihn, den er sich lang ersehnt.

Felicitas aber fragte den Vater, ob der Scherlin fort sei, denn sie wolle'
ihn heute uicht mehr sehen.

Er sagte, der Geselle sei traurig weggegangen, und es sei nicht schön von
ihr, den guten Knaben, mit dem er sich besser verstehe als mit irgendeinem,
so schnöde zu behandeln.

Felicitas preßte die Lippen zusammen und schwieg. Was sollte dieser
fremde Geselle in ihrem armen Leben, das ganz nur dem einen, großen, ein¬
samen Traume gehörte?

Der Scherlin hatte es wunderlicherweise verstanden, sich in des Vaters
Gunst zu setzen, was seit dessen Erblinden sonst noch keinem gelungen war.
Er wußte dem Vater, dem er sich einst in einer Schenke mit dem vollen Wein¬
kruge genähert, mit kluger Neugier immer wieder nach seinen alten Kriegs¬
fahrten auszufragen, und hatte sich damit seiner schwächsten Seite versichert.


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[0296] Der Wiesenzaun Und als er sich nach einiger Zeit empfahl, geschah es scheinbar im besten Einvernehmen, wobei die uralte Lüge von Mensch zu Mensch, zuweilen auch Höflichkeit genannt, auf gute Rechnung gekommen war. Felicitas war an jenem Abend atemlos heimgekehrt und hatte gehofft, der Vater werde sie nicht vermissen. Sie wurde aber nicht nur in ärgerlicher Ungeduld von ihm selbst erwartet; es saß noch ein anderer da, der sie mit vorwurfsvoll besorgten Blicken empfing. Das war Hans Scherlin, ein junger Bäckergeselle aus der Nachbarschaft, der sich seit ewiger Zeit in entschiedener Weise um sie bemühte. Felicitas verstand es, das Marienbild, das sie noch in der Hand trug, geschickt hinter ihrer Schürze zu verbergen, und sagte dem Vater, sie habe sich im Krämerladen, wo sie ein Stück Wollzeug gekauft, im Geplauder mit einer Nachbarin verspätet. Und wirklich trug sie auch das Wollzeug in der Hand, das sie sich auf dem Heimwege verschafft hatte. Der Blinde aber begann nunmehr zu jammern und zu klagen, wie ihn sein einzig Kind in all seinen: Elend lieblos verlasse, und als Felicitas, im Unmut über des Scherlins Anwesenheit, in trotzigem Schweigen verharrte, wurde er von heftigem Zorne ergriffen und fing ein so wüstes Geschimpfe und Gefluche an, daß die Leute auf der Gasse sich sammelten und Meister Unfug besorgt aus der Werkstatt heraufgesprungen kam. Felicitas aber war in ihre Kammer gegangen und hatte sich weinend aufs Lager geworfen. Nach einiger Zeit, als es draußen wieder ruhig geworden, vernahm sie die schlürfenden Schritte des Vaters und hörte, wie er sich ängstlich nach ihrer Tür tappte. Da stand sie auf und öffnete ihn: und strich ihm mit ihren linden Händen leise übers Antlitz, wobei der Blinde ganz stille hielt, als käme es wie ein Segen über ihn, den er sich lang ersehnt. Felicitas aber fragte den Vater, ob der Scherlin fort sei, denn sie wolle' ihn heute uicht mehr sehen. Er sagte, der Geselle sei traurig weggegangen, und es sei nicht schön von ihr, den guten Knaben, mit dem er sich besser verstehe als mit irgendeinem, so schnöde zu behandeln. Felicitas preßte die Lippen zusammen und schwieg. Was sollte dieser fremde Geselle in ihrem armen Leben, das ganz nur dem einen, großen, ein¬ samen Traume gehörte? Der Scherlin hatte es wunderlicherweise verstanden, sich in des Vaters Gunst zu setzen, was seit dessen Erblinden sonst noch keinem gelungen war. Er wußte dem Vater, dem er sich einst in einer Schenke mit dem vollen Wein¬ kruge genähert, mit kluger Neugier immer wieder nach seinen alten Kriegs¬ fahrten auszufragen, und hatte sich damit seiner schwächsten Seite versichert.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/296>, abgerufen am 26.06.2024.