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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Wirtschaftliche Rüstung

Seiten offen steht, hat andrerseits den großen Vorzug, daß eine Absperrung
derartiger Zufuhren überhaupt kaum möglich ist. Wir grenzen an zwei offene
Meere und an nicht weniger als sieben ausländische Staaten. Schon jetzt im
Frieden gehen große Mengen von Futtergerste (übrigens auch von Weizen) aus
Südrußland und den Donauländern über ausländische, nämlich die nieder¬
ländischen Rheinhafen ein. Bei einer Blockierung unserer Seeküste würden
vielleicht auch noch die Häfen von Genua, Trieft und Libau eine Rolle spielen,
jedenfalls aber die ausgedehnten Landgrenzen vom Feinde nicht verschlossen
werden können. Auch können die genannten Futtermittel unmöglich als Kriegs¬
konterbande angesehen werden, soweit es sich nicht etwa um direktes Pferdefutter
handelt (Hafer, Heu). Endlich ist das liebe Vieh viel weniger verwöhnt als
der Mensch, und läßt sich eine Variation in der Futterart je nach der Konjunktur
der Einfuhrmöglichkeiten ganz gern gefallen. Hier sehen wir also keine bedroh¬
liche Abhängigkeit vom Auslande.

Schwieriger liegt die Sache schon beim Brodgetreide (Weizen, Roggen),
weil der Mensch desselben tagtäglich bedarf. Beim Weizen haben wir es mit
einem Einfuhrbedarf von etwa 30 Prozent zu tun; an Roggen haben wir seit
einigen Jahren nicht unerheblich ausgeführt; auch wurde Roggen früher in
erheblichen Mengen bei uns verfüttert und wird es in geringeren Mengen wohl
auch jetzt noch, sobald die Futtergerste im Preise steigt, wie seit Herbst 1911.
Man kann wohl also annehmen, daß unsere Ernte an Weizen und Roggen
zusammen unseren Brotbedarf zu etwa vier Fünfteln deckt, daß wir also jährlich
etwa 20 Prozent dieses Bedarfs einführen müssen. Dieses Verhältnis kann
immerhin noch als ein unbedenkliches gelten im Gegensatz zu England, dessen
Ernte statistisch einige Wochen seinen Bedarf decken mag, wo aber in der Praxis
eine fast tägliche Zufuhr notwendig zu sein scheint, da schon gelegentlich jedes
größeren Streiks Verpflegungsschwierigkeiten eintreten. Gerade der Umstand,
daß infolge unserer geographischen Lage wie unseres Einfuhrscheinsystems
Deutschland für einen großen Teil von Europa den Getreidedurchfuhr- und
Vermengungsverkehr sowie die Mutterei besorgt, bürgt uns dafür, daß auch im
Kriege das Getreide seine im Frieden gewohnten Bahnen nicht ganz verlassen
wird. Nicht nur an Roggen, sondern auch an Weizen haben wir ja ebensowohl
eine große Einfuhr wie Ausfuhr, und eben erst hat England nicht unerhebliche
Mengen deutschen Weizens bezogen, da infolge des Bergarbeiterstreiks und der
dadurch hervorgerufenen Kohlen- und Frachtverteuerung der Getreidezufluß aus
den fernen Überseeländern nach England stockte. Schließlich kommt beim
Getreidebedarf, im Gegensatz zum Fleischbedarf (siehe unten), aber ähnlich wie
bei den Futtermitteln, immer noch in Betracht, daß es sich um tote Ware handelt, die
dem Verderben nicht so leicht ausgesetzt ist, und die auch im Kriegsfalle von den ver¬
schiedensten Seiten und auf den mannigfachsten Wegen zu uns hereinkommen kann.

Wenn ein empfindlicher Punkt an unserer wirtschaftlichen Rüstung vorhanden
ist, so ist es unsere Fleischversorgung, von der zu sprechen nun noch erübrigt.


