Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lriefe aus Gstasieii

Zunächst machten wir einen mehrstündigen Spaziergang nach einem wenig
bekannten kleinen Tempel, der auf einer Anhöhe am Meere in lauschiger
Waldeseinsamkeit daliegt, im Schatten uralter, ehrwürdiger Cryptomerien ver¬
borgen. Ihm zur Seite sprudelt in einer dunklen tiefen Felsschlucht, die von
Schlinggewächsen aller Art umrankt und mit blühenden Azaleenbüschen bewachsen
ist, ein wundertätiger Quell aus einem in den Felsen gemeißelten Drachenkopf.
Und durch die enge, geheimnisvolle Schlucht blickt man durch das dunkle Grün
der Cryptomerien auf das tiefblaue Meer -- ein Bild, so traumhaft, überirdisch
schön, wie es vielleicht nur der Pinsel eines Böcklin annähernd wiederzugeben
vermöchte! Ich fühlte mich, wie noch nie in meinem Leben, der Wirklichkeit
entrückt und hätte mich kaum noch wundern können, wenn etwa plötzlich die
bekannten japanischen sieben Glücksgötter leibhaftig vor mir aufgetaucht wären!
Ich -- und Glücksgötter! Nein, das wäre zu viel verlangt, daher habe ich
sie mir heute zum Ersatz in Gestalt von niedlichen Porzellanfigürchen angeschafft.

Auf dem Rückwege kamen wir durch mehrere kleine Dörfer, deren Be¬
wohner zumeist in paradiesischen Kostüm mit Dreschen und Getreideworfeln
beschäftigt waren. Auch eine Dorfschöne sahen wir, die sich, auf einer Matte
kauernd, kunstvoll frisieren ließ. Unterwegs kehrten wir in einem Teehause ein,
dessen freundliche Wirtin uns unter nicht endenwollenden tiefen Verbeugungen
Tee in winzigen Schälchen kredenzte und dabei eine Beredsamkeit entwickelte,
auf die wir leider nur mit verständnisinnigen Jnterjektionen zu reagieren ver¬
mochten. Dann nahmen wir uns Jinrikshas und fuhren in die entzückende
Villa des Generalkonsuls, wo uns Herr K. mit einem improvisierten Diner und
herrlichem Rheinwein und Champagner bewirtete. Zu guterletzt fuhren wir
noch durch die Theaterstraße, wo das denkbar bunteste Treiben herrschte. Jetzt
muß ich schließen, da wir zu T.'s zum Diner gebeten sind.




An seine Schwester.

Yokohama. 23. Juni 1897.


Liebe Weinande!

Vor wenigen Stunden von unserem herrlichen Ausflug nach Nikko und
Umgebung zurückgekehrt, will ich die kurze Rast benutzen, um in meiner neulich
begonnenen Schilderung unserer japanischen Erlebnisse fortzufahren. Du glaubst
nicht, wie schwer es ist, einen ruhigen Augenblick zum Schreiben zu erHaschen,
denn da wir natürlich jede Minute ausnutzen, um so viel als nur möglich zu
sehen und zu lernen, sind wir abends meist ziemlich erschöpft und fchlafbedürftig.

Soviel ich mich erinnere, habe ich Dir nur unseren ersten Tag auf
japanischem Boden geschildert. Am nächsten Tage fuhren wir nach dem benach¬
barten Kamakura, das Uoritomo, der Begründer des Shogunates, im dreizehnten
Jahrhundert zu seiner Residenz erhoben hatte. Dort besichtigten wir zunächst
den schönen Tempel des Kriegsgottes Hachiman, der zugleich eine interessante
Sammlung japanischer Altertümer birgt. Dann suchten wir die Hauptsehens-


Lriefe aus Gstasieii

Zunächst machten wir einen mehrstündigen Spaziergang nach einem wenig
bekannten kleinen Tempel, der auf einer Anhöhe am Meere in lauschiger
Waldeseinsamkeit daliegt, im Schatten uralter, ehrwürdiger Cryptomerien ver¬
borgen. Ihm zur Seite sprudelt in einer dunklen tiefen Felsschlucht, die von
Schlinggewächsen aller Art umrankt und mit blühenden Azaleenbüschen bewachsen
ist, ein wundertätiger Quell aus einem in den Felsen gemeißelten Drachenkopf.
Und durch die enge, geheimnisvolle Schlucht blickt man durch das dunkle Grün
der Cryptomerien auf das tiefblaue Meer — ein Bild, so traumhaft, überirdisch
schön, wie es vielleicht nur der Pinsel eines Böcklin annähernd wiederzugeben
vermöchte! Ich fühlte mich, wie noch nie in meinem Leben, der Wirklichkeit
entrückt und hätte mich kaum noch wundern können, wenn etwa plötzlich die
bekannten japanischen sieben Glücksgötter leibhaftig vor mir aufgetaucht wären!
Ich — und Glücksgötter! Nein, das wäre zu viel verlangt, daher habe ich
sie mir heute zum Ersatz in Gestalt von niedlichen Porzellanfigürchen angeschafft.

