Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Persönlichkeit und Sache in der Wissenschaft

Ausführbarkeit und die Art der Ausführung dieses Unternehmens verbreiteten.
Zumeist wurde verlangt, daß man keine Mühe und Kosten scheue, um ein so
großes Werk zustande zu bringen. Es liegt mir nun fern, die in den Zeitungen
lagernden Werte für das Studium des politischen, sozialen, kulturellen Lebens
einer Zeit gering zu schätzen. Aber mir scheint, auch hier ist die richtige
Abschätzung des Gewonnenen gegenüber der aufzuwendenden Mühe und Kostenlast
vielfach zu vermissen. Ich möchte den Freunden des Planes ein Wort entgegen¬
halten, das der unvergeßliche Friedrich Paulsen uns in seiner Pädagogik, seinem
literarischen Testamente, hinterlassen hat: "Im Grunde kann die Aufgabe der
Geschichte doch nicht sein, alles zu behalten, sondern richtig auszusieben und zu
vergessen. Alles behalten ist ja eine unmögliche Aufgabe; man denke, alles was
die Zeitungen über die Handelsverträge berichten und urteilen oder über das
Verhältnis Deutschlands zu England! Bei unserer gegenwärtigen Geschichts¬
forschung kann einem tatsächlich manchmal um Kopf und Busen bang werden:
es scheint wirklich so, als ob wir alles behalten wollten. Was soll werden,
wenn es fünfhundert Jahre so weiter geht, wenn alle Zeitungen, Protokolle,
alle Archive aller Behörden, alle Parlamentsberichte, von den Briefen, Memoiren
und privaten Aufzeichnungen gar nicht zu reden, aufgehoben, gesammelt und
am Ende auch noch kritisch edlere und bearbeitet werden? Die Folge müßte
dann wohl sein, daß spätere Zeitalter niemals dazu kämen, sich mit sich selbst
und ihren Aufgaben zu beschäftigen, aus Angst, etwas von dem, was früher
geschehen ist, zu vergessen." Das ist im Sinne vieler moderner Historiker eine
Ketzerei, aber hat nicht dieser Ketzer am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, wenn man
in die Gefahr gerät, in der Masse des Stoffes unterzugehen? (Man vergleiche das
Vorwort zur zweiten Auslage von Paniscus "Geschichte des gelehrten Unterrichts").

Freilich, der Deutsche ist gründlich und in seiner Gründlichkeit radikal.
Sammelt man also überhaupt Zeitungen, so muß man sie alle sammeln, denn
nur so ist ein objektives Bild der gesamten in der Presse niedergelegten Geistes¬
arbeit zu gewinnen, jede Auswahl wäre eine Willkür. Das Objekt ist da, das
Subjekt beugt sich ihm.

Und das Bestreben, alle Lebensäußerungen des Menschen, auch die äußer¬
lichsten, die Schale des Lebens, zum ehrfurchtwürdigen Objekt zu machen, tritt überall
hervor, neuerdings zum Beispiel in dem Vorschlag, ein Phonogrammarchiv
für Vortragskunst zu gründen, um auch den Klang der verhallten Stimme
zu bewahren. Selten hat sich die Mumienhaftigkeit mancher "wissenschaft¬
lichen" Bestrebungen von heute so offen gezeigt. Laßt den Faustmonolog. die
Antoniusrede in euren Herzen wirken, und ihr braucht keine Walze mit Kainzens
oder Matkowskus Stimme; lest Bismarcks Reden mit feuriger Seele, und sie
wecken stärkeres Leben, als wenn ihr sie maschinell ableiern könntet. Was ist
denn das lebendige Wort? Der Schall oder der Sinn?

