Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Föderalistische und umtarische Parteien

Regelung des Wasserrechtes, eine in früherer Zeit oft erhobene Forderung,
eintrat. Alles dieses deutet darauf hin, daß der Föderalismus in
der Fortschrittlichen Volkspartei keinen Stützpunkt findet. Allerdings beweist
es noch nicht, daß ihr der Liberalismus höher als der Unitarismus steht. Die
Belege dafür finden sich jedoch unschwer, wenn man den Abstimmungen links¬
liberaler Parteien in früheren Jahren nachgeht. Man denke z. B. daran, daß
die Fortschrittspartei am 16. April 1867 gelegentlich der Schlußabstimmung
über die Verfassung des Norddeutschen Bundes gegen den Entwurf stimmte.
Das Motiv dieses Handelns ist weder zu suchen in irgend welchen föderalistischen
Ansichten noch in der damaligen allgemeinen Verärgerung der Partei -- die
allein wohl nie ausgereicht haben würde, ihre Haltung in einer so wichtigen
Angelegenheit entscheidend zu beeinflussen --, sondern in erster Linie in der
Überzeugung, daß der Entwurf berechtigten liberalen Forderungen nicht entsprach
oder gar widersprach: die Verfassung sah kein verantwortliches Neichsmiuisterium
vor, das Budgetrecht in bezug auf die Einnahmebewilligung und den Militäretat
war beschränkt, die Abgeordneten erhielten keine Diäten usw. Diesen Beweg¬
grund läßt unzweideutig eine Erklärung, die die Partei durch den Abgeordneten
Waldeck abgeben ließ, erkennen; in ihr wurde gesagt, die Partei stimme gegen
den Entwurf in dem Bewußtsein, "daß dessenungeachtet nicht im allermindesten
die Sache, wofür wir eintreten, die Einheit Deutschlands, gefährdet ist". Dieser
Vorgang hat sich im übrigen bei der Abstimmung über die Verfassung des
Deutschen Reiches am 14. April 1871 nicht wiederholt. Dagegen hat die
Fortschrittspartei aus denselben liberalen Erwägungen heraus es nicht über sich
vermocht, der Gesamtheit der in unitarischer Richtung wirkenden Reichsjustiz¬
gesetze zuzustimmen; sie hat vielmehr gegen die Strafprozeßordnung und gegen
das Gerichtsverfassungsgesetz gestimmt. Hinwiederum hat der Linksliberalismus
(im Gegensatz zur Sozialdemokratie) dem wichtigsten Fortschritt des Einheits¬
gedankens der letzten vierzig Jahre, dem Bürgerlichen Gesetzbuch, seine Zu¬
stimmung nicht versagt. Bekannt ist die Stellung des Freisinns zu so wichtigen,
die Stärkung des Reiches betreffenden Fragen wie den Militär-, Flotten- und
Kolonialvorlagen; bis vor wenigen Jahren hat er sich ihnen gegenüber schlechthin
ablehnend verhalten. Aber in dieser Beziehung ist eine Wandlung eingetreten:
1906 hat der linke Flügel der Liberalen für die Kolonialvorlagen, 1908 für
die Flottenvorlage, 1911 für das Quinquennat gestimmt.

Es bleibt die Sozialdemokratie. Über sie, die eine besondere Stellung
einnimmt, nur wenige Worte. Das zurzeit geltende sozialdemokratische Pro¬
gramm spricht sich nicht ausdrücklich darüber aus, wie die Partei dem Uni-
tarismus und Föderalismus gegenübersteht. Es kann aber keinem Zweifel
unterliegen, daß sie das größte Interesse an einer Förderung unitarischer
Tendenzen hat. Ihre Stellung wird jedoch nicht bestimmt durch irgendwie
geartete nationale Erwägungen -- für solche ist innerhalb der Sozialdemokratie
kein Raum --, sondern ausschließlich durch politische Momente anderer Art.