Auf dem Rückwege kamen wir durch mehrere kleine Dörfer, deren Be¬
wohner zumeist in paradiesischen Kostüm mit Dreschen und Getreideworfeln
beschäftigt waren. Auch eine Dorfschöne sahen wir, die sich, auf einer Matte
kauernd, kunstvoll frisieren ließ. Unterwegs kehrten wir in einem Teehause ein,
dessen freundliche Wirtin uns unter nicht endenwollenden tiefen Verbeugungen
Tee in winzigen Schälchen kredenzte und dabei eine Beredsamkeit entwickelte,
auf die wir leider nur mit verständnisinnigen Jnterjektionen zu reagieren ver¬
mochten. Dann nahmen wir uns Jinrikshas und fuhren in die entzückende
Villa des Generalkonsuls, wo uns Herr K. mit einem improvisierten Diner und
herrlichem Rheinwein und Champagner bewirtete. Zu guterletzt fuhren wir
noch durch die Theaterstraße, wo das denkbar bunteste Treiben herrschte. Jetzt
muß ich schließen, da wir zu T.'s zum Diner gebeten sind.




An seine Schwester.

Yokohama. 23. Juni 1897.


Liebe Weinande!

Vor wenigen Stunden von unserem herrlichen Ausflug nach Nikko und
Umgebung zurückgekehrt, will ich die kurze Rast benutzen, um in meiner neulich
begonnenen Schilderung unserer japanischen Erlebnisse fortzufahren. Du glaubst
nicht, wie schwer es ist, einen ruhigen Augenblick zum Schreiben zu erHaschen,
denn da wir natürlich jede Minute ausnutzen, um so viel als nur möglich zu
sehen und zu lernen, sind wir abends meist ziemlich erschöpft und fchlafbedürftig.