Wirtschaftliche Rüstung

Seiten offen steht, hat andrerseits den großen Vorzug, daß eine Absperrung
derartiger Zufuhren überhaupt kaum möglich ist. Wir grenzen an zwei offene
Meere und an nicht weniger als sieben ausländische Staaten. Schon jetzt im
Frieden gehen große Mengen von Futtergerste (übrigens auch von Weizen) aus
Südrußland und den Donauländern über ausländische, nämlich die nieder¬
ländischen Rheinhafen ein. Bei einer Blockierung unserer Seeküste würden
vielleicht auch noch die Häfen von Genua, Trieft und Libau eine Rolle spielen,
jedenfalls aber die ausgedehnten Landgrenzen vom Feinde nicht verschlossen
werden können. Auch können die genannten Futtermittel unmöglich als Kriegs¬
konterbande angesehen werden, soweit es sich nicht etwa um direktes Pferdefutter
handelt (Hafer, Heu). Endlich ist das liebe Vieh viel weniger verwöhnt als
der Mensch, und läßt sich eine Variation in der Futterart je nach der Konjunktur
der Einfuhrmöglichkeiten ganz gern gefallen. Hier sehen wir also keine bedroh¬
liche Abhängigkeit vom Auslande.

Schwieriger liegt die Sache schon beim Brodgetreide (Weizen, Roggen),
weil der Mensch desselben tagtäglich bedarf. Beim Weizen haben wir es mit
einem Einfuhrbedarf von etwa 30 Prozent zu tun; an Roggen haben wir seit
einigen Jahren nicht unerheblich ausgeführt; auch wurde Roggen früher in
erheblichen Mengen bei uns verfüttert und wird es in geringeren Mengen wohl
auch jetzt noch, sobald die Futtergerste im Preise steigt, wie seit Herbst 1911.
Man kann wohl also annehmen, daß unsere Ernte an Weizen und Roggen
zusammen unseren Brotbedarf zu etwa vier Fünfteln deckt, daß wir also jährlich
etwa 20 Prozent dieses Bedarfs einführen müssen. Dieses Verhältnis kann
immerhin noch als ein unbedenkliches gelten im Gegensatz zu England, dessen
Ernte statistisch einige Wochen seinen Bedarf decken mag, wo aber in der Praxis
eine fast tägliche Zufuhr notwendig zu sein scheint, da schon gelegentlich jedes
größeren Streiks Verpflegungsschwierigkeiten eintreten. Gerade der Umstand,
daß infolge unserer geographischen Lage wie unseres Einfuhrscheinsystems
Deutschland für einen großen Teil von Europa den Getreidedurchfuhr- und
Vermengungsverkehr sowie die Mutterei besorgt, bürgt uns dafür, daß auch im
Kriege das Getreide seine im Frieden gewohnten Bahnen nicht ganz verlassen
wird. Nicht nur an Roggen, sondern auch an Weizen haben wir ja ebensowohl
eine große Einfuhr wie Ausfuhr, und eben erst hat England nicht unerhebliche
Mengen deutschen Weizens bezogen, da infolge des Bergarbeiterstreiks und der
dadurch hervorgerufenen Kohlen- und Frachtverteuerung der Getreidezufluß aus
den fernen Überseeländern nach England stockte. Schließlich kommt beim
Getreidebedarf, im Gegensatz zum Fleischbedarf (siehe unten), aber ähnlich wie
bei den Futtermitteln, immer noch in Betracht, daß es sich um tote Ware handelt, die
dem Verderben nicht so leicht ausgesetzt ist, und die auch im Kriegsfalle von den ver¬
schiedensten Seiten und auf den mannigfachsten Wegen zu uns hereinkommen kann.

Wenn ein empfindlicher Punkt an unserer wirtschaftlichen Rüstung vorhanden
ist, so ist es unsere Fleischversorgung, von der zu sprechen nun noch erübrigt.


