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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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wirtschaftliche Rüstung

also als eine nüchterne Wahrheit hätte der Erste Lord der Admiralität aus¬
gesprochen, als er kürzlich sagte, die Kriegsflotte sei für England eine Not¬
wendigkeit, für Deutschland ein Luxus, wollten diese Worte ausschließlich vom
Standpunkt der Volksernährung, den: heutigen Angelpunkt englischer Politik,
verstanden sein.

England ist in einer Zeit, als es die einzige seebeherrschende Macht war,
vom Prohibitivsvstem (etwas wesentlich anderes war die seit 1828 geltende
"Gleitende Skala" nicht) fast unvermittelt (1846 bis 1849) zum Freihandel
übergegangen und hat alle Vorteile dieses Überganges genossen, bis neuerdings
andere Mächte unter kraftvollen, nationalen Regungen zu Weltmächten heran¬
gewachsen sind. Da nunmehr England einer Kombination mehrerer Mächte
nicht mehr unbedingt gewachsen ist, so muß es ein Zusammengehen z. B.
Deutschlands und Frankreichs unter allen Umständen zu verhindern suchen. Aus
der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Auslande ist damit bereits eine politische
geworden. Der hierin für das eigene Land liegenden Gefahr stehen Englands
einsichtige Kreise völlig offenen Auges gegenüber, aber mit dem Gefühl, daß
man nicht mehr zurück kann (Sir Edward Grey soll im vorigen Sommer direkt
auf Luthers "Ich kann nicht anders" hingewiesen haben). Joseph Chamberlain
hat um die Wende des Jahrhunderts mit ungeheurem Mut den Kampf gegen
die Volksstimmung aufgenommen, die seit den geschichtlich gewordenen Erfolgen
des englischen Freihandels im vorigen Jahrhundert auf eine Überschätzung der
Segnungen desselben eingeschworen ist. Aber es ist Chamberlain nicht gelungen,
seine Mitbürger hinzureißen; der englische Industriearbeiter, bzw. Wähler, will
sich nicht gefallen lassen, daß man ihm den Brotkorb nach seiner Ansicht höher
hängt; er will gut essen, mögen dafür diejenigen, die ihn regieren, schlecht
schlafen. Die Selbstsucht der in England rapide wachsenden Demokratie läßt
kaum die Möglichkeit einer Umkehr offen. Und das englische Volk, verwöhnt
durch die wirtschaftlichen Vorteile eines sechzigjährigen kaufmännischen Welt¬
bürgertums, scheint nicht mehr die Kraft und den Willen zu haben, die Lasten
einer unabhängigen Landespolitik und nationalen Selbstverteidigung auf sich
zu nehmen.

An unsere Erinnerung aber klopft leise jenes resignierte und gleichzeitig
prophetische Wort des Tacitus (Ost'maria 33): UrZentibu8 imporii latis niliil
jam pisestare Fortuna majus potest, quam Kostium cZisLvrciiam.




wirtschaftliche Rüstung

also als eine nüchterne Wahrheit hätte der Erste Lord der Admiralität aus¬
gesprochen, als er kürzlich sagte, die Kriegsflotte sei für England eine Not¬
wendigkeit, für Deutschland ein Luxus, wollten diese Worte ausschließlich vom
Standpunkt der Volksernährung, den: heutigen Angelpunkt englischer Politik,
verstanden sein.

