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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Förderung des ^andiverls auf Kosten der Industrie?

sich, daß zwar zahlreiche Klagen über die schlechte Ausbildung der Handwerks¬
lehrlinge erhoben werden, daß aber hinsichtlich der Ausbildung der Lehrlinge
in den Fabriken, wenn auch die Urteile ungleich sind und sich vielfach wider¬
sprechen, so doch im allgemeinen anerkannt wird, daß die Industrie sich in
großem Umfange der Heranziehung von Lehrlingen befleißigt und die genossene
Ausbildung eine gute ist. Dieser Meinung schließt sich im wesentlichen
und zwar unter ausführlicher Darlegung der Verhältnisse die Denkschrift der
Zentralstelle sür Volkswohlfahrt über das Lehrlingswesen und die Berufs¬
erziehung des gewerblichen Nachwuchses an. Es ist auch empfohlen worden,
eine Lösung der Streitfrage, ob die Ausbildung der Lehrlinge im Handwerk
oder in der Fabrik die bessere ist, dadurch herbeizuführen, daß durch eine Zusammen¬
stellung der Ergebnisse der Gesellenprüfungen festgestellt wird, wie sich das
Verhältnis der Lehrlinge aus industriellen Betrieben, die sich mit Erfolg der
Gesellenprüfung unterzogen haben, zu demjenigen der Lehrlinge aus dem Hand¬
werkerstande verhält. Ob indessen hierdurch eine einwandfreie Klärung der
Frage herbeigeführt werden würde, mag berechtigten Zweifeln unterliegen. Denn
wenn auch nach den Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung die Fabrikleiter
darauf halten sollen, daß die in ihren Betrieben beschäftigten Lehrlinge sich der
Gesellenprüfung unterziehen und dies durchaus im Interesse der letzteren liegt,
weil nur die bestandene Gesellenprüfung das Recht zum Anteilen von Lehrlingen
verleiht, so besteht doch bei den Handwerkskammern darüber Uneinigkeit, ob sie
berechtigt und befugt sind, durch ihre Prüfungsausschüsse Fabriklehrlinge prüfen
zu lassen. Wie das Ergebnis einer im Deutschen Handwerksblntt (Heft 4 vom
15. Januar 1911) veröffentlichten Rundfrage vom 22. Juli 1910 ausgewiesen
hat, steht ein großer Teil der Handwerkskammern auf dem Standpunkte, daß
sie solche Prüfungen nicht vornehmen dürfen und daß sie daher zur Ablehnung
entsprechender Anträge gezwungen sind.

Ein erheblicher Teil der Fabriklehrlinge ist somit gar nicht in der Lage, sich
zur Gesellenprüfung zu melden, während anderseits doch wohl kaum bestritten
werden kann, daß eine große Zahl dieser Fabriklehrlinge, obgleich sie die Gesellen¬
prüfung nicht abgelegt haben, mindestens ebenso gut ausgebildet ist wie regel¬
rechte Handwerksgesellen. Ob überhaupt die Prüfungsausschüsse der Handwerks¬
kammern überall befähigt sind, in dieser Hinsicht ein sachverständiges Urteil
abzugeben, dürste sehr fraglich sein.

Ganz besonders muß aber die Industrie Verwahrung einlegen gegen die
immer von neuem wiederholte Behauptung, daß das Handwerk die Kosten der
Lehrlingsausbildung allein und der Hauptsache nach zu gunsten der Industrie
trage. Wenn auch die letztere eine erhebliche Zahl von Arbeitern, die aus
dem Handwerke kommen, in den Fabriken verwendet, so leistet sie dafür doch
zu den öffentlichen Mitteln, aus denen zum Teil --- wie in Baden, Bayern
und den Hansestädten -- die Handwerkskammern erhalten werden, in Form
von Steuern einen sehr erheblichen und jedenfalls einen größeren Anteil als


Grenzboten II 1912 2L
Förderung des ^andiverls auf Kosten der Industrie?

sich, daß zwar zahlreiche Klagen über die schlechte Ausbildung der Handwerks¬
lehrlinge erhoben werden, daß aber hinsichtlich der Ausbildung der Lehrlinge
in den Fabriken, wenn auch die Urteile ungleich sind und sich vielfach wider¬
sprechen, so doch im allgemeinen anerkannt wird, daß die Industrie sich in
großem Umfange der Heranziehung von Lehrlingen befleißigt und die genossene
Ausbildung eine gute ist. Dieser Meinung schließt sich im wesentlichen
und zwar unter ausführlicher Darlegung der Verhältnisse die Denkschrift der
Zentralstelle sür Volkswohlfahrt über das Lehrlingswesen und die Berufs¬
erziehung des gewerblichen Nachwuchses an. Es ist auch empfohlen worden,
eine Lösung der Streitfrage, ob die Ausbildung der Lehrlinge im Handwerk
oder in der Fabrik die bessere ist, dadurch herbeizuführen, daß durch eine Zusammen¬
stellung der Ergebnisse der Gesellenprüfungen festgestellt wird, wie sich das
Verhältnis der Lehrlinge aus industriellen Betrieben, die sich mit Erfolg der
Gesellenprüfung unterzogen haben, zu demjenigen der Lehrlinge aus dem Hand¬
werkerstande verhält. Ob indessen hierdurch eine einwandfreie Klärung der
Frage herbeigeführt werden würde, mag berechtigten Zweifeln unterliegen. Denn
wenn auch nach den Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung die Fabrikleiter
darauf halten sollen, daß die in ihren Betrieben beschäftigten Lehrlinge sich der
Gesellenprüfung unterziehen und dies durchaus im Interesse der letzteren liegt,
weil nur die bestandene Gesellenprüfung das Recht zum Anteilen von Lehrlingen
verleiht, so besteht doch bei den Handwerkskammern darüber Uneinigkeit, ob sie
berechtigt und befugt sind, durch ihre Prüfungsausschüsse Fabriklehrlinge prüfen
zu lassen. Wie das Ergebnis einer im Deutschen Handwerksblntt (Heft 4 vom
15. Januar 1911) veröffentlichten Rundfrage vom 22. Juli 1910 ausgewiesen
hat, steht ein großer Teil der Handwerkskammern auf dem Standpunkte, daß
sie solche Prüfungen nicht vornehmen dürfen und daß sie daher zur Ablehnung
entsprechender Anträge gezwungen sind.

Ein erheblicher Teil der Fabriklehrlinge ist somit gar nicht in der Lage, sich
zur Gesellenprüfung zu melden, während anderseits doch wohl kaum bestritten
werden kann, daß eine große Zahl dieser Fabriklehrlinge, obgleich sie die Gesellen¬
prüfung nicht abgelegt haben, mindestens ebenso gut ausgebildet ist wie regel¬
rechte Handwerksgesellen. Ob überhaupt die Prüfungsausschüsse der Handwerks¬
kammern überall befähigt sind, in dieser Hinsicht ein sachverständiges Urteil
abzugeben, dürste sehr fraglich sein.

Ganz besonders muß aber die Industrie Verwahrung einlegen gegen die
immer von neuem wiederholte Behauptung, daß das Handwerk die Kosten der
Lehrlingsausbildung allein und der Hauptsache nach zu gunsten der Industrie
trage. Wenn auch die letztere eine erhebliche Zahl von Arbeitern, die aus
dem Handwerke kommen, in den Fabriken verwendet, so leistet sie dafür doch
zu den öffentlichen Mitteln, aus denen zum Teil —- wie in Baden, Bayern
und den Hansestädten — die Handwerkskammern erhalten werden, in Form
von Steuern einen sehr erheblichen und jedenfalls einen größeren Anteil als


Grenzboten II 1912 2L
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[0229] Förderung des ^andiverls auf Kosten der Industrie? sich, daß zwar zahlreiche Klagen über die schlechte Ausbildung der Handwerks¬ lehrlinge erhoben werden, daß aber hinsichtlich der Ausbildung der Lehrlinge in den Fabriken, wenn auch die Urteile ungleich sind und sich vielfach wider¬ sprechen, so doch im allgemeinen anerkannt wird, daß die Industrie sich in großem Umfange der Heranziehung von Lehrlingen befleißigt und die genossene Ausbildung eine gute ist. Dieser Meinung schließt sich im wesentlichen und zwar unter ausführlicher Darlegung der Verhältnisse die Denkschrift der Zentralstelle sür Volkswohlfahrt über das Lehrlingswesen und die Berufs¬ erziehung des gewerblichen Nachwuchses an. Es ist auch empfohlen worden, eine Lösung der Streitfrage, ob die Ausbildung der Lehrlinge im Handwerk oder in der Fabrik die bessere ist, dadurch herbeizuführen, daß durch eine Zusammen¬ stellung der Ergebnisse der Gesellenprüfungen festgestellt wird, wie sich das Verhältnis der Lehrlinge aus industriellen Betrieben, die sich mit Erfolg der Gesellenprüfung unterzogen haben, zu demjenigen der Lehrlinge aus dem Hand¬ werkerstande verhält. Ob indessen hierdurch eine einwandfreie Klärung der Frage herbeigeführt werden würde, mag berechtigten Zweifeln unterliegen. Denn wenn auch nach den Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung die Fabrikleiter darauf halten sollen, daß die in ihren Betrieben beschäftigten Lehrlinge sich der Gesellenprüfung unterziehen und dies durchaus im Interesse der letzteren liegt, weil nur die bestandene Gesellenprüfung das Recht zum Anteilen von Lehrlingen verleiht, so besteht doch bei den Handwerkskammern darüber Uneinigkeit, ob sie berechtigt und befugt sind, durch ihre Prüfungsausschüsse Fabriklehrlinge prüfen zu lassen. Wie das Ergebnis einer im Deutschen Handwerksblntt (Heft 4 vom 15. Januar 1911) veröffentlichten Rundfrage vom 22. Juli 1910 ausgewiesen hat, steht ein großer Teil der Handwerkskammern auf dem Standpunkte, daß sie solche Prüfungen nicht vornehmen dürfen und daß sie daher zur Ablehnung entsprechender Anträge gezwungen sind. Ein erheblicher Teil der Fabriklehrlinge ist somit gar nicht in der Lage, sich zur Gesellenprüfung zu melden, während anderseits doch wohl kaum bestritten werden kann, daß eine große Zahl dieser Fabriklehrlinge, obgleich sie die Gesellen¬ prüfung nicht abgelegt haben, mindestens ebenso gut ausgebildet ist wie regel¬ rechte Handwerksgesellen. Ob überhaupt die Prüfungsausschüsse der Handwerks¬ kammern überall befähigt sind, in dieser Hinsicht ein sachverständiges Urteil abzugeben, dürste sehr fraglich sein. Ganz besonders muß aber die Industrie Verwahrung einlegen gegen die immer von neuem wiederholte Behauptung, daß das Handwerk die Kosten der Lehrlingsausbildung allein und der Hauptsache nach zu gunsten der Industrie trage. Wenn auch die letztere eine erhebliche Zahl von Arbeitern, die aus dem Handwerke kommen, in den Fabriken verwendet, so leistet sie dafür doch zu den öffentlichen Mitteln, aus denen zum Teil —- wie in Baden, Bayern und den Hansestädten — die Handwerkskammern erhalten werden, in Form von Steuern einen sehr erheblichen und jedenfalls einen größeren Anteil als Grenzboten II 1912 2L

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/229>, abgerufen am 03.07.2024.