Grenzboten II 1912 2
Föderalistische und umtarische Parteien

Regelung des Wasserrechtes, eine in früherer Zeit oft erhobene Forderung,
eintrat. Alles dieses deutet darauf hin, daß der Föderalismus in
der Fortschrittlichen Volkspartei keinen Stützpunkt findet. Allerdings beweist
es noch nicht, daß ihr der Liberalismus höher als der Unitarismus steht. Die
Belege dafür finden sich jedoch unschwer, wenn man den Abstimmungen links¬
liberaler Parteien in früheren Jahren nachgeht. Man denke z. B. daran, daß
die Fortschrittspartei am 16. April 1867 gelegentlich der Schlußabstimmung
über die Verfassung des Norddeutschen Bundes gegen den Entwurf stimmte.
Das Motiv dieses Handelns ist weder zu suchen in irgend welchen föderalistischen
Ansichten noch in der damaligen allgemeinen Verärgerung der Partei — die
allein wohl nie ausgereicht haben würde, ihre Haltung in einer so wichtigen
Angelegenheit entscheidend zu beeinflussen —, sondern in erster Linie in der
Überzeugung, daß der Entwurf berechtigten liberalen Forderungen nicht entsprach
oder gar widersprach: die Verfassung sah kein verantwortliches Neichsmiuisterium
vor, das Budgetrecht in bezug auf die Einnahmebewilligung und den Militäretat
war beschränkt, die Abgeordneten erhielten keine Diäten usw. Diesen Beweg¬
grund läßt unzweideutig eine Erklärung, die die Partei durch den Abgeordneten
Waldeck abgeben ließ, erkennen; in ihr wurde gesagt, die Partei stimme gegen
den Entwurf in dem Bewußtsein, „daß dessenungeachtet nicht im allermindesten
die Sache, wofür wir eintreten, die Einheit Deutschlands, gefährdet ist". Dieser
Vorgang hat sich im übrigen bei der Abstimmung über die Verfassung des
Deutschen Reiches am 14. April 1871 nicht wiederholt. Dagegen hat die
Fortschrittspartei aus denselben liberalen Erwägungen heraus es nicht über sich
vermocht, der Gesamtheit der in unitarischer Richtung wirkenden Reichsjustiz¬
gesetze zuzustimmen; sie hat vielmehr gegen die Strafprozeßordnung und gegen
das Gerichtsverfassungsgesetz gestimmt. Hinwiederum hat der Linksliberalismus
(im Gegensatz zur Sozialdemokratie) dem wichtigsten Fortschritt des Einheits¬
gedankens der letzten vierzig Jahre, dem Bürgerlichen Gesetzbuch, seine Zu¬
stimmung nicht versagt. Bekannt ist die Stellung des Freisinns zu so wichtigen,
die Stärkung des Reiches betreffenden Fragen wie den Militär-, Flotten- und
Kolonialvorlagen; bis vor wenigen Jahren hat er sich ihnen gegenüber schlechthin
ablehnend verhalten. Aber in dieser Beziehung ist eine Wandlung eingetreten:
1906 hat der linke Flügel der Liberalen für die Kolonialvorlagen, 1908 für
die Flottenvorlage, 1911 für das Quinquennat gestimmt.

Es bleibt die Sozialdemokratie. Über sie, die eine besondere Stellung
einnimmt, nur wenige Worte. Das zurzeit geltende sozialdemokratische Pro¬
gramm spricht sich nicht ausdrücklich darüber aus, wie die Partei dem Uni-
tarismus und Föderalismus gegenübersteht. Es kann aber keinem Zweifel
unterliegen, daß sie das größte Interesse an einer Förderung unitarischer
Tendenzen hat. Ihre Stellung wird jedoch nicht bestimmt durch irgendwie
geartete nationale Erwägungen — für solche ist innerhalb der Sozialdemokratie
kein Raum —, sondern ausschließlich durch politische Momente anderer Art.