In der Frage der Zeitungserhaltung aber liegt das Verfahren, das Nutzen,
bringt, ohne die Aussicht auf Bahnhofshallen voller Zeitungsbände zu eröffnen


Persönlichkeit und Sache in der Wissenschaft

Ausführbarkeit und die Art der Ausführung dieses Unternehmens verbreiteten.
Zumeist wurde verlangt, daß man keine Mühe und Kosten scheue, um ein so
großes Werk zustande zu bringen. Es liegt mir nun fern, die in den Zeitungen
lagernden Werte für das Studium des politischen, sozialen, kulturellen Lebens
einer Zeit gering zu schätzen. Aber mir scheint, auch hier ist die richtige
Abschätzung des Gewonnenen gegenüber der aufzuwendenden Mühe und Kostenlast
vielfach zu vermissen. Ich möchte den Freunden des Planes ein Wort entgegen¬
halten, das der unvergeßliche Friedrich Paulsen uns in seiner Pädagogik, seinem
literarischen Testamente, hinterlassen hat: „Im Grunde kann die Aufgabe der
Geschichte doch nicht sein, alles zu behalten, sondern richtig auszusieben und zu
vergessen. Alles behalten ist ja eine unmögliche Aufgabe; man denke, alles was
die Zeitungen über die Handelsverträge berichten und urteilen oder über das
Verhältnis Deutschlands zu England! Bei unserer gegenwärtigen Geschichts¬
forschung kann einem tatsächlich manchmal um Kopf und Busen bang werden:
es scheint wirklich so, als ob wir alles behalten wollten. Was soll werden,
wenn es fünfhundert Jahre so weiter geht, wenn alle Zeitungen, Protokolle,
alle Archive aller Behörden, alle Parlamentsberichte, von den Briefen, Memoiren
und privaten Aufzeichnungen gar nicht zu reden, aufgehoben, gesammelt und
am Ende auch noch kritisch edlere und bearbeitet werden? Die Folge müßte
dann wohl sein, daß spätere Zeitalter niemals dazu kämen, sich mit sich selbst
und ihren Aufgaben zu beschäftigen, aus Angst, etwas von dem, was früher
geschehen ist, zu vergessen." Das ist im Sinne vieler moderner Historiker eine
Ketzerei, aber hat nicht dieser Ketzer am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, wenn man
in die Gefahr gerät, in der Masse des Stoffes unterzugehen? (Man vergleiche das
Vorwort zur zweiten Auslage von Paniscus „Geschichte des gelehrten Unterrichts").

Freilich, der Deutsche ist gründlich und in seiner Gründlichkeit radikal.
Sammelt man also überhaupt Zeitungen, so muß man sie alle sammeln, denn
nur so ist ein objektives Bild der gesamten in der Presse niedergelegten Geistes¬
arbeit zu gewinnen, jede Auswahl wäre eine Willkür. Das Objekt ist da, das
Subjekt beugt sich ihm.

Und das Bestreben, alle Lebensäußerungen des Menschen, auch die äußer¬
lichsten, die Schale des Lebens, zum ehrfurchtwürdigen Objekt zu machen, tritt überall
hervor, neuerdings zum Beispiel in dem Vorschlag, ein Phonogrammarchiv
für Vortragskunst zu gründen, um auch den Klang der verhallten Stimme
zu bewahren. Selten hat sich die Mumienhaftigkeit mancher „wissenschaft¬
lichen" Bestrebungen von heute so offen gezeigt. Laßt den Faustmonolog. die
Antoniusrede in euren Herzen wirken, und ihr braucht keine Walze mit Kainzens
oder Matkowskus Stimme; lest Bismarcks Reden mit feuriger Seele, und sie
wecken stärkeres Leben, als wenn ihr sie maschinell ableiern könntet. Was ist
denn das lebendige Wort? Der Schall oder der Sinn?

