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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Die Beendigung des türkisch-italienischen Krieges liegt im Interesse aller Mächte
und ebenso die Verhinderung eines etwaigen Ausbruchs auf dem Balkangebiet.
England mag es je länger, je mehr empfinden, daß die Konzentration seiner
Flotte in der Nordsee dazu geführt hat, daß das Mittelmeer und der Pazific
von englischen Kriegsschiffen entblößt sind. Man wird auch den innerpolitischen
Grund anführen dürfen, daß ein beträchtlicher Teil der liberalen Partei und
der liberalen Presse die Marokkopolitik des Kabinetts mit großer Schärfe kritisiert
und eine Verständigung mit Deutschland gefordert hat. Und wenn dieser
Grund, wie wir glauben, eine Wirkung ausgeübt hat, so muß man auch den
Einfluß der politisch-radikalen Presse, wie Daily News, Manchester Guardian,
Nation und Economist, auf die englische Politik entsprechend einschätzen (vgl.
Leitartikel in Heft 8, 1912).

Eine deutsch-englische Verständigung kann demnach allerdings eine Lockerung
der Triple-Entente bedeuten, wenn man sie in dem Lichte der Einkreisungs¬
politik betrachtet, die die Triple-Entente in gewissen Zeiten ohne Zweifel ver¬
folgt hat. Die englische Negierung gibt vor, in der letzten Marokkokrisis keine
andere Rolle gespielt zu haben als Deutschland in der Balkankrisis. England
habe die französischen Ansprüche auf Marokko diplomatisch unterstützt, ganz wie
Deutschland in der Balkankrisis die Annexionspolitik Österreich-Ungarns unter¬
stützte. Das ist von englischen Ministern amtlich erklärt worden, und wenn
wir wollen, daß den Erklärungen unserer Minister im Ausland Glauben ge¬
schenkt wird, so müssen wir auch die englischen Erklärungen hinnehmen. Die
Westminster Gazette, die während der ganzen Marokkokrisis eine wahrhaft
staatsmännische Haltung bewahrt hat, hat wiederholt das Argument gebraucht:
wenn Rußland so kurze Zeit nach der Balkankrisis mit Deutschland zu einer
Verständigung gelangen konnte, so sollte nach Erledigung der Marokko¬
krisis auch ein deutsch-englischer Ausgleich nicht unmöglich sein. Das Er¬
gebnis einer deutsch-englischen Verständigung würde also sein, daß
England zwar an seinen Erdeulen festhielte, daß aber diese Erdeulen
die Spitze gegen Deutschland verlören. Die englisch-französische Entente
würde somit sür uns ebenso jeder akuten Gefahr beraubt werden wie die eng¬
lisch-russische.

Aber zwischen England und Deutschland bestehen verhältnismäßig wenig
akute Konfliktstoffe, wenigstens viel weniger, als seinerzeit zwischen England und
Frankreich und zwischen Frankreich und Nußland bestanden hatten. In Ost¬
asien sind unsere Interessen die gleichen; im nahen Osten wünschen beide
Mächte die Erhaltung des swtug quo und die Beendigung des türkisch-
italienischen Konfliktes; und in der Frage der Bagdadbahn sollte, nachdem wir
uns mit Rußland auseinandergesetzt haben, und nachdem die Bagdadbahn-
gesellschast ein neues Abkommen mit der türkischen Regierung geschlossen hat.
ein Ausgleich zwischen England und Deutschland keine unüberwindlichen
Schwierigkeiten vor sich haben. Ob die Rüstungsfragen einen Gegenstand der


Reichsspiegel

Die Beendigung des türkisch-italienischen Krieges liegt im Interesse aller Mächte
und ebenso die Verhinderung eines etwaigen Ausbruchs auf dem Balkangebiet.
England mag es je länger, je mehr empfinden, daß die Konzentration seiner
Flotte in der Nordsee dazu geführt hat, daß das Mittelmeer und der Pazific
von englischen Kriegsschiffen entblößt sind. Man wird auch den innerpolitischen
Grund anführen dürfen, daß ein beträchtlicher Teil der liberalen Partei und
der liberalen Presse die Marokkopolitik des Kabinetts mit großer Schärfe kritisiert
und eine Verständigung mit Deutschland gefordert hat. Und wenn dieser
Grund, wie wir glauben, eine Wirkung ausgeübt hat, so muß man auch den
Einfluß der politisch-radikalen Presse, wie Daily News, Manchester Guardian,
Nation und Economist, auf die englische Politik entsprechend einschätzen (vgl.
Leitartikel in Heft 8, 1912).

Eine deutsch-englische Verständigung kann demnach allerdings eine Lockerung
der Triple-Entente bedeuten, wenn man sie in dem Lichte der Einkreisungs¬
politik betrachtet, die die Triple-Entente in gewissen Zeiten ohne Zweifel ver¬
folgt hat. Die englische Negierung gibt vor, in der letzten Marokkokrisis keine
andere Rolle gespielt zu haben als Deutschland in der Balkankrisis. England
habe die französischen Ansprüche auf Marokko diplomatisch unterstützt, ganz wie
Deutschland in der Balkankrisis die Annexionspolitik Österreich-Ungarns unter¬
stützte. Das ist von englischen Ministern amtlich erklärt worden, und wenn
wir wollen, daß den Erklärungen unserer Minister im Ausland Glauben ge¬
schenkt wird, so müssen wir auch die englischen Erklärungen hinnehmen. Die
Westminster Gazette, die während der ganzen Marokkokrisis eine wahrhaft
staatsmännische Haltung bewahrt hat, hat wiederholt das Argument gebraucht:
wenn Rußland so kurze Zeit nach der Balkankrisis mit Deutschland zu einer
Verständigung gelangen konnte, so sollte nach Erledigung der Marokko¬
krisis auch ein deutsch-englischer Ausgleich nicht unmöglich sein. Das Er¬
gebnis einer deutsch-englischen Verständigung würde also sein, daß
England zwar an seinen Erdeulen festhielte, daß aber diese Erdeulen
die Spitze gegen Deutschland verlören. Die englisch-französische Entente
würde somit sür uns ebenso jeder akuten Gefahr beraubt werden wie die eng¬
lisch-russische.

Aber zwischen England und Deutschland bestehen verhältnismäßig wenig
akute Konfliktstoffe, wenigstens viel weniger, als seinerzeit zwischen England und
Frankreich und zwischen Frankreich und Nußland bestanden hatten. In Ost¬
asien sind unsere Interessen die gleichen; im nahen Osten wünschen beide
Mächte die Erhaltung des swtug quo und die Beendigung des türkisch-
italienischen Konfliktes; und in der Frage der Bagdadbahn sollte, nachdem wir
uns mit Rußland auseinandergesetzt haben, und nachdem die Bagdadbahn-
gesellschast ein neues Abkommen mit der türkischen Regierung geschlossen hat.
ein Ausgleich zwischen England und Deutschland keine unüberwindlichen
Schwierigkeiten vor sich haben. Ob die Rüstungsfragen einen Gegenstand der


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[0593] Reichsspiegel Die Beendigung des türkisch-italienischen Krieges liegt im Interesse aller Mächte und ebenso die Verhinderung eines etwaigen Ausbruchs auf dem Balkangebiet. England mag es je länger, je mehr empfinden, daß die Konzentration seiner Flotte in der Nordsee dazu geführt hat, daß das Mittelmeer und der Pazific von englischen Kriegsschiffen entblößt sind. Man wird auch den innerpolitischen Grund anführen dürfen, daß ein beträchtlicher Teil der liberalen Partei und der liberalen Presse die Marokkopolitik des Kabinetts mit großer Schärfe kritisiert und eine Verständigung mit Deutschland gefordert hat. Und wenn dieser Grund, wie wir glauben, eine Wirkung ausgeübt hat, so muß man auch den Einfluß der politisch-radikalen Presse, wie Daily News, Manchester Guardian, Nation und Economist, auf die englische Politik entsprechend einschätzen (vgl. Leitartikel in Heft 8, 1912). Eine deutsch-englische Verständigung kann demnach allerdings eine Lockerung der Triple-Entente bedeuten, wenn man sie in dem Lichte der Einkreisungs¬ politik betrachtet, die die Triple-Entente in gewissen Zeiten ohne Zweifel ver¬ folgt hat. Die englische Negierung gibt vor, in der letzten Marokkokrisis keine andere Rolle gespielt zu haben als Deutschland in der Balkankrisis. England habe die französischen Ansprüche auf Marokko diplomatisch unterstützt, ganz wie Deutschland in der Balkankrisis die Annexionspolitik Österreich-Ungarns unter¬ stützte. Das ist von englischen Ministern amtlich erklärt worden, und wenn wir wollen, daß den Erklärungen unserer Minister im Ausland Glauben ge¬ schenkt wird, so müssen wir auch die englischen Erklärungen hinnehmen. Die Westminster Gazette, die während der ganzen Marokkokrisis eine wahrhaft staatsmännische Haltung bewahrt hat, hat wiederholt das Argument gebraucht: wenn Rußland so kurze Zeit nach der Balkankrisis mit Deutschland zu einer Verständigung gelangen konnte, so sollte nach Erledigung der Marokko¬ krisis auch ein deutsch-englischer Ausgleich nicht unmöglich sein. Das Er¬ gebnis einer deutsch-englischen Verständigung würde also sein, daß England zwar an seinen Erdeulen festhielte, daß aber diese Erdeulen die Spitze gegen Deutschland verlören. Die englisch-französische Entente würde somit sür uns ebenso jeder akuten Gefahr beraubt werden wie die eng¬ lisch-russische. Aber zwischen England und Deutschland bestehen verhältnismäßig wenig akute Konfliktstoffe, wenigstens viel weniger, als seinerzeit zwischen England und Frankreich und zwischen Frankreich und Nußland bestanden hatten. In Ost¬ asien sind unsere Interessen die gleichen; im nahen Osten wünschen beide Mächte die Erhaltung des swtug quo und die Beendigung des türkisch- italienischen Konfliktes; und in der Frage der Bagdadbahn sollte, nachdem wir uns mit Rußland auseinandergesetzt haben, und nachdem die Bagdadbahn- gesellschast ein neues Abkommen mit der türkischen Regierung geschlossen hat. ein Ausgleich zwischen England und Deutschland keine unüberwindlichen Schwierigkeiten vor sich haben. Ob die Rüstungsfragen einen Gegenstand der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/593>, abgerufen am 27.09.2024.