Grenzboten II 1912 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0021" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321104"/>
          <fw type="header" place="top"> Föderalistische und umtarische Parteien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_23" prev="#ID_22"> Regelung des Wasserrechtes, eine in früherer Zeit oft erhobene Forderung,<lb/>
eintrat. Alles dieses deutet darauf hin, daß der Föderalismus in<lb/>
der Fortschrittlichen Volkspartei keinen Stützpunkt findet. Allerdings beweist<lb/>
es noch nicht, daß ihr der Liberalismus höher als der Unitarismus steht. Die<lb/>
Belege dafür finden sich jedoch unschwer, wenn man den Abstimmungen links¬<lb/>
liberaler Parteien in früheren Jahren nachgeht. Man denke z. B. daran, daß<lb/>
die Fortschrittspartei am 16. April 1867 gelegentlich der Schlußabstimmung<lb/>
über die Verfassung des Norddeutschen Bundes gegen den Entwurf stimmte.<lb/>
Das Motiv dieses Handelns ist weder zu suchen in irgend welchen föderalistischen<lb/>
Ansichten noch in der damaligen allgemeinen Verärgerung der Partei &#x2014; die<lb/>
allein wohl nie ausgereicht haben würde, ihre Haltung in einer so wichtigen<lb/>
Angelegenheit entscheidend zu beeinflussen &#x2014;, sondern in erster Linie in der<lb/>
Überzeugung, daß der Entwurf berechtigten liberalen Forderungen nicht entsprach<lb/>
oder gar widersprach: die Verfassung sah kein verantwortliches Neichsmiuisterium<lb/>
vor, das Budgetrecht in bezug auf die Einnahmebewilligung und den Militäretat<lb/>
war beschränkt, die Abgeordneten erhielten keine Diäten usw. Diesen Beweg¬<lb/>
grund läßt unzweideutig eine Erklärung, die die Partei durch den Abgeordneten<lb/>
Waldeck abgeben ließ, erkennen; in ihr wurde gesagt, die Partei stimme gegen<lb/>
den Entwurf in dem Bewußtsein, &#x201E;daß dessenungeachtet nicht im allermindesten<lb/>
die Sache, wofür wir eintreten, die Einheit Deutschlands, gefährdet ist". Dieser<lb/>
Vorgang hat sich im übrigen bei der Abstimmung über die Verfassung des<lb/>
Deutschen Reiches am 14. April 1871 nicht wiederholt. Dagegen hat die<lb/>
Fortschrittspartei aus denselben liberalen Erwägungen heraus es nicht über sich<lb/>
vermocht, der Gesamtheit der in unitarischer Richtung wirkenden Reichsjustiz¬<lb/>
gesetze zuzustimmen; sie hat vielmehr gegen die Strafprozeßordnung und gegen<lb/>
das Gerichtsverfassungsgesetz gestimmt. Hinwiederum hat der Linksliberalismus<lb/>
(im Gegensatz zur Sozialdemokratie) dem wichtigsten Fortschritt des Einheits¬<lb/>
gedankens der letzten vierzig Jahre, dem Bürgerlichen Gesetzbuch, seine Zu¬<lb/>
stimmung nicht versagt. Bekannt ist die Stellung des Freisinns zu so wichtigen,<lb/>
die Stärkung des Reiches betreffenden Fragen wie den Militär-, Flotten- und<lb/>
Kolonialvorlagen; bis vor wenigen Jahren hat er sich ihnen gegenüber schlechthin<lb/>
ablehnend verhalten. Aber in dieser Beziehung ist eine Wandlung eingetreten:<lb/>
1906 hat der linke Flügel der Liberalen für die Kolonialvorlagen, 1908 für<lb/>
die Flottenvorlage, 1911 für das Quinquennat gestimmt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_24" next="#ID_25"> Es bleibt die Sozialdemokratie. Über sie, die eine besondere Stellung<lb/>
einnimmt, nur wenige Worte. Das zurzeit geltende sozialdemokratische Pro¬<lb/>
gramm spricht sich nicht ausdrücklich darüber aus, wie die Partei dem Uni-<lb/>
tarismus und Föderalismus gegenübersteht. Es kann aber keinem Zweifel<lb/>
unterliegen, daß sie das größte Interesse an einer Förderung unitarischer<lb/>
Tendenzen hat. Ihre Stellung wird jedoch nicht bestimmt durch irgendwie<lb/>