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[0287] Wirtschaftliche Rüstung Seiten offen steht, hat andrerseits den großen Vorzug, daß eine Absperrung derartiger Zufuhren überhaupt kaum möglich ist. Wir grenzen an zwei offene Meere und an nicht weniger als sieben ausländische Staaten. Schon jetzt im Frieden gehen große Mengen von Futtergerste (übrigens auch von Weizen) aus Südrußland und den Donauländern über ausländische, nämlich die nieder¬ ländischen Rheinhafen ein. Bei einer Blockierung unserer Seeküste würden vielleicht auch noch die Häfen von Genua, Trieft und Libau eine Rolle spielen, jedenfalls aber die ausgedehnten Landgrenzen vom Feinde nicht verschlossen werden können. Auch können die genannten Futtermittel unmöglich als Kriegs¬ konterbande angesehen werden, soweit es sich nicht etwa um direktes Pferdefutter handelt (Hafer, Heu). Endlich ist das liebe Vieh viel weniger verwöhnt als der Mensch, und läßt sich eine Variation in der Futterart je nach der Konjunktur der Einfuhrmöglichkeiten ganz gern gefallen. Hier sehen wir also keine bedroh¬ liche Abhängigkeit vom Auslande. Schwieriger liegt die Sache schon beim Brodgetreide (Weizen, Roggen), weil der Mensch desselben tagtäglich bedarf. Beim Weizen haben wir es mit einem Einfuhrbedarf von etwa 30 Prozent zu tun; an Roggen haben wir seit einigen Jahren nicht unerheblich ausgeführt; auch wurde Roggen früher in erheblichen Mengen bei uns verfüttert und wird es in geringeren Mengen wohl auch jetzt noch, sobald die Futtergerste im Preise steigt, wie seit Herbst 1911. Man kann wohl also annehmen, daß unsere Ernte an Weizen und Roggen zusammen unseren Brotbedarf zu etwa vier Fünfteln deckt, daß wir also jährlich etwa 20 Prozent dieses Bedarfs einführen müssen. Dieses Verhältnis kann immerhin noch als ein unbedenkliches gelten im Gegensatz zu England, dessen Ernte statistisch einige Wochen seinen Bedarf decken mag, wo aber in der Praxis eine fast tägliche Zufuhr notwendig zu sein scheint, da schon gelegentlich jedes größeren Streiks Verpflegungsschwierigkeiten eintreten. Gerade der Umstand, daß infolge unserer geographischen Lage wie unseres Einfuhrscheinsystems Deutschland für einen großen Teil von Europa den Getreidedurchfuhr- und Vermengungsverkehr sowie die Mutterei besorgt, bürgt uns dafür, daß auch im Kriege das Getreide seine im Frieden gewohnten Bahnen nicht ganz verlassen wird. Nicht nur an Roggen, sondern auch an Weizen haben wir ja ebensowohl eine große Einfuhr wie Ausfuhr, und eben erst hat England nicht unerhebliche Mengen deutschen Weizens bezogen, da infolge des Bergarbeiterstreiks und der dadurch hervorgerufenen Kohlen- und Frachtverteuerung der Getreidezufluß aus den fernen Überseeländern nach England stockte. Schließlich kommt beim Getreidebedarf, im Gegensatz zum Fleischbedarf (siehe unten), aber ähnlich wie bei den Futtermitteln, immer noch in Betracht, daß es sich um tote Ware handelt, die dem Verderben nicht so leicht ausgesetzt ist, und die auch im Kriegsfalle von den ver¬ schiedensten Seiten und auf den mannigfachsten Wegen zu uns hereinkommen kann. Wenn ein empfindlicher Punkt an unserer wirtschaftlichen Rüstung vorhanden ist, so ist es unsere Fleischversorgung, von der zu sprechen nun noch erübrigt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/287>, abgerufen am 25.08.2024.