In der Frage der Zeitungserhaltung aber liegt das Verfahren, das Nutzen,
bringt, ohne die Aussicht auf Bahnhofshallen voller Zeitungsbände zu eröffnen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0025" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321108"/>
          <fw type="header" place="top"> Persönlichkeit und Sache in der Wissenschaft</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_37" prev="#ID_36"> Ausführbarkeit und die Art der Ausführung dieses Unternehmens verbreiteten.<lb/>
Zumeist wurde verlangt, daß man keine Mühe und Kosten scheue, um ein so<lb/>
großes Werk zustande zu bringen. Es liegt mir nun fern, die in den Zeitungen<lb/>
lagernden Werte für das Studium des politischen, sozialen, kulturellen Lebens<lb/>
einer Zeit gering zu schätzen. Aber mir scheint, auch hier ist die richtige<lb/>
Abschätzung des Gewonnenen gegenüber der aufzuwendenden Mühe und Kostenlast<lb/>
vielfach zu vermissen. Ich möchte den Freunden des Planes ein Wort entgegen¬<lb/>
halten, das der unvergeßliche Friedrich Paulsen uns in seiner Pädagogik, seinem<lb/>
literarischen Testamente, hinterlassen hat: &#x201E;Im Grunde kann die Aufgabe der<lb/>
Geschichte doch nicht sein, alles zu behalten, sondern richtig auszusieben und zu<lb/>
vergessen. Alles behalten ist ja eine unmögliche Aufgabe; man denke, alles was<lb/>
die Zeitungen über die Handelsverträge berichten und urteilen oder über das<lb/>
Verhältnis Deutschlands zu England! Bei unserer gegenwärtigen Geschichts¬<lb/>
forschung kann einem tatsächlich manchmal um Kopf und Busen bang werden:<lb/>
es scheint wirklich so, als ob wir alles behalten wollten. Was soll werden,<lb/>
wenn es fünfhundert Jahre so weiter geht, wenn alle Zeitungen, Protokolle,<lb/>
alle Archive aller Behörden, alle Parlamentsberichte, von den Briefen, Memoiren<lb/>
und privaten Aufzeichnungen gar nicht zu reden, aufgehoben, gesammelt und<lb/>
am Ende auch noch kritisch edlere und bearbeitet werden? Die Folge müßte<lb/>
dann wohl sein, daß spätere Zeitalter niemals dazu kämen, sich mit sich selbst<lb/>
und ihren Aufgaben zu beschäftigen, aus Angst, etwas von dem, was früher<lb/>
geschehen ist, zu vergessen." Das ist im Sinne vieler moderner Historiker eine<lb/>
Ketzerei, aber hat nicht dieser Ketzer am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, wenn man<lb/>
in die Gefahr gerät, in der Masse des Stoffes unterzugehen? (Man vergleiche das<lb/>
Vorwort zur zweiten Auslage von Paniscus &#x201E;Geschichte des gelehrten Unterrichts").</p><lb/>
          <p xml:id="ID_38"> Freilich, der Deutsche ist gründlich und in seiner Gründlichkeit radikal.<lb/>
Sammelt man also überhaupt Zeitungen, so muß man sie alle sammeln, denn<lb/>
nur so ist ein objektives Bild der gesamten in der Presse niedergelegten Geistes¬<lb/>
arbeit zu gewinnen, jede Auswahl wäre eine Willkür. Das Objekt ist da, das<lb/>
Subjekt beugt sich ihm.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_39"> Und das Bestreben, alle Lebensäußerungen des Menschen, auch die äußer¬<lb/>
lichsten, die Schale des Lebens, zum ehrfurchtwürdigen Objekt zu machen, tritt überall<lb/>
hervor, neuerdings zum Beispiel in dem Vorschlag, ein Phonogrammarchiv<lb/>
für Vortragskunst zu gründen, um auch den Klang der verhallten Stimme<lb/>
zu bewahren. Selten hat sich die Mumienhaftigkeit mancher &#x201E;wissenschaft¬<lb/>
lichen" Bestrebungen von heute so offen gezeigt. Laßt den Faustmonolog. die<lb/>
Antoniusrede in euren Herzen wirken, und ihr braucht keine Walze mit Kainzens<lb/>
oder Matkowskus Stimme; lest Bismarcks Reden mit feuriger Seele, und sie<lb/>
wecken stärkeres Leben, als wenn ihr sie maschinell ableiern könntet. Was ist<lb/>