geartete nationale Erwägungen &#x2014; für solche ist innerhalb der Sozialdemokratie<lb/>
kein Raum &#x2014;, sondern ausschließlich durch politische Momente anderer Art.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1912 2</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0021] Föderalistische und umtarische Parteien Regelung des Wasserrechtes, eine in früherer Zeit oft erhobene Forderung, eintrat. Alles dieses deutet darauf hin, daß der Föderalismus in der Fortschrittlichen Volkspartei keinen Stützpunkt findet. Allerdings beweist es noch nicht, daß ihr der Liberalismus höher als der Unitarismus steht. Die Belege dafür finden sich jedoch unschwer, wenn man den Abstimmungen links¬ liberaler Parteien in früheren Jahren nachgeht. Man denke z. B. daran, daß die Fortschrittspartei am 16. April 1867 gelegentlich der Schlußabstimmung über die Verfassung des Norddeutschen Bundes gegen den Entwurf stimmte. Das Motiv dieses Handelns ist weder zu suchen in irgend welchen föderalistischen Ansichten noch in der damaligen allgemeinen Verärgerung der Partei — die allein wohl nie ausgereicht haben würde, ihre Haltung in einer so wichtigen Angelegenheit entscheidend zu beeinflussen —, sondern in erster Linie in der Überzeugung, daß der Entwurf berechtigten liberalen Forderungen nicht entsprach oder gar widersprach: die Verfassung sah kein verantwortliches Neichsmiuisterium vor, das Budgetrecht in bezug auf die Einnahmebewilligung und den Militäretat war beschränkt, die Abgeordneten erhielten keine Diäten usw. Diesen Beweg¬ grund läßt unzweideutig eine Erklärung, die die Partei durch den Abgeordneten Waldeck abgeben ließ, erkennen; in ihr wurde gesagt, die Partei stimme gegen den Entwurf in dem Bewußtsein, „daß dessenungeachtet nicht im allermindesten die Sache, wofür wir eintreten, die Einheit Deutschlands, gefährdet ist". Dieser Vorgang hat sich im übrigen bei der Abstimmung über die Verfassung des Deutschen Reiches am 14. April 1871 nicht wiederholt. Dagegen hat die Fortschrittspartei aus denselben liberalen Erwägungen heraus es nicht über sich vermocht, der Gesamtheit der in unitarischer Richtung wirkenden Reichsjustiz¬ gesetze zuzustimmen; sie hat vielmehr gegen die Strafprozeßordnung und gegen das Gerichtsverfassungsgesetz gestimmt. Hinwiederum hat der Linksliberalismus (im Gegensatz zur Sozialdemokratie) dem wichtigsten Fortschritt des Einheits¬ gedankens der letzten vierzig Jahre, dem Bürgerlichen Gesetzbuch, seine Zu¬ stimmung nicht versagt. Bekannt ist die Stellung des Freisinns zu so wichtigen, die Stärkung des Reiches betreffenden Fragen wie den Militär-, Flotten- und Kolonialvorlagen; bis vor wenigen Jahren hat er sich ihnen gegenüber schlechthin ablehnend verhalten. Aber in dieser Beziehung ist eine Wandlung eingetreten: 1906 hat der linke Flügel der Liberalen für die Kolonialvorlagen, 1908 für die Flottenvorlage, 1911 für das Quinquennat gestimmt. Es bleibt die Sozialdemokratie. Über sie, die eine besondere Stellung einnimmt, nur wenige Worte. Das zurzeit geltende sozialdemokratische Pro¬ gramm spricht sich nicht ausdrücklich darüber aus, wie die Partei dem Uni- tarismus und Föderalismus gegenübersteht. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß sie das größte Interesse an einer Förderung unitarischer Tendenzen hat. Ihre Stellung wird jedoch nicht bestimmt durch irgendwie geartete nationale Erwägungen — für solche ist innerhalb der Sozialdemokratie kein Raum —, sondern ausschließlich durch politische Momente anderer Art. Grenzboten II 1912 2

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/21
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/21>, abgerufen am 26.06.2024.