Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.Briefe aus Dstasicn dort alles, anziehend manches, abstoßend vieles. Von überwältigender Pracht Gar nicht mit Worten wiederzugeben ist daher der Eindruck, den nach dieser "Und China?" werden Sie fragen. China läßt sich auf keine Formel Briefe aus Dstasicn dort alles, anziehend manches, abstoßend vieles. Von überwältigender Pracht Gar nicht mit Worten wiederzugeben ist daher der Eindruck, den nach dieser „Und China?" werden Sie fragen. China läßt sich auf keine Formel <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0145" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321228"/> <fw type="header" place="top"> Briefe aus Dstasicn</fw><lb/> <p xml:id="ID_579" prev="#ID_578"> dort alles, anziehend manches, abstoßend vieles. Von überwältigender Pracht<lb/> war insbesondere die landschaftliche Mannigfaltigkeit des Felsengebirges, aber<lb/> auch hier fehlte das, was die Natur veredelt, poetisch verklärt und dem Empfinden<lb/> und der Phantasie näher bringt: die Geschichte, die Vergangenheit menschlichen<lb/> Wirkens. Hier reden nur die Berge und Ströme, hier gibt es keine Stätten<lb/> alter Kultur, keine Schlösser und Burgen wie bei uns, von denen die Dichter<lb/> singen und sagen. Und nun erst die Städte! Wahre Tummelplätze modernster<lb/> Kulturbarbarei, in denen alles ans die denkbar praktischste Verwertung von Zeit<lb/> und Raum berechnet ist, um aus beiden nach Möglichkeit Kapital zu schlagen.<lb/> „Am Gelde hängt, nach Geld drängt doch alles." Man kann nicht umhin, die<lb/> technische Genialität zu bewundern, und wird doch dabei von der Frechheit<lb/> abgestoßen, mit der das elementarste Schönheitsgefühl verletzt wird. Besonders<lb/> charakteristisch als Typus einer Stadt von heute schien mir Wimpeg zu sein,<lb/> zu dessen Besichtigung wir den Aufenthalt von zwei Stunden benutzten. Es<lb/> scheint fast, als wären hier zu allererst die Telegraphenleitung und die elektrische<lb/> Straßenbahn angelegt und dann erst die Häuser errichtet worden.</p><lb/> <p xml:id="ID_580"> Gar nicht mit Worten wiederzugeben ist daher der Eindruck, den nach dieser<lb/> Welt modernster Wirklichkeit Japan auf uns machte, diese traumhaft schöne<lb/> Märchenwelt, die alle Sinne so gefangen hält, daß es geradezu schwer fällt, an<lb/> ihre Wirklichkeit zu glauben. Seltsam, wie bei so geringer schöpferischer<lb/> Originalität so viel Originalität der Nachahmung möglich ist. Land und Leute,<lb/> Natur und Kunst: alles ist aus einem Gusse und daher stilvoll. Hier kann<lb/> man wie in keinem anderen Kulturlande beobachten, wie die Kunst dem Spiel¬<lb/> triebe entspringt — und welch herrliche Blüten bringt sie hervor! Einem harm¬<lb/> losen Spiele gleicht hier das Leben und das Volk selbst sorglos spielenden<lb/> Kindern. Daraus ist wohl auch zu erklären, daß der japanischen Kunst (vielleicht<lb/> von der Kolossalfigur des Buddha von Kamukura abgesehen) der Zug ins Große<lb/> abgeht. Groß ist der Japaner nur im Kleinen. Daher sind ihre Künstler<lb/> eigentlich mehr Handwerker, aber die Handwerker dafür wahre Künstler. Was<lb/> diese hervorbringen, ist nicht mehr Kunstgewerbe, das ist echte, unverfälschte<lb/> Kunst. Der Aufenthalt in diesem Wunderlande wird stets zu unseren sonnigsten<lb/> Erinnerungen gehören.</p><lb/> <p xml:id="ID_581" next="#ID_582"> „Und China?" werden Sie fragen. China läßt sich auf keine Formel<lb/> zurückführen. China ist ein Buch, in dem nur Wenige zu lesen verstehen, und<lb/> selbst diese sind auf Schritt und Tritt dem Irrtum ausgesetzt. Alles, von den<lb/> alltäglichen Erscheinungen in dem Benehmen und der Ausdrucksweise der Menschen<lb/> angefangen bis zu den kompliziertesten Erscheinungen in Staat und Gesellschaft,<lb/> bleibt unverständlich, rätselhaft, oft lächerlich, solange man nicht weiß, wie es<lb/> geworden ist. In keinem Lande wiegt der geschichtliche Ballast so schwer, sind<lb/> die Fesseln althergebrachter, festformulierter Satzungen so hemmend wie hier.<lb/> Statt daß, wie anderswo, die Gegenwart das Altertum verdrängte, droht hier<lb/> vielmehr dieses jenes zu ersticken. Und weil jeder einzelne in allem, was er</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0145]