denn das lebendige Wort? Der Schall oder der Sinn?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_40" next="#ID_41"> In der Frage der Zeitungserhaltung aber liegt das Verfahren, das Nutzen,<lb/>
bringt, ohne die Aussicht auf Bahnhofshallen voller Zeitungsbände zu eröffnen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0025] Persönlichkeit und Sache in der Wissenschaft Ausführbarkeit und die Art der Ausführung dieses Unternehmens verbreiteten. Zumeist wurde verlangt, daß man keine Mühe und Kosten scheue, um ein so großes Werk zustande zu bringen. Es liegt mir nun fern, die in den Zeitungen lagernden Werte für das Studium des politischen, sozialen, kulturellen Lebens einer Zeit gering zu schätzen. Aber mir scheint, auch hier ist die richtige Abschätzung des Gewonnenen gegenüber der aufzuwendenden Mühe und Kostenlast vielfach zu vermissen. Ich möchte den Freunden des Planes ein Wort entgegen¬ halten, das der unvergeßliche Friedrich Paulsen uns in seiner Pädagogik, seinem literarischen Testamente, hinterlassen hat: „Im Grunde kann die Aufgabe der Geschichte doch nicht sein, alles zu behalten, sondern richtig auszusieben und zu vergessen. Alles behalten ist ja eine unmögliche Aufgabe; man denke, alles was die Zeitungen über die Handelsverträge berichten und urteilen oder über das Verhältnis Deutschlands zu England! Bei unserer gegenwärtigen Geschichts¬ forschung kann einem tatsächlich manchmal um Kopf und Busen bang werden: es scheint wirklich so, als ob wir alles behalten wollten. Was soll werden, wenn es fünfhundert Jahre so weiter geht, wenn alle Zeitungen, Protokolle, alle Archive aller Behörden, alle Parlamentsberichte, von den Briefen, Memoiren und privaten Aufzeichnungen gar nicht zu reden, aufgehoben, gesammelt und am Ende auch noch kritisch edlere und bearbeitet werden? Die Folge müßte dann wohl sein, daß spätere Zeitalter niemals dazu kämen, sich mit sich selbst und ihren Aufgaben zu beschäftigen, aus Angst, etwas von dem, was früher geschehen ist, zu vergessen." Das ist im Sinne vieler moderner Historiker eine Ketzerei, aber hat nicht dieser Ketzer am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, wenn man in die Gefahr gerät, in der Masse des Stoffes unterzugehen? (Man vergleiche das Vorwort zur zweiten Auslage von Paniscus „Geschichte des gelehrten Unterrichts"). Freilich, der Deutsche ist gründlich und in seiner Gründlichkeit radikal. Sammelt man also überhaupt Zeitungen, so muß man sie alle sammeln, denn nur so ist ein objektives Bild der gesamten in der Presse niedergelegten Geistes¬ arbeit zu gewinnen, jede Auswahl wäre eine Willkür. Das Objekt ist da, das Subjekt beugt sich ihm. Und das Bestreben, alle Lebensäußerungen des Menschen, auch die äußer¬ lichsten, die Schale des Lebens, zum ehrfurchtwürdigen Objekt zu machen, tritt überall hervor, neuerdings zum Beispiel in dem Vorschlag, ein Phonogrammarchiv für Vortragskunst zu gründen, um auch den Klang der verhallten Stimme zu bewahren. Selten hat sich die Mumienhaftigkeit mancher „wissenschaft¬ lichen" Bestrebungen von heute so offen gezeigt. Laßt den Faustmonolog. die Antoniusrede in euren Herzen wirken, und ihr braucht keine Walze mit Kainzens oder Matkowskus Stimme; lest Bismarcks Reden mit feuriger Seele, und sie wecken stärkeres Leben, als wenn ihr sie maschinell ableiern könntet. Was ist denn das lebendige Wort? Der Schall oder der Sinn? In der Frage der Zeitungserhaltung aber liegt das Verfahren, das Nutzen, bringt, ohne die Aussicht auf Bahnhofshallen voller Zeitungsbände zu eröffnen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/25
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/25>, abgerufen am 26.06.2024.