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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Ignaz Kuranda in seiner politischen Wirksamkeit

mit der mächtigen Nase in der Karikatur der Wiener Witzblätter einen breiten
Raum einnahm, ist nur ein Beweis seiner Bedeutung. In all den Wirrnissen
und Verwicklungen, den nationalen Kämpfen, den staatsrechtlichen Experimenten
und gründlichen Umgestaltungen, die Österreichs innere Geschichte seit dem
Revolutionsjahrc zum guten Teile ausmachen, war Ignaz Kuranda alt geworden.
Er hatte den Höhepunkt seiner politischen Wirksamkeit lange überschritten, als
er gemeinsam mit Herbst, Giskra, Demel, Kellersperg gegen Andrassys Orient¬
politik scharfe Opposition machte. Nur einige jüngere aufstrebende Kräfte seiner
Partei, Pierer junior, Coronini, Walterskirchen, Ausspitz, Sueß, bildeten die
"böhmische Linke" in den Delegationen. Die alte Garde der Verfassnngspartei
aber verharrte mit Herbst auf dem Standpunkte, daß das europäische Mandat
zur Okkupation Bosniens ein gefährliches Präjudiz sei in einem Staate, der
wie Österreich auf dem historischen Recht beruhe. Sie verweigerten dem Grafen
Andrassv den Sechzig - Millionenkredit, den er vorerst für noch unbenannte
Zwecke im Mürz 1878 verlangt hatte; sie stemmten sich gegen die Okkupation,
die sie nicht verhindern konnten. Mag man der liberalen deutschen Linken, die
sich bald darauf, zum Teil durch ihre eigene Schuld, von der leitenden Rolle
in Cisleithanien verdrängt sah, auch in dieser Frage der äußeren Politik vor¬
werfen, daß sie ihre Zeit nicht verstand! man hat kein Recht anzunehmen, daß
Kuranda auch in dieser Sache anders gesprochen und gestimmt hat, als seine
Überzeugung ihm gebot.

Durch viele Jahre hat er dem Wiener Gemeinderat angehört, zu einer
Zeit, da dieser Stadtvertretung nach dem Falle der alten Befestigungswerke
große Aufgaben zufielen. Die Großkommune, in der damals der Rassenhaß
noch keinen Boden gefunden hatte, zeichnete ihn anläßlich seines siebzigsten
Geburtstages durch das Ehrenbürgerrecht ans. In weiten Kreisen genoß der
rechtschaffene, geradsinnige Mann, der fremdes Verdienst so gern anerkannte und
der anch in den Zeiten des berüchtigten "volkswirtschaftlichen Aufschwungs"
seine Hände rein erhalten hatte, Liebe und Achtung. Eduard Herbst, selbst ein
Träger der lautersten öffentlichen Moral, feierte in Kuranda den alten Kampf¬
genossen, der unter allen Umständen jene Grundsätze hochgehalten habe, zu deren
Festigung in der Bevölkerung Österreichs er vielleicht mehr als irgendein anderer
beigetragen hatte.

Kuranda, der schon seit einiger Zeit an einen: Herz- und asthmatischen
Leiden erkrankt war, nahm am 14. März 188t noch an einer Sitzung der
Nordbahndirektion teil und erschien an diesem Tage auch im Abgeordnetenhause.
Tags darauf warf ihn ein schwerer Anfall seines Leidens nieder. Am 29. März
verlor er das Bewußtsein, das von da ab nur auf kurze Zeit zurückkehrte.
Den nomo pe>knien8 verfolgten die öffentlichen Angelegenheiten in seine
Delirien. Er hielt Reden, stellte Anträge, nannte die Namen von Deputierten,
verlangte aufzustehen, um sich ins Parlament zu begeben. Von seiner Familie
umgeben, endete er am 4. April 1884, halb vier Uhr nachmittag.


Ignaz Kuranda in seiner politischen Wirksamkeit

mit der mächtigen Nase in der Karikatur der Wiener Witzblätter einen breiten
Raum einnahm, ist nur ein Beweis seiner Bedeutung. In all den Wirrnissen
und Verwicklungen, den nationalen Kämpfen, den staatsrechtlichen Experimenten
und gründlichen Umgestaltungen, die Österreichs innere Geschichte seit dem
Revolutionsjahrc zum guten Teile ausmachen, war Ignaz Kuranda alt geworden.
Er hatte den Höhepunkt seiner politischen Wirksamkeit lange überschritten, als
er gemeinsam mit Herbst, Giskra, Demel, Kellersperg gegen Andrassys Orient¬
politik scharfe Opposition machte. Nur einige jüngere aufstrebende Kräfte seiner
Partei, Pierer junior, Coronini, Walterskirchen, Ausspitz, Sueß, bildeten die
„böhmische Linke" in den Delegationen. Die alte Garde der Verfassnngspartei
aber verharrte mit Herbst auf dem Standpunkte, daß das europäische Mandat
zur Okkupation Bosniens ein gefährliches Präjudiz sei in einem Staate, der
wie Österreich auf dem historischen Recht beruhe. Sie verweigerten dem Grafen
Andrassv den Sechzig - Millionenkredit, den er vorerst für noch unbenannte
Zwecke im Mürz 1878 verlangt hatte; sie stemmten sich gegen die Okkupation,
die sie nicht verhindern konnten. Mag man der liberalen deutschen Linken, die
sich bald darauf, zum Teil durch ihre eigene Schuld, von der leitenden Rolle
in Cisleithanien verdrängt sah, auch in dieser Frage der äußeren Politik vor¬
werfen, daß sie ihre Zeit nicht verstand! man hat kein Recht anzunehmen, daß
Kuranda auch in dieser Sache anders gesprochen und gestimmt hat, als seine
Überzeugung ihm gebot.

