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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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von unserer lieben Muttersprache

Wörter, wie marschieren, studieren usw. Man hatte früher einmal so geschrieben,
aber das -leren war längst abgeschafft. Wir schrieben ohne e studiren, pro-
biren; unsere Soldaten marschirten nach Frankreich, kein Mensch hatte das
geringste Verlangen nach dem e. Nun ist es wieder da, wie jener Mann im
schwarzen Walfisch zu Askalon, den der Hausknecht uni halb vier Uhr zur Tür
hinaus- und, nach einem beliebten studentischen Zusatz, um halb neun Uhr wieder
hineinwirft. Das e soll die Länge der Silbe andeuten. Aber wir schreiben
z. B. mir, dir, ihm, ihr, sie, Herde, Wage, wir sind also nicht folge¬
richtig. Jedenfalls ist das e überflüssig, und heutzutage, wo die Zeit so kostbar
ist, sollte man sich nicht mit Überflüssigem plagen. Das deutsche Volk hat einen
glänzenden Beweis seines Gehorsams gegeben, indem es sich dem unterwarf;
zur Belohnung möge man bei der nächsten Reform der Rechtschreibmig -- wir
pflegen ja unsere Reformen öfters zu reformieren -- den überflüssigen Buch¬
staben mit aller gebührenden Höflichkeit endgültig an die Lust setzen!

Für die Form der Wörter sind unsere Zusammensetzungen von großer
Bedeutung. Die schrankenlose Freiheit, mit der wir die verschiedensten Dinge
zusammenkoppeln, ist ein zweischneidiges Schwert; sie ruft manchmal wunderbare
Gebilde hervor, die nicht nur den Deutsch lernenden Ausländer, sondern auch
den deutschen Leser verblüffen können. Was ist Stilphase? Was ist Saraszene?
-- Ich nenne diese Wörter, weil sie nur gerade vorkamen. -- Denkt man da gleich
an eine Phase des Stils und an eine Szene aus Miß Sara Sampson? In
einer hübschen Naturschilderung las ich neulich etwas verdutzt von den Kätzchen
der Granerle. Die Schreibung "Grau-Erle" hätte mir die Sache klargemacht.
Auch mit der vielgenannten Seegeltung habe ich mich noch nicht recht befreunden
können. Von den bekannten Wortungetümen, wie Motorluftschiffahrtstudien-
gesellschaft, will ich nicht sprechen; sie sind schon genügend an den Pranger
gestellt worden.

Es ist merkwürdig: unsere Zeit, die doch angeblich zu nichts Zeit hat,
hat doch Zeit, sich mit unnötigen Sprachballast zu befassen. Wozu Bahnsteig,
da Steig allein genügen und jede Verwechslung ausschließen würde (ich erlaubte
mir schon vor Jahren in einer vielgelesenen Zeitung darauf hinzuweisen)?
Geradezu unaussprechlich schön ist Bahnsteigsperre; ich möchte wissen, wie Aus¬
länder damit fertig werden. In Süddeutschland begnügten wir uns bisher
mit einfachen Hemden, wie die Franzosen mit LKsmises; jetzt kommt aus
dem Norden das Oberhemd zu uns. Welcher Kulturfortschritt! Was das
"Ober" bedeuten soll, ist mir übrigens nicht klar.

Bei den Zusammensetzungen spielt das "Binde-s" eine große Rolle,
die ich nicht unbeachtet lassen darf.


Das Binde-s! Ist einer, der's nicht kennt,
Das s, das Wörter bindet, Herzen trennt?

Es ist jenes s, das sich in zusammengesetzte Wörter einschiebt. Wir sehen
es im Reichstag und im Reichskanzler, in: Bezirksamt und im Sitzungssaal,


von unserer lieben Muttersprache

Wörter, wie marschieren, studieren usw. Man hatte früher einmal so geschrieben,
aber das -leren war längst abgeschafft. Wir schrieben ohne e studiren, pro-
biren; unsere Soldaten marschirten nach Frankreich, kein Mensch hatte das
geringste Verlangen nach dem e. Nun ist es wieder da, wie jener Mann im
schwarzen Walfisch zu Askalon, den der Hausknecht uni halb vier Uhr zur Tür
hinaus- und, nach einem beliebten studentischen Zusatz, um halb neun Uhr wieder
hineinwirft. Das e soll die Länge der Silbe andeuten. Aber wir schreiben
z. B. mir, dir, ihm, ihr, sie, Herde, Wage, wir sind also nicht folge¬
richtig. Jedenfalls ist das e überflüssig, und heutzutage, wo die Zeit so kostbar
ist, sollte man sich nicht mit Überflüssigem plagen. Das deutsche Volk hat einen
glänzenden Beweis seines Gehorsams gegeben, indem es sich dem unterwarf;
zur Belohnung möge man bei der nächsten Reform der Rechtschreibmig — wir
pflegen ja unsere Reformen öfters zu reformieren — den überflüssigen Buch¬
staben mit aller gebührenden Höflichkeit endgültig an die Lust setzen!

Für die Form der Wörter sind unsere Zusammensetzungen von großer
Bedeutung. Die schrankenlose Freiheit, mit der wir die verschiedensten Dinge
zusammenkoppeln, ist ein zweischneidiges Schwert; sie ruft manchmal wunderbare
Gebilde hervor, die nicht nur den Deutsch lernenden Ausländer, sondern auch
den deutschen Leser verblüffen können. Was ist Stilphase? Was ist Saraszene?
— Ich nenne diese Wörter, weil sie nur gerade vorkamen. — Denkt man da gleich
an eine Phase des Stils und an eine Szene aus Miß Sara Sampson? In
einer hübschen Naturschilderung las ich neulich etwas verdutzt von den Kätzchen
der Granerle. Die Schreibung „Grau-Erle" hätte mir die Sache klargemacht.
Auch mit der vielgenannten Seegeltung habe ich mich noch nicht recht befreunden
können. Von den bekannten Wortungetümen, wie Motorluftschiffahrtstudien-
gesellschaft, will ich nicht sprechen; sie sind schon genügend an den Pranger
gestellt worden.

Es ist merkwürdig: unsere Zeit, die doch angeblich zu nichts Zeit hat,
hat doch Zeit, sich mit unnötigen Sprachballast zu befassen. Wozu Bahnsteig,
da Steig allein genügen und jede Verwechslung ausschließen würde (ich erlaubte
mir schon vor Jahren in einer vielgelesenen Zeitung darauf hinzuweisen)?
Geradezu unaussprechlich schön ist Bahnsteigsperre; ich möchte wissen, wie Aus¬
länder damit fertig werden. In Süddeutschland begnügten wir uns bisher
mit einfachen Hemden, wie die Franzosen mit LKsmises; jetzt kommt aus
dem Norden das Oberhemd zu uns. Welcher Kulturfortschritt! Was das
„Ober" bedeuten soll, ist mir übrigens nicht klar.

Bei den Zusammensetzungen spielt das „Binde-s" eine große Rolle,
die ich nicht unbeachtet lassen darf.


Das Binde-s! Ist einer, der's nicht kennt,
Das s, das Wörter bindet, Herzen trennt?

Es ist jenes s, das sich in zusammengesetzte Wörter einschiebt. Wir sehen
es im Reichstag und im Reichskanzler, in: Bezirksamt und im Sitzungssaal,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/147>, abgerufen am 03.07.2024.