England ist in einer Zeit, als es die einzige seebeherrschende Macht war,
vom Prohibitivsvstem (etwas wesentlich anderes war die seit 1828 geltende
„Gleitende Skala" nicht) fast unvermittelt (1846 bis 1849) zum Freihandel
übergegangen und hat alle Vorteile dieses Überganges genossen, bis neuerdings
andere Mächte unter kraftvollen, nationalen Regungen zu Weltmächten heran¬
gewachsen sind. Da nunmehr England einer Kombination mehrerer Mächte
nicht mehr unbedingt gewachsen ist, so muß es ein Zusammengehen z. B.
Deutschlands und Frankreichs unter allen Umständen zu verhindern suchen. Aus
der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Auslande ist damit bereits eine politische
geworden. Der hierin für das eigene Land liegenden Gefahr stehen Englands
einsichtige Kreise völlig offenen Auges gegenüber, aber mit dem Gefühl, daß
man nicht mehr zurück kann (Sir Edward Grey soll im vorigen Sommer direkt
auf Luthers „Ich kann nicht anders" hingewiesen haben). Joseph Chamberlain
hat um die Wende des Jahrhunderts mit ungeheurem Mut den Kampf gegen
die Volksstimmung aufgenommen, die seit den geschichtlich gewordenen Erfolgen
des englischen Freihandels im vorigen Jahrhundert auf eine Überschätzung der
Segnungen desselben eingeschworen ist. Aber es ist Chamberlain nicht gelungen,
seine Mitbürger hinzureißen; der englische Industriearbeiter, bzw. Wähler, will
sich nicht gefallen lassen, daß man ihm den Brotkorb nach seiner Ansicht höher
hängt; er will gut essen, mögen dafür diejenigen, die ihn regieren, schlecht
schlafen. Die Selbstsucht der in England rapide wachsenden Demokratie läßt
kaum die Möglichkeit einer Umkehr offen. Und das englische Volk, verwöhnt
durch die wirtschaftlichen Vorteile eines sechzigjährigen kaufmännischen Welt¬
bürgertums, scheint nicht mehr die Kraft und den Willen zu haben, die Lasten
einer unabhängigen Landespolitik und nationalen Selbstverteidigung auf sich
zu nehmen.

An unsere Erinnerung aber klopft leise jenes resignierte und gleichzeitig
prophetische Wort des Tacitus (Ost'maria 33): UrZentibu8 imporii latis niliil
jam pisestare Fortuna majus potest, quam Kostium cZisLvrciiam.




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[0290] wirtschaftliche Rüstung also als eine nüchterne Wahrheit hätte der Erste Lord der Admiralität aus¬ gesprochen, als er kürzlich sagte, die Kriegsflotte sei für England eine Not¬ wendigkeit, für Deutschland ein Luxus, wollten diese Worte ausschließlich vom Standpunkt der Volksernährung, den: heutigen Angelpunkt englischer Politik, verstanden sein. England ist in einer Zeit, als es die einzige seebeherrschende Macht war, vom Prohibitivsvstem (etwas wesentlich anderes war die seit 1828 geltende „Gleitende Skala" nicht) fast unvermittelt (1846 bis 1849) zum Freihandel übergegangen und hat alle Vorteile dieses Überganges genossen, bis neuerdings andere Mächte unter kraftvollen, nationalen Regungen zu Weltmächten heran¬ gewachsen sind. Da nunmehr England einer Kombination mehrerer Mächte nicht mehr unbedingt gewachsen ist, so muß es ein Zusammengehen z. B. Deutschlands und Frankreichs unter allen Umständen zu verhindern suchen. Aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Auslande ist damit bereits eine politische geworden. Der hierin für das eigene Land liegenden Gefahr stehen Englands einsichtige Kreise völlig offenen Auges gegenüber, aber mit dem Gefühl, daß man nicht mehr zurück kann (Sir Edward Grey soll im vorigen Sommer direkt auf Luthers „Ich kann nicht anders" hingewiesen haben). Joseph Chamberlain hat um die Wende des Jahrhunderts mit ungeheurem Mut den Kampf gegen die Volksstimmung aufgenommen, die seit den geschichtlich gewordenen Erfolgen des englischen Freihandels im vorigen Jahrhundert auf eine Überschätzung der Segnungen desselben eingeschworen ist. Aber es ist Chamberlain nicht gelungen, seine Mitbürger hinzureißen; der englische Industriearbeiter, bzw. Wähler, will sich nicht gefallen lassen, daß man ihm den Brotkorb nach seiner Ansicht höher hängt; er will gut essen, mögen dafür diejenigen, die ihn regieren, schlecht schlafen. Die Selbstsucht der in England rapide wachsenden Demokratie läßt kaum die Möglichkeit einer Umkehr offen. Und das englische Volk, verwöhnt durch die wirtschaftlichen Vorteile eines sechzigjährigen kaufmännischen Welt¬ bürgertums, scheint nicht mehr die Kraft und den Willen zu haben, die Lasten einer unabhängigen Landespolitik und nationalen Selbstverteidigung auf sich zu nehmen. An unsere Erinnerung aber klopft leise jenes resignierte und gleichzeitig prophetische Wort des Tacitus (Ost'maria 33): UrZentibu8 imporii latis niliil jam pisestare Fortuna majus potest, quam Kostium cZisLvrciiam.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/290>, abgerufen am 01.07.2024.