Soviel ich mich erinnere, habe ich Dir nur unseren ersten Tag auf
japanischem Boden geschildert. Am nächsten Tage fuhren wir nach dem benach¬
barten Kamakura, das Uoritomo, der Begründer des Shogunates, im dreizehnten
Jahrhundert zu seiner Residenz erhoben hatte. Dort besichtigten wir zunächst
den schönen Tempel des Kriegsgottes Hachiman, der zugleich eine interessante
Sammlung japanischer Altertümer birgt. Dann suchten wir die Hauptsehens-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0136" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321219"/>
          <fw type="header" place="top"> Lriefe aus Gstasieii</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_540"> Zunächst machten wir einen mehrstündigen Spaziergang nach einem wenig<lb/>
bekannten kleinen Tempel, der auf einer Anhöhe am Meere in lauschiger<lb/>
Waldeseinsamkeit daliegt, im Schatten uralter, ehrwürdiger Cryptomerien ver¬<lb/>
borgen. Ihm zur Seite sprudelt in einer dunklen tiefen Felsschlucht, die von<lb/>
Schlinggewächsen aller Art umrankt und mit blühenden Azaleenbüschen bewachsen<lb/>
ist, ein wundertätiger Quell aus einem in den Felsen gemeißelten Drachenkopf.<lb/>
Und durch die enge, geheimnisvolle Schlucht blickt man durch das dunkle Grün<lb/>
der Cryptomerien auf das tiefblaue Meer &#x2014; ein Bild, so traumhaft, überirdisch<lb/>
schön, wie es vielleicht nur der Pinsel eines Böcklin annähernd wiederzugeben<lb/>
vermöchte! Ich fühlte mich, wie noch nie in meinem Leben, der Wirklichkeit<lb/>
entrückt und hätte mich kaum noch wundern können, wenn etwa plötzlich die<lb/>
bekannten japanischen sieben Glücksgötter leibhaftig vor mir aufgetaucht wären!<lb/>
Ich &#x2014; und Glücksgötter! Nein, das wäre zu viel verlangt, daher habe ich<lb/>
sie mir heute zum Ersatz in Gestalt von niedlichen Porzellanfigürchen angeschafft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_541"> Auf dem Rückwege kamen wir durch mehrere kleine Dörfer, deren Be¬<lb/>
wohner zumeist in paradiesischen Kostüm mit Dreschen und Getreideworfeln<lb/>
beschäftigt waren. Auch eine Dorfschöne sahen wir, die sich, auf einer Matte<lb/>
kauernd, kunstvoll frisieren ließ. Unterwegs kehrten wir in einem Teehause ein,<lb/>
dessen freundliche Wirtin uns unter nicht endenwollenden tiefen Verbeugungen<lb/>
Tee in winzigen Schälchen kredenzte und dabei eine Beredsamkeit entwickelte,<lb/>
auf die wir leider nur mit verständnisinnigen Jnterjektionen zu reagieren ver¬<lb/>
mochten. Dann nahmen wir uns Jinrikshas und fuhren in die entzückende<lb/>
Villa des Generalkonsuls, wo uns Herr K. mit einem improvisierten Diner und<lb/>
herrlichem Rheinwein und Champagner bewirtete. Zu guterletzt fuhren wir<lb/>
noch durch die Theaterstraße, wo das denkbar bunteste Treiben herrschte. Jetzt<lb/>
muß ich schließen, da wir zu T.'s zum Diner gebeten sind.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_542"> An seine Schwester.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_543"> Yokohama. 23. Juni 1897.</p><lb/>
          <note type="salute"> Liebe Weinande!</note><lb/>
          <p xml:id="ID_544"> Vor wenigen Stunden von unserem herrlichen Ausflug nach Nikko und<lb/>
Umgebung zurückgekehrt, will ich die kurze Rast benutzen, um in meiner neulich<lb/>
begonnenen Schilderung unserer japanischen Erlebnisse fortzufahren. Du glaubst<lb/>
nicht, wie schwer es ist, einen ruhigen Augenblick zum Schreiben zu erHaschen,<lb/>
denn da wir natürlich jede Minute ausnutzen, um so viel als nur möglich zu<lb/>
sehen und zu lernen, sind wir abends meist ziemlich erschöpft und fchlafbedürftig.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_545" next="#ID_546"> Soviel ich mich erinnere, habe ich Dir nur unseren ersten Tag auf<lb/>
japanischem Boden geschildert. Am nächsten Tage fuhren wir nach dem benach¬<lb/>
barten Kamakura, das Uoritomo, der Begründer des Shogunates, im dreizehnten<lb/>
Jahrhundert zu seiner Residenz erhoben hatte. Dort besichtigten wir zunächst<lb/>
den schönen Tempel des Kriegsgottes Hachiman, der zugleich eine interessante<lb/>
Sammlung japanischer Altertümer birgt. Dann suchten wir die Hauptsehens-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0136] Lriefe aus Gstasieii Zunächst machten wir einen mehrstündigen Spaziergang nach einem wenig bekannten kleinen Tempel, der auf einer Anhöhe am Meere in lauschiger Waldeseinsamkeit daliegt, im Schatten uralter, ehrwürdiger Cryptomerien ver¬ borgen. Ihm zur Seite sprudelt in einer dunklen tiefen Felsschlucht, die von Schlinggewächsen aller Art umrankt und mit blühenden Azaleenbüschen bewachsen ist, ein wundertätiger Quell aus einem in den Felsen gemeißelten Drachenkopf. Und durch die enge, geheimnisvolle Schlucht blickt man durch das dunkle Grün der Cryptomerien auf das tiefblaue Meer — ein Bild, so traumhaft, überirdisch schön, wie es vielleicht nur der Pinsel eines Böcklin annähernd wiederzugeben vermöchte! Ich fühlte mich, wie noch nie in meinem Leben, der Wirklichkeit entrückt und hätte mich kaum noch wundern können, wenn etwa plötzlich die bekannten japanischen sieben Glücksgötter leibhaftig vor mir aufgetaucht wären! Ich — und Glücksgötter! Nein, das wäre zu viel verlangt, daher habe ich sie mir heute zum Ersatz in Gestalt von niedlichen Porzellanfigürchen angeschafft. Auf dem Rückwege kamen wir durch mehrere kleine Dörfer, deren Be¬ wohner zumeist in paradiesischen Kostüm mit Dreschen und Getreideworfeln beschäftigt waren. Auch eine Dorfschöne sahen wir, die sich, auf einer Matte kauernd, kunstvoll frisieren ließ. Unterwegs kehrten wir in einem Teehause ein, dessen freundliche Wirtin uns unter nicht endenwollenden tiefen Verbeugungen Tee in winzigen Schälchen kredenzte und dabei eine Beredsamkeit entwickelte, auf die wir leider nur mit verständnisinnigen Jnterjektionen zu reagieren ver¬ mochten. Dann nahmen wir uns Jinrikshas und fuhren in die entzückende Villa des Generalkonsuls, wo uns Herr K. mit einem improvisierten Diner und herrlichem Rheinwein und Champagner bewirtete. Zu guterletzt fuhren wir noch durch die Theaterstraße, wo das denkbar bunteste Treiben herrschte. Jetzt muß ich schließen, da wir zu T.'s zum Diner gebeten sind. An seine Schwester. Yokohama. 23. Juni 1897. Liebe Weinande! Vor wenigen Stunden von unserem herrlichen Ausflug nach Nikko und Umgebung zurückgekehrt, will ich die kurze Rast benutzen, um in meiner neulich begonnenen Schilderung unserer japanischen Erlebnisse fortzufahren. Du glaubst nicht, wie schwer es ist, einen ruhigen Augenblick zum Schreiben zu erHaschen, denn da wir natürlich jede Minute ausnutzen, um so viel als nur möglich zu sehen und zu lernen, sind wir abends meist ziemlich erschöpft und fchlafbedürftig. Soviel ich mich erinnere, habe ich Dir nur unseren ersten Tag auf japanischem Boden geschildert. Am nächsten Tage fuhren wir nach dem benach¬ barten Kamakura, das Uoritomo, der Begründer des Shogunates, im dreizehnten Jahrhundert zu seiner Residenz erhoben hatte. Dort besichtigten wir zunächst den schönen Tempel des Kriegsgottes Hachiman, der zugleich eine interessante Sammlung japanischer Altertümer birgt. Dann suchten wir die Hauptsehens-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/136
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/136>, abgerufen am 23.07.2024.