Durch viele Jahre hat er dem Wiener Gemeinderat angehört, zu einer
Zeit, da dieser Stadtvertretung nach dem Falle der alten Befestigungswerke
große Aufgaben zufielen. Die Großkommune, in der damals der Rassenhaß
noch keinen Boden gefunden hatte, zeichnete ihn anläßlich seines siebzigsten
Geburtstages durch das Ehrenbürgerrecht ans. In weiten Kreisen genoß der
rechtschaffene, geradsinnige Mann, der fremdes Verdienst so gern anerkannte und
der anch in den Zeiten des berüchtigten „volkswirtschaftlichen Aufschwungs"
seine Hände rein erhalten hatte, Liebe und Achtung. Eduard Herbst, selbst ein
Träger der lautersten öffentlichen Moral, feierte in Kuranda den alten Kampf¬
genossen, der unter allen Umständen jene Grundsätze hochgehalten habe, zu deren
Festigung in der Bevölkerung Österreichs er vielleicht mehr als irgendein anderer
beigetragen hatte.

Kuranda, der schon seit einiger Zeit an einen: Herz- und asthmatischen
Leiden erkrankt war, nahm am 14. März 188t noch an einer Sitzung der
Nordbahndirektion teil und erschien an diesem Tage auch im Abgeordnetenhause.
Tags darauf warf ihn ein schwerer Anfall seines Leidens nieder. Am 29. März
verlor er das Bewußtsein, das von da ab nur auf kurze Zeit zurückkehrte.
Den nomo pe>knien8 verfolgten die öffentlichen Angelegenheiten in seine
Delirien. Er hielt Reden, stellte Anträge, nannte die Namen von Deputierten,
verlangte aufzustehen, um sich ins Parlament zu begeben. Von seiner Familie
umgeben, endete er am 4. April 1884, halb vier Uhr nachmittag.


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[0218] Ignaz Kuranda in seiner politischen Wirksamkeit mit der mächtigen Nase in der Karikatur der Wiener Witzblätter einen breiten Raum einnahm, ist nur ein Beweis seiner Bedeutung. In all den Wirrnissen und Verwicklungen, den nationalen Kämpfen, den staatsrechtlichen Experimenten und gründlichen Umgestaltungen, die Österreichs innere Geschichte seit dem Revolutionsjahrc zum guten Teile ausmachen, war Ignaz Kuranda alt geworden. Er hatte den Höhepunkt seiner politischen Wirksamkeit lange überschritten, als er gemeinsam mit Herbst, Giskra, Demel, Kellersperg gegen Andrassys Orient¬ politik scharfe Opposition machte. Nur einige jüngere aufstrebende Kräfte seiner Partei, Pierer junior, Coronini, Walterskirchen, Ausspitz, Sueß, bildeten die „böhmische Linke" in den Delegationen. Die alte Garde der Verfassnngspartei aber verharrte mit Herbst auf dem Standpunkte, daß das europäische Mandat zur Okkupation Bosniens ein gefährliches Präjudiz sei in einem Staate, der wie Österreich auf dem historischen Recht beruhe. Sie verweigerten dem Grafen Andrassv den Sechzig - Millionenkredit, den er vorerst für noch unbenannte Zwecke im Mürz 1878 verlangt hatte; sie stemmten sich gegen die Okkupation, die sie nicht verhindern konnten. Mag man der liberalen deutschen Linken, die sich bald darauf, zum Teil durch ihre eigene Schuld, von der leitenden Rolle in Cisleithanien verdrängt sah, auch in dieser Frage der äußeren Politik vor¬ werfen, daß sie ihre Zeit nicht verstand! man hat kein Recht anzunehmen, daß Kuranda auch in dieser Sache anders gesprochen und gestimmt hat, als seine Überzeugung ihm gebot. Durch viele Jahre hat er dem Wiener Gemeinderat angehört, zu einer Zeit, da dieser Stadtvertretung nach dem Falle der alten Befestigungswerke große Aufgaben zufielen. Die Großkommune, in der damals der Rassenhaß noch keinen Boden gefunden hatte, zeichnete ihn anläßlich seines siebzigsten Geburtstages durch das Ehrenbürgerrecht ans. In weiten Kreisen genoß der rechtschaffene, geradsinnige Mann, der fremdes Verdienst so gern anerkannte und der anch in den Zeiten des berüchtigten „volkswirtschaftlichen Aufschwungs" seine Hände rein erhalten hatte, Liebe und Achtung. Eduard Herbst, selbst ein Träger der lautersten öffentlichen Moral, feierte in Kuranda den alten Kampf¬ genossen, der unter allen Umständen jene Grundsätze hochgehalten habe, zu deren Festigung in der Bevölkerung Österreichs er vielleicht mehr als irgendein anderer beigetragen hatte. Kuranda, der schon seit einiger Zeit an einen: Herz- und asthmatischen Leiden erkrankt war, nahm am 14. März 188t noch an einer Sitzung der Nordbahndirektion teil und erschien an diesem Tage auch im Abgeordnetenhause. Tags darauf warf ihn ein schwerer Anfall seines Leidens nieder. Am 29. März verlor er das Bewußtsein, das von da ab nur auf kurze Zeit zurückkehrte. Den nomo pe>knien8 verfolgten die öffentlichen Angelegenheiten in seine Delirien. Er hielt Reden, stellte Anträge, nannte die Namen von Deputierten, verlangte aufzustehen, um sich ins Parlament zu begeben. Von seiner Familie umgeben, endete er am 4. April 1884, halb vier Uhr nachmittag.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/218>, abgerufen am 22.07.2024.