Briefe aus Dstasicn
dort alles, anziehend manches, abstoßend vieles. Von überwältigender Pracht
war insbesondere die landschaftliche Mannigfaltigkeit des Felsengebirges, aber
auch hier fehlte das, was die Natur veredelt, poetisch verklärt und dem Empfinden
und der Phantasie näher bringt: die Geschichte, die Vergangenheit menschlichen
Wirkens. Hier reden nur die Berge und Ströme, hier gibt es keine Stätten
alter Kultur, keine Schlösser und Burgen wie bei uns, von denen die Dichter
singen und sagen. Und nun erst die Städte! Wahre Tummelplätze modernster
Kulturbarbarei, in denen alles ans die denkbar praktischste Verwertung von Zeit
und Raum berechnet ist, um aus beiden nach Möglichkeit Kapital zu schlagen.
„Am Gelde hängt, nach Geld drängt doch alles." Man kann nicht umhin, die
technische Genialität zu bewundern, und wird doch dabei von der Frechheit
abgestoßen, mit der das elementarste Schönheitsgefühl verletzt wird. Besonders
charakteristisch als Typus einer Stadt von heute schien mir Wimpeg zu sein,
zu dessen Besichtigung wir den Aufenthalt von zwei Stunden benutzten. Es
scheint fast, als wären hier zu allererst die Telegraphenleitung und die elektrische
Straßenbahn angelegt und dann erst die Häuser errichtet worden.
Gar nicht mit Worten wiederzugeben ist daher der Eindruck, den nach dieser
Welt modernster Wirklichkeit Japan auf uns machte, diese traumhaft schöne
Märchenwelt, die alle Sinne so gefangen hält, daß es geradezu schwer fällt, an
ihre Wirklichkeit zu glauben. Seltsam, wie bei so geringer schöpferischer
Originalität so viel Originalität der Nachahmung möglich ist. Land und Leute,
Natur und Kunst: alles ist aus einem Gusse und daher stilvoll. Hier kann
man wie in keinem anderen Kulturlande beobachten, wie die Kunst dem Spiel¬
triebe entspringt — und welch herrliche Blüten bringt sie hervor! Einem harm¬
losen Spiele gleicht hier das Leben und das Volk selbst sorglos spielenden
Kindern. Daraus ist wohl auch zu erklären, daß der japanischen Kunst (vielleicht
von der Kolossalfigur des Buddha von Kamukura abgesehen) der Zug ins Große
abgeht. Groß ist der Japaner nur im Kleinen. Daher sind ihre Künstler
eigentlich mehr Handwerker, aber die Handwerker dafür wahre Künstler. Was
diese hervorbringen, ist nicht mehr Kunstgewerbe, das ist echte, unverfälschte
Kunst. Der Aufenthalt in diesem Wunderlande wird stets zu unseren sonnigsten
Erinnerungen gehören.
„Und China?" werden Sie fragen. China läßt sich auf keine Formel
zurückführen. China ist ein Buch, in dem nur Wenige zu lesen verstehen, und
selbst diese sind auf Schritt und Tritt dem Irrtum ausgesetzt. Alles, von den
alltäglichen Erscheinungen in dem Benehmen und der Ausdrucksweise der Menschen
angefangen bis zu den kompliziertesten Erscheinungen in Staat und Gesellschaft,
bleibt unverständlich, rätselhaft, oft lächerlich, solange man nicht weiß, wie es
geworden ist. In keinem Lande wiegt der geschichtliche Ballast so schwer, sind
die Fesseln althergebrachter, festformulierter Satzungen so hemmend wie hier.
Statt daß, wie anderswo, die Gegenwart das Altertum verdrängte, droht hier
vielmehr dieses jenes zu ersticken. Und weil jeder einzelne in allem, was er
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |